Der Fremde
Nachdem der Fremde sie bereits seit mehreren Augenblicken verlassen hatte, entschlossen sich Mara und Kuronirokiani dazu, das Tablett mit dem Essen zu betrachten. Auf dem Tablett befanden sich ein paar Früchte.
Zunächst war Mara skeptisch und befürchtete, dass in dem Essen Gift sei, doch nach kurzem Überlegen wagte es Kuro eine Brombeere zu probieren. Anschließend warteten sie auf eine körperliche Reaktion von Kuro, die ihnen zum Glück erspart blieb. Somit wussten beide, dass das Essen ungefährlich war. Auf dem Tablett befand sich nicht viel Obst, aber es genügte, den größten Hunger zu stillen.
Anschließend legte sich Mara auf die Pritsche und Kuronirokiani kuschelte sich an ihre Seite. Still verbrachten sie die restliche Zeit nebeneinander. Keiner wusste, was er dem anderen mitteilen wollte. Irgendwann erzählte Mara der Geisterschwinge, dass der Fremde in die Zelle gekommen war, um ihnen Essen zu bringen. Da Kuro ihr nicht antworten konnte, war das Gespräch einseitig und in wenigen Sätzen beendet. Stille breite sich zwischen ihnen aus und Mara schloss ihre Augen. Sie wusste nicht, wann sie eingeschlafen war, aber das Krachen der zuschlagenden Tür vor ihrer Zelle weckte sie unsanft.
Schlagartig erhob sich Mara von der Pritsche. Kuronirokiani war bereits wach und stand neben ihr am Boden. Sein Fell am Rücken stand ab und Mara konnte ihn knurren hören.
Sie folgte Kuros Blick und erkannte den Fremden. Dieses Mal hatte er sein Gesicht nicht verhüllt.
Mit geübten Fingern öffnete er die Zelle und trat ein. Die Geisterschwinge stellte sich schützend vor Mara. Trotz seiner geringen Größe wirkte seine Gestalt bedrohlich und ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle.
Der junge Mann schien wenig beeindruckt.
„Zwingt mich nicht dazu, härtere Maßnahmen zu ergreifen", ertönte seine Stimme. Kuronirokiani schien die Drohung zu ignorieren und ging einen Schritt auf den Mann zu.
Der Mann seufzte und Mara erkannte, dass seine Schultern ein Stück nach unten sackten. „Ich habe euch gewarnt", sagte er und Mara glaubte einen gewissen Hauch von Bedauern in seiner Stimme zu vernehmen. Schnell schüttelte sie ihren Kopf. Dieses Gefühl konnte sie sich auch eingebildet haben.
Mit einer schnellen Bewegung holte der Fremde ein großes Netz hervor und warf es um Kuro. Bevor Mara ihrem Freund zu Hilfe eilen konnte, zog der Mann das Netz zu sich und schnürte die Geisterschwinge in ein festes Knäuel. Kuros Knurren erstarb und die Geisterschwinge gab einen aufgeschreckten Laut von sich.
Die Augen des Fremden richteten sich auf Mara. „Folgst du mir, ohne Probleme zu machen? Ansonsten muss ich euch trennen."
Mara bekam Angst bei dem Gedanken, von Kuronirokiani getrennt zu sein. Still nickte sie dem Mann zu, der sich daraufhin umdrehte und den gleichen Weg nahm, den sie bereits kannte.
Panik stieg in ihr auf und sie konnte Kuro leise fiepen hören. Ihr blieb keine andere Wahl. Aufgrund der Verbindung zu der Geisterschwinge konnte sie nicht fliehen. Ihr waren, auch ohne Seil, die Hände gebunden.
Der Weg war nicht weit und Mara stellte mit Bedauern fest, dass der Mann sie erneut in den Innenhof brachte und der Meister sie bereits erwartete. Der junge Mann stellte sich zu seinem Meister und reichte ihm die Geisterschwinge. Zufrieden nickte er seinem Schüler zu und sperrte Kuronirokiani mit dem Netz in den Eisenkäfig.
Erschrocken wich Mara vor den beiden Männern zurück. Panisch wendete sie ihren Blick zu der Steinplatte, die inmitten des Innenhofs stand. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und ohne, dass sie es wollte, stiegen ihr Tränen in die Augen.
„Bitte nicht", flehte sie und Mara spürte wie ihre Knie zitterten. Die Vorahnung der erneuten Qualen ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Mara wusste nicht, was sie von dem Meister erwartet hatte. Gnade? Mitgefühl? Erbarmen? Doch keine dieser Erwartungen wurden ihr erfüllt. „Binde sie fest", sagte der Meister zu seinem Schüler.
Der junge Mann trat zu Mara und ihre Blicke kreuzten sich. Mara konnte in den eisblauen Augen keine Gefühle erkennen. Als er aber ihren flehenden Blick bemerkte, wendete er seine Augen ab, nahm ihre beiden Arme und drückte sie bestimmt, aber nicht unsanft, auf die Steinplatte. Mara war zu schwach, um sich zu wehren und lag wenige Augenblicke später auf der kalten Steinplatte.
Die kalten Handschellen schlossen sich um ihre aufgeschürften Handgelenke. Der Meister trat zu ihr. „Ich bin gespannt, wie lange ihr heute durchhaltet." Das grauenhafte Lachen erschallte und Mara hörte, wie der Mechanismus betätigt wurde, der die Steinplatte in Bewegung versetzte. Frust stieg in ihr hoch und ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Mara wusste, dass ihre Schreie keinen Sinn hatten, doch nichts tun war für sie keine Option.
Nach kurzer Zeit spürte sie die schwächere Verbindung zu Kuronirokiani und ihr Blickfeld wurde schwarz. Daraufhin stoppte die Apparatur und zog sie wieder zurück zum Ausgangspunkt.
Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und sie spürte, wie ihr die Hitze in die Glieder stieg. Ihr Blick glitt zum Meister, der sie mit einem gehässigen Grinsen betrachtete. Anschließend wendete sich Mara seinem Schüler zu. Erneut senkte dieser seine Augen, als sich ihre Blicke kreuzten. Ihre Augen wanderten weiter zu Kuro. Die Geisterschwinge bewegte sich nicht im Käfig und Mara hoffte, dass sie beide diese Folter überlebten.
Die Prozedur wiederholte sich mehrere Male. Zu Beginn stemmte sich Mara gegen ihre Handfesseln. Dadurch, dass ihre Handgelenke bereits aufgescheuert waren, dauert es nicht lange, bis ihr das warme Blut an den Armen herunterfloss. Der Schmerz betäubte ihre Sinne und ihr Widerstand schwand mit jedem weiteren Mal, wenn die Steinplatte sich bewegte.
Mara wusste nicht, wie oft sie sich von Kuronirokiani entfernte. Sie verlor jegliches Zeitgefühl. Irgendwann wurde ihr Blickfeld schwarz und bevor sie in die willkommene dunkle Umarmung der Bewusstlosigkeit eintauchte, hörte sie einen lauten bösartigen Schrei: „Nein! Zu früh!" Da wurde ihr schwarz vor Augen und Mara entfloh der schrecklichen Gegenwart.
Das nächste Mal, als Mara ihre Augen öffnete, war, als sie sich in einem dunklen Gang befand. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie begriff, dass sie getragen wurde. Mara blickte sich nach ihrem Träger um und stellte fest, dass es der junge Mann war.
Er bemerkte ihre Bewegung und senkte seinen Blick, um ihr in die Augen sehen zu können. „Ich bringe euch in eure Zelle. Schlaf jetzt. Dein Körper braucht die Erholung."
Mara glaubte in seiner Stimme so etwas wie einen warmen Unterton zu vernehmen. Ihr Körper schrie nach Ruhe und bevor sie darüber nachdenken konnte, schloss sie ihre Augen und der Schlaf übernahm ihre Gedanken.
Mara wurde aus ihrem Traum gerissen, als sie einen sanften Druck auf ihrem Brustkorb spürte. Blinzelnd öffnete sie ihre Augen und blickte direkt in Kuronirokianis Gesicht. Die Geisterschwinge stand auf ihrer Brust und blickte sie besorgt an.
In ihren Gedanken konnte sie Kuro spüren, wie er vorsichtig nach ihr tastete. Die Verbindung war brüchig und schmerzte. Aufgrund der erneuten Folter hatte Mara das Gefühl, als wäre Kuronirokiani weit von ihr entfernt.
Ein leises „Mara?", drang von Kuro zu ihr und sie hob ihre Hand.
„Keine Angst. Mir geht es gut. Du bist ausnahmsweise mal vor mir erwacht", stellte die Frau fest und versuchte sich langsam aufzusetzen. Die Geisterschwinge sprang von ihrem Brustkorb und setzte sich neben ihr auf die Pritsche. Eine Pfote setzte Kuro auf ihren Oberschenkel. Mara vermutete, dass ihr kleiner Freund ihr so seinen Beistand ausdrücken möchte. Mara hob eine Hand und strich über Kuros Kopf. Erschrocken hielt sie in der Bewegung inne.
Ihre Handgelenke waren aufgeschürft und das trockene Blut klebte ihr an den Unterarmen. Kuronirokiani fiepte mitfühlend und berührte vorsichtig mit seiner Schnauze die wunden Stellen.
Die Berührung löste einen Schmerz aus und Mara zog zischend die Luft ein. Erschrocken riss Kuro den Kopf zurück.
„Schon in Ordnung", versuchte Mara die Geisterschwinge zu beruhigen. „Das wird schon wieder werden."
Um ihre Worte zu unterstreichen, hob sie ihre Hand und kraulte Kuronirokiani den Kopf. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Kuronirokiani schien keinen körperlichen Schaden davongetragen zu haben. Dennoch war sich Mara sicher, dass er innerlich genauso litt wie sie.
Seufzend hob sie ihren Kopf und blickte auf ein Tablett mit frischem Obst und einer Schale Wasser. Kuronirokiani folgte ihrem Blick und sprang von der Pritsche. Vorsichtig nahm er einen Schluck Wasser und fraß ein paar Beeren. Die Reste überließ er Mara, die diese dankbar annahm.
Als sie ihr klägliches Mahl beendet hatte, setzte sie sich auf die Pritsche und lehnte ihren Rücken an die kalte Wand. Kuro kam zu ihr und rollte sich auf ihren Beinen zusammen.
Still betrachtete Mara die Fackel außerhalb ihrer Zelle. Die Bewegung der Flammen war das Einzige, das sich an diesem trostlosen Ort bewegte. Sie fragte sich, ob neben ihr noch weitere Zellen waren, in denen sich Gefangene befanden. Da Mara keine Geräusche hörte, bezweifelte sie, dass neben Kuro und sie noch weitere Personen eingesperrt waren.
Ein Geräusch riss Mara aus ihren Gedanken und sie begriff, dass die Tür zu den Gefängniszellen geöffnet wurde. Ein Seufzen kam über ihre Lippen. Hatten Kuronirokiani und sie den keine Ruhe?
In den Lichtschein der Fackel trat der schwarzhaarige Fremde. Seine Kapuze hing um seine Schultern und sie konnte seine blauen Augen erkennen. Er hatte es wohl nicht mehr nötig, sich ihr gegenüber zu verhüllen.
In seiner rechten Hand hielt er ein kleines Gefäß aus Ton und in der anderen Hand ihren Zellenschlüssel. Er öffnete ihre Tür und trat in die Zelle. Hinter sich schloss er diese wieder und drehte sich zu ihr um.
Kuronirokiani hatte den Mann ebenfalls bemerkt und Mara spürte, wie sich der kleine Körper anspannte.
„Keine Angst. Ich komme nicht, um euch zu holen", sagte der Mann und trat einen Schritt auf sie zu. Kuronirokiani sprang von ihren Beinen und stellte sich schützend vor sie. Sein Fell sträubte sich von seinem Körper und er knurrte bedrohlich.
„Ich verstehe deine Reaktion, aber wenn du erlaubst, würde ich gern deiner Partnerin Linderung verschaffen", sagte der Fremde unbekümmert. Seine Stimme klang gleichgültig, aber Mara glaubte, dass sie ihren kühlen Unterton verloren hatte.
Kuronirokiani knurrte weiterhin und machte keine Anstalten, den Worten des Mannes zu glauben.
Der Mann nickte der Geisterschwinge zu und hob seine linke Hand, um das Gefäß zu öffnen. Anschließend hielt er das Gefäß in ihre Richtung.
„Das ist eine Salbe, die die Schmerzen an deinen Handgelenken lindern soll", erklärte er in Maras Richtung und seine Augen blickten in ihre. Skeptisch entgegnete sie seinem Blick. Sie traute ihm nicht, aber ein Gefühl sagte ihr, dass er ihr ernsthaft helfen möchte.
„Kuro, es ist schon gut", sagte sie daraufhin und die Geisterschwinge drehte sich verwirrt zu ihr um. „Er kann mir nicht noch mehr Schaden zufügen."
Kuronirokiani stellte sein Knurren ein und sprang zurück auf die Pritsche. Der Mann trat auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Mit seinem linken Fuß stampfte er auf den Boden auf und erschrocken beobachtete Mara, wie sich die Erde neben seinen Füßen bewegte. Eine kleine Erhebung löste sich vom Boden, auf die sich der Mann setzte.
„Du kannst die Erde bewegen?", fragte Mara überrascht. Er bemerkte ihren erschrockenen Blick und räusperte sich.
„Nun, wie dachtest du, habe ich euch von dem bösen Geist gerettet? Mit purer Willenskraft?" Seine Stimme klang sarkastisch, in die sich ein belustigender Unterton mischte. „Ich kann die Erde nach meinem Willen bändigen."
In Maras Kopf bewegten sich ihre Gedanken zurück zu der Situation, als der wild gewordene Geist sie und Kuronirokiani angegriffen hatte. Kuro war an einer Häuserwand zusammengebrochen und sie hatte ihren kleinen Freund schützend in ihren Armen gehalten. Der Geist holte zu einem tödlichen Schlag aus und Mara war sich sicher gewesen, dass dieser sie treffen würde. Aus ihr damals unerklärlichen Gründen waren sie durch die Luft geschleudert worden. Kurz vor ihrem Ausweichflug hatte Mara zu dem fremden Mann, der ihr damals zu Hilfe gekommen war, geblickt und bemerkt, wie sich der Boden unter ihr bewegte. Tagelang hatte Mara sich über die Rettungsaktion Gedanken gemacht und ihr kam bereits nach dem Kampf der Gedanke, dass er die Erde beherrschen konnte. Dennoch war es eine Überraschung, die Bestätigung ihrer Vermutung zu hören.
„Mir war nicht bewusst, dass du die verbotenen Künste anwendest, um uns zu retten. Auch, wenn ich nicht weiß, was deine Hintergründe sind, möchte ich dir für damals danken. Ohne deine Unterstützung hätten wir es nicht lebendig aus dieser Situation heraus geschafft", sagte Mara und ihre Worte waren ehrlich gemeint. Der Mann war zwar in gewisser Weise schuld an ihrer aktuellen Situation, dennoch war sie ihm dankbar für die damalige Hilfe.
„Dafür musst du mir nicht danken", entgegnete der Fremde ihr. „Gib mir deine Hände, damit ihr sie mir ansehen kann."
Mara zögerte. Der Mann vor ihr war ihr ein Rätsel. Eines über das sie bereits seit mehreren Wochen grübelte. Immer wieder war er in ihrer Gegenwart aufgetaucht und in gewisser Weise fühlte sie sich mit ihm verbunden. Da fasste Mara einen Entschluss. Sie konnte sich vor ihm versperren und seine Hilfe nicht annehmen, oder sie beobachtete seine Reaktionen und nahm die Unterstützung an. Sich ihm gegenüber offener zu zeigen, konnte ihnen nicht mehr schaden, als sie eh schon einstecken mussten.
„Darf ich wenigstens erfahren, wie du heißt?", fragte Mara und hoffte durch diese einfache Frage in gewisser Weise das Eis ein Stück zu brechen. „Mein Name ist Mara und das ist Kuronirokiani", stellte sie sich vor, um ihm ihre Offenheit zu demonstrieren.
Der Fremde schnaubte abfällig, aber als Mara in seine Augen blickte, lag darin eine gewisse Wärme. „Das war wohl unhöflich von mir, mich nie vorgestellt zu haben. Mein Name ist Kiran."
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