Das Erdbeben
Mara schloss die Türe des Wissenschaftlers und schritt durch die Gänge der Bibliothek. Kuronirokiani war schlaftrunken in den Rucksack geklettert, den sie sich nach dem Schließen geschultert hatte.
Matheo hatte ihnen noch einiges über die Elemente gelehrt. Sie wussten nun, dass es insgesamt sechs verschiedene Elemente gab, die der Mensch beherrschen kann: Feuer, Wasser, Erde, Luft, Licht und Finsternis. Laut dem Wissenschaftler muss ein Mensch mit der Gabe geboren werden. Die Kräfte waren bei jedem begabten Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Ob eine Vererbung der Kräfte auf die Nachkommen stattfinden kann, war nicht erforscht. Früher gab es mehr Menschen, die die Elemente beherrschten. Aktuell kamen immer weniger auf die Welt, oder sie hielten sich gut versteckt.
Mara war erstaunt zu hören, dass die Regierung nicht jeden elementbegabten Menschen ausfindig machen kann. Nach kurzer Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass die Menschen, die die Kraft in sich entdecken, vorsichtiger geworden sind. Keiner möchte von der Regierung verschleppt werden.
Mara musste an das Mädchen aus ihrer Klasse denken. Hätte sie damals ihren Klassenkameraden gegenüber ihre Kräfte geheim gehalten, hätte sie wie sie alle die Schule besuchen können.
Matheo erzählte ihnen zudem, dass die Kraft, die Elemente zu kontrollieren, auch die Geister für gewöhnlich beherrschten. Bei einem Geisterangriff sind die Geister meistens zu geschwächt, um ihre vollständigen Kräfte einsetzen zu können.
Kuro wollte wissen, ob auch Geisterschwingen die Elemente beherrschen können. Hier schüttelte Matheo den Kopf und wusste keine Antwort auf Kuronirokianis Frage.
Ihre Unterhaltung verlief, bis die Sonne unterging. Irgendwann nahm Matheo seine Brille ab und schickte Mara aus seinen Räumlichkeiten. Er wollte für den morgigen Tag noch eine Vorlesung vorbereiten.
Mara schritt aus dem großen Tor auf den Vorplatz hinaus. Eine kühle Abendbrise umfing sie. Mit einem prüfenden Blick suchte sie nach dem Automobil und fand dieses direkt vor der Bibliothek stehend. Thomas stieg bereits aus der Fahrerseite aus und winkte ihr zu.
Mit schnellen Schritten lief sie zu dem Mann und begrüßte ihn freundlich. Thomas hielt ihr die Beifahrertüre auf und schloss sie hinter Mara wieder, nachdem sie sich gesetzt hatte.
„Wie ich sehe, habt ihr es zur Bibliothek geschafft. War es ein langer Umweg für euch?", wollte Thomas wissen und startete den Motor. Langsam fuhr er auf die Straße und begab sich in den abendlichen Verkehr.
Mara erzählte in wenigen Sätzen von dem Geistangriff. Sie ließ dabei Kuros Verwandlung und das Erscheinen des Fremden aus, da sie Thomas keine unnötigen Sorgen bereiten wollte.
„Ihr hattet wirklich Glück, dass ihr nicht verletzt wurdet", stellte Thomas erleichtert fest.
Stille trat zwischen ihnen ein und Mara hing ihren Gedanken nach. Sie spürte Kuronirokianis langsame Atmung durch den Rucksack. Die Verwandlung hatte Kuro sehr geschwächt. Vor ihren Augen erschien das große dunkle Wesen, in das sich Kuro verwandelt hatte. Die Geisterschwinge war aus dem Rucksack gesprungen, um sich schützend vor sie zu stellen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mara war dankbar, dass Kuro eingeschritten war. Ohne groß darüber nachzudenken, schickte sie ihre Gedanken zu der Geisterschwinge und blendete alles um sie herum aus. Wie beim ersten Mal, als sie Kuro in ihren Gedanken berühren wollte, konnte sie die Geisterschwinge in ihren Gedanken als kleine Flamme finden. Mit ihren Gedanken berührte sie die Flamme. Diese erzitterte leicht und begann zu wachsen. Mara tauchte in das Licht ein und Kuros Gefühle schoben sich in ihre Wahrnehmung. Sie konnte deutlich die Schläfrigkeit der Geisterschwinge spüren. Langsam tastete sie sich weiter vorwärts, bis sie Kuro klar in ihren Gedanken spüren konnte. Seine Flamme liebkoste ihre Gedanken und lud sie ein, tiefer einzutauchen.
Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, folgte sie dem Ruf von Kuro und drang tiefer in seine Gedanken ein. Die Flamme schwoll an, bis das weiße Licht sie komplett umgab. Das warme Licht durchströmte ihre Gedanken. Mit einem Mal veränderten sich Kuronirokianis Gedanken und um Mara herum tanzten bunte Punkte. Mara konzentrierte sich auf die Punkte und stellte fest, dass diese Erinnerungsfetzen von Kuro waren. Wie im Zickzack sprangen die Punkte um sie herum, wurden größer und dann wieder kleiner. Mal erhaschte sie einen Bruchteil seiner Erinnerungen, dann wieder wollte sie ein Gedanke nicht mehr loslassen.
Sie sah, wie Kuro in einem Käfig saß und neugierig in einen dunklen Raum blickte. Von einem kleinen schmalen Fenster drang das rötliche Licht der untergehenden Sonne in den Raum und ließ die Innenausstattung in einem seltsamen Schein erstrahlen. Durch Kuronirokianis Augen erblickte Mara verschiedenste Käfige, in denen ebenfalls unterschiedliche Wesen eingesperrt waren.
Anschließend verschwand der bunte Punkt und eine neue Szene breitete sich vor Maras Augen aus. Kuronirokiani kletterte über einen Baum und jagte einer anderen Geisterschwinge hinterher. Als sie sich umblickte, stellte Mara überrascht fest, dass die Rinde des Baums in einem hellen Gelb strahlte, der Himmel grün war und der Boden eine rote Färbung besaß. Mit Erstaunen betrachtete sie das Spektakel und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie soeben in Kuronirokianis Träumen steckte. Die Geisterschwinge schlief tief und fest, doch ihre Träume waren wirr und sprangen von einer Szene in die Nächste. Die Punkte, die sie anfänglich für Erinnerungen gehalten hatten, waren Traumfetzen und vermutlich entsprachen sie weniger der Wahrheit, als sie zu Beginn angenommen hatte.
Freude überkam sie und sie spürte, wie Kuros Träume stockten. Mit einem Mal verschwanden die bunten Punkte und das helle Licht von Kuros Flamme breitete sich um sie herum aus. Mara spürte, wie die Geisterschwinge erwachte. Ihr kleiner, freudiger Ausdruck hatte ihn wohl geweckt.
„Mara?", fragte Kuro schläfrig in ihren Gedanken.
„Ich bin hier, bei dir."
Mara konnte deutlich Kuros Verwirrung spüren. „Du bist in meinen Gedanken. Wie vor ein paar Tagen, als ich ohnmächtig war."
Mara lachte. „Das stimmt. Doch dieses Mal war es für mich einfacher, dich zu finden und die Verbindung stabil zu halten. Es hat sich völlig natürlich angefühlt."
„Ich bin mir sicher, wenn du oft übst, kommt dir das Reden über Gedanken so natürlich vor wie mir."
Langsam spürte Mara die Anstrengung, die es sie kostete, sich auf Kuros Licht zu konzentrieren. Sie zog sich aus seinen Gedanken zurück und öffnete vorsichtig ihre Augen. Der Rucksack auf ihren Beinen bewegte sich und Mara öffnete den Verschluss.
Kuronirokiani steckte den Kopf nach draußen. „Hast du meinen Träumen gelauscht?", wollte die Geisterschwinge nun in ihren Gedanken wissen.
„Deine Träume sind wirr und verzwickt", erklärte Mara laut. Thomas bemerkte, dass sie nicht mit ihm sprach und konzentrierte sich weiterhin auf die Straße.
„Ich bin mir sicher, dass deine Träume genauso verwirrend sind."
„Soll das heißen, du ziehst dich aus meinen Gedanken zurück, sobald ich schlafe?"
„Ganz so einfach ist es nicht. Diese Flamme, die du in deinen Gedanken spürst, habe ich ebenfalls in mir. Befinde ich mich in der Nähe von anderen Geisterschwingen, kann ich ebenfalls ihre Flammen spüren. So kommunizieren wir miteinander. Doch deine Flamme ist viel heller und stärker. Sie ist immer da und verschwindet nicht. Sobald ich mit dir reden möchte, wende ich mich mit meinen Gedanken zu dir und berühre deine Flamme. Ich tauche in deine Gedanken ein und du kannst mich in deinem Kopf hören. Zudem spüre ich ober flächig deine Emotionen. Das passiert unterbewusst und ist für mich völlig natürlich, über diesen Weg zu kommunizieren. Sobald ich gänzlich in deine Flamme eintauche, kann ich die gleichen Empfindungen wie du spüren. Aus diesem Grund konntest du meinen Träumen lauschen."
Mara ließ sich Kuros Worte durch den Kopf gehen. „Soll das heißen, ich kann mich deinen Gedanken niemals verschließen?"
„Es gibt einen Weg. Du kannst deine Flamme vor mir verkleinern und mich aus deinen Gedanken ausschließen. Doch gänzlich verschwindest du nie, genauso wie ich niemals aus deinem Bewusstsein verschwinde."
„Ich werde versuchen, dich häufiger über meine Gedanken anzusprechen. So fällt es uns leichter, in der Öffentlichkeit zu kommunizieren", fasste Mara den Entschluss.
„Das würde mich sehr freuen", entgegnete Kuro und sein Blick wanderte neugierig zum Fenster.
Mara konnte erkennen, dass Thomas soeben die Auffahrt zum Haus der Familie Rid hinauffuhr. In einer sanften Kurve blieb der Hausdiener vor der Eingangstür stehen. Mit einem Schwung öffnete er die Tür und trat ins Freie. Er schritt um das Auto herum und half Mara beim Aussteigen.
Mara hielt den Rucksack vor ihrer Brust und stieg aus dem Auto aus.
Plötzlich ertönte ein tiefes Dröhnen und die Erde unter ihren Beinen begann zu beben. Hilfesuchend klammerte sie sich an den Rucksack und wäre durch die Erschütterung beinahe hingeflogen, wenn Thomas nicht in letzter Sekunde seinen Arm ausgestreckt und sie am Oberarm festgehalten hätte.
Erneut bebte die Erde und die Menschen hatten Schwierigkeiten, auf den Beinen zu bleiben. Die Bewegung unter ihren Füßen ging durch ihren Körper und ließ sie straucheln. Das Beben wurde immer schlimmer, bis es sie letzten Endes von den Beinen riss. Mara hob den Rucksack hoch, um nicht auf Kuronirokiani zu fallen. Mit einem harten Aufprall landete sie am Boden. Thomas lag dicht neben ihr. Mara zog den Rucksack an die Brust und hoffte, dass das Beben bald verebbte.
Mehrere Herzschläge lang durchzogen die Erschütterungen die Welt um sie herum. Genauso schnell wie das Beben begonnen hatte, hörte es auf. Keuchend blickte sich Mara um und traf auf die blauen Augen von Thomas.
„Geht es dir gut?", wollte der Mann wissen. Mara nickte ihm zu und versuchte, sich hinzusetzen. Anschließend blickte sie zu Kuro, der durch die Erschütterung in den Rucksack zurückgeschleudert wurde.
„Alles ok?"
„Mir geht es gut", erklärte Kuronirokiani und steckte seinen Kopf aus dem Rucksack. „Das Erdbeben war stark."
„Das stimmt. Ich habe noch nie so ein starkes Beben erlebt", erwiderte sie und Thomas pflichtete ihr bei. Er half Mara auf die Beine und klopfte sich anschließend den Staub aus den Klamotten.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ Mara den Kopf herumfahren. Sie beobachtete, wie Herr Rid aus dem Haus gestürmt und direkt auf sie zukam.
„Thomas, ich benötige die Schlüssel. Ich muss zu einem Notfall fahren. Das Erdbeben hat Chaos angerichtet."
Mit einer schwungvollen Bewegung schmiss der Diener seinem Herrn die Schlüssel zu. „Soll ich Sie fahren?"
Herr Rid verneinte die Frage und stieg in das Automobil ein. „Ihr müsst mit dem Essen nicht auf mich warten. Ich werde spät am Abend nach Hause kommen", rief er und schloss die Türe. Thomas und Mara blickten dem Fahrzeug nach, als es sich vom Anwesend entfernte.
„Das wird eine lange Nacht für Herrn Rid", bemerkte Thomas und brach somit das Schweigen.
„Ich denke, dass es eine lange Nacht für uns alle sein wird", stellte Mara fest und löste ihren Blick vom Eingangstor.
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