Verloren
Er presste seine Pfoten in den Matsch, um haarscharf vor der toten Beute abzubremsen. Jemand anderes hat sie erlegt. Ist Narbe mir gefolgt? Ich war doch so nah dran! Langsam hob er den Blick, um denjenigen zu sehen, der ihm seinen Fang gestohlen hatte.
"Was machst du denn hier?"
Shadow blinzelte für den Fall, dass seine Augen ihm einen Streich spielten. "Joel?"
Der Lehrling zuckte kaum merklich unter seinem Namen zurück, schüttelte dann aber den Kopf. "Was machst du hier, Shadow? Das ist das Territorium des Stammes des Lichts."
Shadow starrte ihn noch immer mit großen Augen an, als ihm wieder einfiel, weshalb er eigentlich hier war. "Das ist meine Maus", waren seine ersten Worte und er streckte eine Pfote nach der erlegten Beute aus, um sie zu sich zu ziehen.
Doch Joel kam ihm zuvor. Mit einer raschen Bewegung packte er die Maus und schob sie hinter seine Vorderbeine. "Ich habe sie auf meinem Gebiet erlegt, also gehört sie mir."
Shadows Ohren zuckten empört. Ohne mich hätte er sie nie zu Gesicht bekommen. Ich habe sie im Grunde in seine Pfoten getrieben. Mit erhobenem Kinn erwiderte er Joels Blick und war bereit, sich seine Beute zurückzuholen. Als er jedoch nach vorn treten wollte, rührte sich kein Muskel.
Obwohl Joel seine Augen zusammengekniffen hatte, konnte man in dem tiefen Blau einige helle Sprenkel entdecken. Sie haben genau den gleichen Farbton wie sein Fell, bemerkte Shadow und hatte auf einmal das Bild eines Morgenhimmels im Kopf, über den vereinzelte Wolken zogen. Auch wenn die Sonne nicht wirklich schien, spürte er ihre Wärme durch seinen Körper ziehen.
Es war ein Gefühl, als wäre mit einem Mal die Schwerkraft verschwunden. Shadows Pfoten lösten sich vom Boden und verloren sämtlichen Halt. Hilflos fiel er tiefer und tiefer in das Blau des Himmels hinein, bis er sich schließlich in Joels Augen wiederfand.
"Die Maus ist von unserer Seite des Flusses hier her gelaufen", erklärte Shadow und stellte irritiert fest, dass ein Lächeln seine Lippen umspielte. Mit einem Stirnrunzeln ließ er seine Mundwinkel wieder sinken.
"Wir können doch nicht jede Maus kontrollieren, die diese Grenze übertritt."
"Doch, na ja, vielleicht nicht jede." Shadow trat von einer Pfote auf die andere. Warum bin ich plötzlich so nervös? Mein Herz überschlägt sich ja bald. Könnte es sein, dass es nicht bloß meine eigene Anspannung ist?
Sein Blick huschte nach unten, wo Joels Krallen sich in den aufgeweichten Boden gebohrt hatten. Warum sollte er nervös sein? Außer er sieht in mir doch noch einen Freund - oder sogar mehr? Sofort unterbrach er diesen Gedanken. Fuchsdung! Du bist ihm egal, weißt du noch? Du bist ihm egal!
"Warum sollte ich gerade jetzt bei dir eine Ausnahme machen?", schnaubte Joel und setzte eine genervte Miene auf.
Shadow öffnete den Mund, aber was sollte er darauf denn erwidern? Siehst du? Egal.
Mit einem Murren fuhr er herum in Richtung der Zweibeinerbrücke. "Woher soll ich das wissen, wo ich doch nur der Feind bin?"
Shadows Worte hatten den festen Unterton, den sie haben sollten, doch gleichzeitig verpassten sie ihm einen Tritt in die Magengrube. Der schwarze Kater unterdrückte ein Seufzen und obwohl sein Magen sich zusammenzog, kam der Schmerz von einer anderen Stelle. Ein kurzer Blick zu seiner Brust zeigte jedoch, dass er weder einen Kratzer noch eine andere Verletzung hatte.
"Warum stört dich das bitte so sehr?", wollte Joel wissen, der noch immer hinter ihm stand.
Shadows Ohren zuckten. Die Erklärung brannte auf seiner Zunge und er brauchte sie nur noch auszusprechen. Aber was ist, wenn ich die Antwort schon kenne? Eine Antwort, die ich nicht akzeptieren möchte? Er unterdrückte ein frustriertes Stöhnen, seine eigenen Gedanken überforderten ihn. Bei der Nacht, ich verstehe mich selbst nicht mehr. Noch nie wollte ich jemanden so sehr hassen, aus Angst, ihn zu sehr zu mögen.
"Ich" Das erste Wort war gesprochen, jetzt konnte Shadow nicht mehr zurück. "Dachte, wir wären Freunde." Oder mehr als Freunde? So ein Mist, Nachtigall hat mich mit ihrer Frage ganz durcheinander gebracht.
Er traute sich nicht, sich umzudrehen und in Joels entsetztes Gesicht zu sehen. Ich bin sein Feind, mehr nicht. Sein Feind.
"Das dachte ich auch."
Shadow erstarrte. Hatte Joel das wirklich gesagt oder spielten ihm seine Fantasien wieder einen Streich? Das ergibt keinen Sinn. Man lässt einen Freund doch nicht einfach so hängen.
"Ich wollte dich nicht meinen Feind nennen", stieß der helle Jater hervor. "Aber du hast mir keine andere Wahl gelassen! Hätte ich meinen Stamm so hintergangen, hätte vielleicht irgendwer etwas geahnt und dann hätten wir uns nicht mehr treffen können. Woher hätte ich wissen sollen, dass unser Streit so ausartet?"
Wie kann ich wissen, ob er die Wahrheit sagt? Aber was für einen Grund hätte er, mich anzulügen? Vorsichtig drehte Shadow den Kopf. Er wollte etwas sagen, trotzdem nagte die Furcht an ihm, seine Gedanken falsch auszudrücken. Besser, ich lasse ihn zuerst antworten.
"Was meinst du damit?"
"Ich meine, dass es mir leid tut." Joel tappte an seine Seite, sodass sie sich in die Augen sahen und Shadow seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte, so nah waren sie einander.
"Wir sind Freunde. Wenn du noch willst?", fügte Joel hastig hinzu.
Mit großen Augen musterte Shadow ihn. Sein Verstand war wie vernebelt und ließ nicht zu, dass er einen vernünftigen Satz herausbringen würde. "Na...natürlich." Er ist mir so nah. Ich kann die Heide in seinem Fell riechen und den Morgentau an seinen Ohrspitzen hängen sehen.
"Das freut mich", wisperte Joel. Er holte Luft und Shadow spürte das Kribbeln auf seiner Zunge, noch etwas sagen zu wollen.
Die Anspannung in Shadows Körper löste sich, als der helle Kater zurücktrat. Kälte umhüllte seine Flanke, die eben noch vor Nervosität ganz heiß gewesen war.
"Ich muss zurück, meine Patrouille wartet bestimmt schon." Joel deutete mit der Nasenspitze flussaufwärts, dann wandte er sich noch einmal Shadow zu. "Ein Glück, dass wir uns heute getroffen haben. Mach's gut!"
"Ja." Shadows Mund war ganz trocken, als er Joel nachsah, der sich mit einem Schweifwedeln auf den Weg machte. "Warte! Deine Maus."
"Nimm du sie!"
"Aber..." Shadow schluckte und betrachtete die Maus, die einsam im Schlamm lag und darauf wartete, mitgenommen zu werden.
"Du bist unmöglich", nuschelte er durch das Fell des toten Wühlers.
Ich sollte wohl besser auch gehen. Narbe jammert den anderen bestimmt die Ohren voll, dass ich sie einfach allein gelassen habe. Er seufzte bei der Vorstellung, sich nochmal mit der Kämpferin zu unterhalten.
Widerwillig stapfte Shadow zurück zu der Zweibeinerbrücke und letztendlich in den Düsterwald hinein. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie warm sein Pelz durch die am Horizont stehende Sonne geworden war.
Es dauerte nicht lang, bis er Narbes Geruchsspur aufgespürt hatte und ihr zwischen den Bäumen hindurch folgte.
Nicht weit ab vom Fluss entdeckte er die hellgraue Kätzin, die bei dem Klang seiner Schritte herumwirbelte. "Wo warst du?"
Shadow ließ die Maus vor sich fallen. "Jagen."
Narbe verengte die Augen, aber er konnte nicht sagen, was sie nun mehr verärgerte - sein plötzliches Verschwinden oder seine Gleichgültigkeit.
"Na dann." Sie schnippte mit der Schweifspitze, als wolle sie eine lästige Fliege abwehren. "Wir treffen die anderen im Lager, also komm."
Während Narbe vorlief und einen erlegten Spatz unter einer Wurzel hervorzog, trottete Shadow ihr gemächlich hinterher.
Sein Herz hatte sich allmählich beruhigt. In gleichmäßigen Abständen schlug es in seiner Brust, dennoch geisterte das vergangene Gepräch noch immer in seinem Kopf herum. Es tat gut, zu wissen, dass sie wieder Freunde waren.
Ob er wohl eine Gefährtin hat? Eine Woge des Schams strömte über ihn hinweg, den Gedanken konnte sie allerdings nicht davonspülen. Immerhin wird er bald seine Prüfung ablegen und ein Kämpfer werden, da kann es gut sein, dass er bereits eine Kätzin an seiner Seite hat.
"Beeil' dich doch etwas!" Narbes Ruf riss ihn aus seinen Grübeleien. "Sonnenhoch ist nicht mehr weit und ich würde gern noch etwas schlafen."
Na bitte...Der verärgerte Ton passt viel besser zu ihr und auch besser zu Gewitter. Shadow beschleunigte seine Schritte, sorgte aber dafür, nicht zu Narbe aufzuholen.
Trotzdem konnte er nicht verstehen, wie sein Vater von einer wundervollen Kätzin wie Finsternis zu dieser verlogenen Schlange wechseln konnte. Die anderen lagen falsch. Sie würde nicht wollen, dass Gewitter sich eine neue Gefährtin nahm.
Meine Mutter könnte es nicht ertragen, zu erfahren, was aus unserer Familie geworden ist. Ihre Tochter ist tot und die Liebe ihres Lebens hat sie ersetzt wie ein altes Nestpolster. Shadow funkelte Narbe an, die einige Schwanzlängen vor ihm lief.
Diese Familie gibt es nicht mehr. Gewitter und ich mögen zwar blutsverwandt sein, aber er hat sich längst entschieden, sie zu verlassen.
Das vergebe ich ihm nie.
Niemals.
-----
Hey, das ist ein etwas kürzeres Kapitel, dafür sollten die nächsten aber umso länger gehen. Nicht mehr lang und wir sind beim großen Finale angekommen...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top