Zwiespalt
"Wie konntest du das tun? Du hast mich einfach verraten!"
Shadows Schnurrhaare zitterten und sein Schweif schlug unkontrolliert hin und her. Er hatte seinen Zorn schon wieder ganz vergessen, doch jetzt, wo er der direkten Konfrontation gegenüberstand, spürte er ihn wieder in sich aufflammen.
"Wovon sprichst du?" Joel riss angesichts Shadows wütender Haltung die Augen auf.
"Tu doch nicht so, du weißt genau, was ich meine!", presste der Kämpfer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wieso leugnet er es denn noch? Er sieht doch, dass ich ihn durchschaut habe. "Du hast deinem Stamm von unserem Angriff erzählt, den ich dir vertraulich erklärt habe."
Joels Ohren zuckten. Jeder andere würde ihm seine Ahungslosigkeit sofort glauben, doch Shadow konnte die Nervosität spüren, die der helle Kater ausströmte.
"Ich weiß wirklich nicht, woher sie davon wussten", beharrte Joel. "Sie müssen zufällig davon erfahren haben. Vielleicht haben sie eine eurer Patrouillen darüber sprechen hören?"
Shadow bohrte seine Krallen in die Erde. Wieso sagt er nicht einfach die Wahrheit? Doch seltsamerweise verrauchte zeitgleich sein Zorn und machte einem anderen Gefühl Platz, das sich wie ein Fels in seinen Magen legte. "Ich weiß, dass du lügst."
Für eine Weile schwieg Joel und Shadow dachte schon, dass er keine Anwort mehr geben würde, als er mit einem Seufzen den Kopf wegdrehte. "Was hast du denn erwartet? Natürlich helfe ich meinem Stamm, wo ich kann."
"Aber du lässt zu, dass mein Stamm dafür überrannt wird", erwiderte Shadow. "Ohne dich hätten sie nichts von all dem gewusst."
"Ihr seid der Feind. Warum sollte ich zu dir halten anstatt zu meinem eigenen Fleisch und Blut?", schnaubte der helle Kater und schüttelte den Kopf. "Ehrlich, Shadow, was hast du erwartet?"
Shadow musste schlucken. Der Feind? Er sieht mich als seinen Feind? Er suchte Joels Blick nach einem Anzeichen von Reue ab, wartete auf eine hektische Entschuldigung und dass sie ja eigentlich Freunde waren. Dafür hatte er sie immerhin gehalten, für Freunde. Doch Joel starrte ihn nur regungslos an. Seine blauen Augen waren starr wie Eis und gaben Shadow keinen Grund zu der Annahme eines schlechten Gewissens.
"Na wenn ich bloß der Feind bin, wozu treffen wir uns dann noch." Er wandte sich ab.
Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Joel überrascht blinzelte, sich jedoch schnell fasste und ebenfalls abwandte. "Gut, dann wäre das ja geklärt."
Shadow gab ihm keine Antwort, stattdessen kehrte er Joel den Rücken zu und tappte zurück in den Düsterwald, wo ihn die Finsternis umhüllte. Die Nacht würde bald anbrechen. Warum sind meine Pfoten so schwer? Er presste seine Zähne vor Wut zusammen. Wut auf den Stamm des Lichts, Wut auf Joel und Wut auf seine verdammten Pfoten, die gegen seinen Willen umkehren wollten.
Ich gehe nicht zurück! Er hat mich verraten. Wir hätten alle sterben können, weil er uns an seinen Stamm ausgeliefert hat. Er ist eine Gefahr und es tut ihm nicht einmal leid. Wir sind ihm egal, ich bin ihm egal. Ich brauche ihn nicht in meinem Leben!
Ein Knurren rumorte in Shadows Kehle. Seine Pfoten lenkten noch immer gegen seine Bewegungen, bis er schließlich stehen blieb und die Krallen in den Boden bohrte. Aber wieso kämpft dann jede Faser meines Körpers dagegen an, zu gehen? Wieso will ich ihn gegen jede Vernunft immer noch wiedersehen? Das ergibt keinen Sinn.
_____
Es dauerte eine Weile, bis Shadow das Lager erreichte. Es war ein Wunder, dass er den Weg gefunden hatte, denn das Mondlicht wurde vollkommen durch die Wolken und die Wipfel der Bäume abgefangen.
Nur noch wenige Schwanzlängen vom Lagereingang entfernt, hörte Shadow die ersten gedämpften Stimmen seiner Stammesgefährten. Sie sind schon wach. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie lange ich weg war.
"Was machst du denn schon so früh hier draußen?" Tunnel sah mit großen Augen zu Shadow auf, sobald dieser die Eingangsfelsen passierte.
"Jagen." Die Antwort kam schnell, hoffentlich nicht zu schnell. Er hatte seine Ausreden immer und immer wieder in seinem Kopf geübt und konnte sie alle ohne zu zögern aufsagen. Ab jetzt brauche ich sie nicht mehr.
Tunnel legte den Kopf schief. "Bei diesem Wetter? Du bist ja schon ganz nass."
Shadow erwiderte ihren Blick, seine Schwanzspitze zuckte. Es stimmte, sein Fell hatte gefühlt alle Tropfen aufgefangen, die von den Bäumen des Düsterwaldes hinuntergefallen waren. Kurz nachdem er den Rückweg angetreten hatte, hatte auch der Regen eingesetzt.
"Ich brauchte Bewegung", behauptete er und schnippte einen Tropfen von seinem Ohr.
"Du wirst nur auch noch krank."
"Dann ist das halt so", blaffte Shadow und drehte den Kopf zur Seite.
Tunnel seufzte. "Wieso frage ich eigentlich immer wieder?", murmelte sie, wandte sich ab und stapfte durch den mittlerweile aufgeweichten Boden davon.
Shadow starrte ins Leere. Irgendwie fiel es ihm in diesem Moment schwer, einen Gedanken zu fassen. Alles raste nur geradezu an ihm vorbei und so schnell wie etwas gekommen war, verschwand es auch wieder.
Regen sickerte durch sein Fell, bis er ihm in die Augen tropfte. Er blinzelte ihn weg und beschloss, nicht einfach regungslos herumzustehen. Am Rand der Lichtung hockte er sich vor den Beschützerbau, wo die nach außen ragenden Äste ihm etwas Schutz boten.
Sein Blick glitt durch das Lager und verharrte für wenige Herzschläge auf Black, der gerade den Lehrlingsbau verlassen hatte. Der braungetigerte Kater nickte Shadow knapp zu, ehe er hinüber zu Dunkelheit und Natter trottete, die bereits wach waren.
Vielleicht war es besser, dass sie keine Freunde mehr waren. Ohne mich ist er sicherer. Bestimmt denkt er das auch und ist dankbar dafür, nicht mehr länger bei mir sitzen zu müssen.
Shadow sog scharf die Luft ein. Black hatte ihm das nie so gesagt, doch etwas in seinem Kopf schärfte es ihm immer wieder ein. Gleichzeitig verlangte sein Herz von ihm, sich bei Black zu entschuldigen und zu ihrer Freundschaft zurückzukehren. Als wäre ich mir selbst nicht einmal einig, was ich denken soll.
Er wusste nicht, wie lang er schon so dagesessen hatte, als ein Donnergrollen ihn aus seinen Gedanken riss.
"Schatten, du hast gerade nichts zu tun, oder?"
Der Kämpfer hob den Blick und sah zu Blut, die die rotbraune Kätzin Schatten am Lagerausgang abfing. "Das Gewitter fängt gerade erst an. Die Grenzpatrouille ist eben aufgebrochen und muss zurückgeholt werden. Lauf einfach gen Vogelssträuche, dann solltest du sie schnell einholen."
Schatten nickte ernst, ehe sie kertmachte und aus dem Lager stürmte.
Ein lautes Grummeln lenkte Shadow erneut ab, doch es war nicht der Donner, sondern sein Magen. Vielleicht sollte ich mal etwas fressen. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er seine versteiften Glieder streckte und zum Frischbeutehaufen schlurfte.
Was haben wir denn hier? Mit seiner Pfote stupste er eine gefrorene Maus an, die ihre Beine wie knorrige Äste von sich gestreckt hatte. Er rümpfte die Nase und wandte sich dem Nachbarn der Maus zu, einem mit Matsch überzogenen Spatz.
Ein Husten erschütterte das Schweigen im Lager.
Shadow drehte den Kopf und entdeckte Schatten, die gefolgt mit der Grenzpatrouille, die Lichtung betrat. Rabe stützte Blitz, die unter einem weiteren Huster erzitterte.
"Sie braucht Heilkräuter!", rief Gewitter, woraufhin Klaue sofort aufsprang und zu den Felsspalten eilte.
Der Anführer des Stammes ließ nicht lange auf sich warten. Er sprang aus seinem Bau und stellte sich vor Gewitter. "Wir sind Schatten entgegengekommen, als wir ohnehin schon auf dem Rückweg waren. Blitz' Husten wollte einfach nicht abklingen", berichtete der Kämpfer.
Düster legte die Ohren an. "So schlimm?" Er brauchte keine Antwort, ein weiterer Hustenanfall von Blitz sprach für sich.
Klaue hockte sich neben die gelbe Kätzin und schob ihr irgendwelche Blätter zu, die Shadow nicht kannte. Sie bleckte die Zähne, leckte sie jedoch rasch auf, als ihr Atem in ein rasselndes Keuchen überging.
"Wie konnte das so plötzlich kommen?" Düster sah zwischen den Katzen der eben eingetroffenen Grenzpatrouille hin und her. "Hat jemand Blitz schon vorher husten sehen?"
Niemand antwortete, es starrten sich bloß alle wortlos an.
"So ein Ausbruch kommt doch nicht von jetzt auf gleich", fuhr Düster fort. "Oder was-"
"Ich sag euch, warum keiner etwas wusste!"
Alle Augen richteten sich auf Krähe, dessen Fell ohne all den Regen wie Igelstachen abstehen würde. "Sie ist feige, das ist der Grund."
Shadow musterte ihn vorsichtig, war jedoch nicht groß davon überrascht, dass es wieder einmal der sture Krähe war, der mit Anschuldigungen um sich warf.
"Feige?", krächzte Blitz und funkelte Krähe an. "Wie kannst du..." Ihre Stimme brach, doch ihr Blick beendete den Satz für sie. Dass sie der Feigheit bezichtigt wurde, schien ihr gewaltig unter das Fell zu gehen.
Krähe stieß ein abfälliges Schnauben aus und wandte sich seinen Stammesgefährten zu, die sich trotz des Regens in einem Halbkreis um die Patrouille versammelt hatten. "Sie hat ihren Husten versteckt, damit sie nicht zur Verantwortung gezogen und wie Eule getötet wird", zischte er.
Die Wellen der Wut, die zuvor von Blitz ausgegangen waren, wurden nun von jemand anderes übertönt, sodass Shadow den Kopf drehte und Frost entdeckte. Blitz' Schwester trat auf Krähe zu.
"Du elender Aasfresser! Sie ist für unseren Stamm unentbehrlich und wenn hier jemand den Tod verdient, dann bist das du."
Sie hat ja Gefühle, fügte Shadow gedanklich hinzu.
"Ich muss Krähe zustimmen", mischte sich jetzt auch Tornado ein und nickte dem weißgrau-gestreiften Kater zu. "So wird Blitz uns nur alle anstecken. Sie wird die Krankheit eh nicht überstehen, dafür sind Kätzinnen zu schwach."
"Wie bitte!"
Ein Lächeln huschte über Shadows Gesicht, als Dark aufsprang und Tornado über Rauch und Wolf hinweg aufgebracht anstarrte. "Das ist doch Fuchsdung! Eule ist keine Kätzin und trotzdem starb er." Shadow merkte, wie sie viel Kraft es sie kostete, bei Eules Namen nicht zusammen zu zucken.
"Eule war alt, das ist nicht das Gleiche", konterte Tornado und erntete von einigen Katzen bedächtiges Gemurmel.
"Das ergibt doch alles keinen Sinn!" Dark bleckte ihre Zähne, während sich auch einige andere Kätzinnen wie Natter, Dunkelheit und Blut angriffslustig nach vorne neigten.
Düster trat in die Mitte, sein Schweif war nach oben gerichtet, wie man es von einem Anführer erwartete. "Diskutiert das später aus. Klaue, Schatten, bringt Blitz in den provisorischen Bau und wascht dann eure Pfoten. Der Rest geht auf der Stelle in seinen Bau! Damit ist diese Unterhaltung beendet."
"Sollten wir nicht noch jagen gehen?", warf Blut ein. "Der Frischbeutehaufen ist...na ja, nicht mehr wirklich vorhanden und-"
Düster brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. "Solange das Gewitter noch tobt, verlässt niemand das Lager. Wahre Kämpfer des Stammes der Nacht sollten es für so kurze Zeit auch ohne etwas zu fressen aushalten."
Damit wirbelte er herum, verschwand in seinem Bau und unterband mögliche Einsprüche. Shadow spürte wieder das Loch in seinem Magen. Er kann so etwas leicht sagen, schließlich bedient sich der Anführer immer zuerst an der Beute.
"Komm, lass uns gehen", murmelte Dark ihm im Vorbeigehen zu und stapfte missmutig davon. Shadow sah ihr überrascht nach. Wie kam es, dass sie ihn noch beachtete? Ein Kribbeln jagte durch seinen Körper. Er folgte der schwarzen Kätzin, die Tornado ein Fauchen schenkte, ehe sie den Kämpferbau betrat.
Shadow starrte schnell auf seine Pfoten, um nicht auch noch mit dem älteren Kater einen Streit anzufangen. Sie sind alle so furchtbar empfindlich, wenn es um ihr Ego geht.
Das Dach des Kämpferbaus spendete Shadow endlich etwas Trockenheit, sodass er sich mit einem Seufzer neben Dark niederließ. Als er gerade seine Augen geschlossen hatte, erregte ein ersticktes Keuchen seine Aufmerksamkeit und er spitzte die Ohren.
Hustet da jemand?
Er schob diesen Gedanken rasch beiseite, doch er blieb nicht lange fern. Wird Düster jede Katze töten lassen, die krank wird?
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