Schuldig

Eisige Kälte zerrte an Shadows Fell, als er unter den aneinander gelehnten Felsen hindurch tappte, die den Lagereingang zum Stamm der Nacht bildeten. Zwischen seinen Zähnen trug er einen Spatz, der bereits ganz steif war und sich in seinem Mund wie ein gefiedeter Stein aufühlte. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, wo er die Pfotenspuren verfolgte, die Rabe vor ihm in der dünnen Schneeschicht hinterließ. Da die Pfoten des anderen Kämpfers ohnehin weiß waren, fiel der Schnee in seinem Fell nicht weiter auf.

Shadow hob den Kopf, als Klaue ihm und dem Rest der gerade zurückgekerhten Jagdpatrouille mit dem Schweif ein Zeichen gab, die erlegte Beute zum Frischbeutehaufen zu bringen. Viel hatten sie nicht gefangen. Neben Shadows Spatz konnten sie lediglich eine dürre Amsel und ein Eichhörnchen vorweisen.

Wie sollen wir so den ganzen Stamm satt bekommen?, dachte Shadow, als er den Frischbeutehaufen in der Mitte der Lichtung bertrachtete. Aus den verfrorenen Resten der letzten Nächte hatte sich eine stinkende Masse gebildet und verfiel nach und nach zu Krähenfraß, den nicht einmal die Fliegen anrühren wollten.

"Wollen wir zusammen fressen?" Blacks Frage zerriss das erdrückende Schweigen im Lager.

Tornado, der vor dem Kämpferbau kauerte, hob den Kopf. Seine Gefährtin Schatten leckte ihm beruhigend über das Ohr und murmelte etwas, das Shadow nicht verstand. Es war nun einen halben Mond her, dass Sichel und Mond vom Stamm der Nacht tot aufgefunden worden waren, doch der getigerte Kater litt noch immer unter dem Verlust seines Bruders.

Shadow wusste, was er durchmachte. Sein Herz schmerzte jedes Mal, wenn er an Mond dachte. Egal wie sehr er ihn seine Stammesgefährten ablenken wollte, er kam immer wieder darauf zurück. Auf jene Nacht, in der er Mond getötet hatte. Das Blut seiner eigenen Schwester klebte an seinen Krallen und niemand durfte davon erfahren. Er war ein Feigling, dass er sich nicht seiner Verantwortung stellte. Finsternis würde sich für mich schämen. Sie beide würden das.

"Shadow? Alles in Ordnung?" Black musterte den schwarzen Kater besorgt.

"Ja, natürlich. Tut mir leid, wir können gerne zusammen fressen", antwortete Shadow. Es ist alles in Ordnung, das ist es immer. Er überließ dem braungetigerten Kater die Wahl der Beute und trottete zu einem Fleckchen im Windschatten des Lehrlingsbaus. Die Kälte durchströmte seinen gesamten Körper, als er sich in den Schnee hockte.

Black setzte sich zu ihm und ließ eine Wühlmaus fallen. "Da können wir gleich Stöcke fressen." Sein Versuch, einen Witz zu machen, blieb reaktionslos. Jeder auf der Lichtung musste ihn gehört haben, denn die einzig weitere Geräuschquelle waren Schnipp und Tunnel, die sich mit gedämpften Stimmen etwas abseits von ihnen unterhielten. Black räusperte sich verlegen. "Nun, lass uns fressen." Er sah Shadow an und wartete, dass er den ersten Bissen nahm.

Der schwarze Kater beugte sich hinunter. Das Fleisch war kalt und schmerzte an seinen Zähnen und nach einigen Kauversuchen gab er auf und schlang das Stück im Ganzen.

Auch Black schien sich schwer zu tun, trotzdem setzte er ein gequältes Lächeln auf. "Ist es nicht verrückt", hob er an, als er den zähen Brei heruntergeschluckt hatte. "Dass ich mich immer noch nicht daran gewöhnt habe, dass wir als Lehrling und Kämpfer auf Patrouille gehen? Ich finde, es ist langsam an der Zeit, dass ich meine Prüfung ablegen darf."

Mond wird das nie können. Sie wird für immer ein Lehrling sein. Shadow brachte ein knappes "Ja" heraus, starrte jedoch weiterhin auf die halb aufgefressene Maus vor seinen Pfoten.

"Komm, nimm noch einen Bissen." Black knuffte ihm sanft in die Seite.

"Nein, danke. Ich bin satt", erwiderte Shadow und schob ihm den Rest mit der Pfote hin.

Der Lehrling schnippte verägert mit der Schwanzspitze, doch seine dunkelbraunen Augen schimmerten besorgt. "Du darfst dich nicht so vernachlässigen, hörst du?" Als Shadow nicht antwortete, seufzte er und widmete sich der Wühlmaus. "Du weißt, dass ihr Tod nicht deine Schuld war", sagte er zwischen zwei Bissen. "Du hättest nicht wissen können, dass sie sich heimlich treffen und erst recht nicht, dass der Stamm des Lichts dort aufkreuzt." Ein Knurren verließ seine Kehle. "Diese krähenfraßfressenden Fuchsherzen. Was hatten sie da überhaupt zu suchen?"

Shadows Muskeln verkampten sich. "Ich weiß es nicht", brummte er, doch er kannte die Wahrheit ganz genau: Ich war das. Ich bin für den Tod zweier unterschuldiger Katzen verantwortlich, die ein wunderbares Leben hätten beginnen können. Ich bin das Fuchsherz, auch wenn dieses Wort noch lange nicht die Verachtung beschreibt, die ich verdiene. Er spürte, wie die Trauer in seinem Herzen sich mit der Wut verband und wie Galle in seinem Hals aufstieg.

Während Black die Fellreste aus seinen Zähnen pulte, beobachtete Shadow, wie Blut die tote Esche erklomm. Sie wartete noch einige Herzschläge und betrachtete die betrübt dreinblickenden Katzen auf der Lichtung, ehe sie rief: "Wer erklärt sich bereit, mit mir auf eine Jagdpatrouille zu gehen?"

Klaue, der sich mit Rabe und Rauch das Eichhörnchen teilte, sah empört auf. "Wir waren doch eben erst unterwegs."

"Und der Frischbeutehaufen ist dennoch nicht gefüllt", erwiderte Blut trocken.

Der braune Kater sträubte sein Fell und warf ihr einen wütenden Blick zu. "Wirfst du uns etwa vor, dass wir nicht jagen können?"

Mit dem Versuch, die Situation ruhig zu halten, meldete Rabe sich zu Wort. "Wir haben alles abgesucht, wirklich. Die Beute traut sich bei diesen Temperaturen nur nicht aus ihren Bauen heraus. Vielleicht sollten wir versuchen, woanders zu jagen."

"Und wo bitte?" Krähe schnaubte ungläubig.

Rabe zuckte mit den Schultern und miaute: "Wir könnten das Gebiet hinter der Zweibeinerflamme erkunden. Dort treibt sich bestimmt das ein oder andere Kaninchen herum."

Klaue schüttelte den Kopf. "Das ist doch Fuchsdung! Bis wir wieder hier sind, ist bereits Sonnenaufgang."

"Dann mach einen besseren Vorschlag." Rabes Geduld wich und er erwiderte Klaues Blick trotzig.

Klaue stieß seine Nase vor, bis sie fast die seines Gegenübers berührte. "Das ist nicht meine Aufgabe. Soll sich doch irgendwer anders etwas ausdenken, aber wenn man mir vorwirft, ich könne nicht jagen, geht das zu weit!"

Zur Antwort rollte Rabe mit den Augen. "Darum geht es doch..."

"Genug!" Blut hatte ihren Rücken zu einem Buckel geformt und peitschte demonstrativ mit dem Schweif. "Wenn wir nur herumsitzen und uns wie Junge zanken, bekommen wir auch nicht alle Mäuler des Stammes gestopft. Ich werde eine weitere Jagdpatrouille anführen und nicht allein gehen. Sollte sich niemand freiwillig meldet, werde ich sie eben einteilen müssen."

Klaue und Rabe murrten frustriert, wagten jedoch nicht, zu widersprechen. Neben ihnen reckte Rauch den Schweif und warf den beiden Katern einen vorwurfsvollen Blick zu. "Ich komme mit." Auch Eule und Schatten schlossen sich der Jagdpatrouille an, sodass Blut zufrieden nickte.

Plötzlich trat eine muskulöse Gestalt mit braunem Fell aus dem Bau hinter der Stellvertreterin und kletterte die toten Esche hinauf. Düster sah zu Blut hinunter, woraufhin diese von ihrem Ast heruntersprang.

"Stamm der Nacht, ich habe euch etwas mitzuteilen."

Shadow hob überrascht den Kopf, den er während des Gespräches auf seine Pfoten gelegt hatte. Düster hatte seit Monds und Sichels letzter Ehre keine Ansprache mehr gehalten, was konnte also so wichtig sein, dass er es jetzt für nötig hielt? Ob er etwas zu der raren Beute sagen möchte? Die anderen Katzen des Stammes schienen ebenfalls verwundert und versammelten sich in einem Halbkreis um ihren Anführer herum. Sogar Kratzer und Fuchs spähten von ihrem Posten ins Lager, um nichts zu verpassen.

"Ich weiß, es ist schon einige Zeit vergangen, seit wir mit Schrecken feststellen mussten, dass der Stamm des Lichts zwei wertvolle Katzen unseres Stammes ermordet hat." Shadow zuckte unmerklich unter Düsters Worten zusammen.

Nach einer kurzen Pause fuhr Düster fort. "Und ich habe beschlossen, dass ich euch lang genug habe warten lassen. Ihr Vergehen darf nicht unbestraft bleiben."

Shadows Fell juckte vor Nervosität und er musste sich zwingen, nicht mit seiner Schwanzspitze hin und her zu zucken. Worauf will er hinaus?

"Deshalb" Düsters braune Augen leuchteten, als er mit erhobenem Kinn auf seinen Stamm hinab sah. "Ist es Zeit, Rache zu üben. Wir werden den Stamm des Lichts angreifen und ihnen zeigen, dass sie nicht einfach in unserer Territorium eindringen und unsere Freunde und Familie umbringen können!"

Shadow erstarrte. Um ihn herum brach sofort das Chaos aus und die versammelten Katzen riefen wild durcheinander.

"Endlich können wir sie dafür büßen lassen!" Schatten war aufgesprungen und bleckte die Zähne. Auch in Tornados Augen hatte die Trauer der Rachelust Platz gemacht.

Das kann doch nicht sein Ernst sein! Shadow fürchtete, sein Herz würde ihm gleich aus der Brust springen, so heftig hämmerte es. Es ist schon schlimm genug, dass ich meine Stammesgefährten belüge, jetzt sollen sie für diese Lüge noch in den Kampf ziehen.

"Das werden sie nicht noch einmal tun", pflichtete Donner Schatten bei und einige weitere Katzen miauten ihre Zustimmung. Keiner von ihnen ahnte etwas von den Gedanken, die wie Wirbelstürme durch Shadows Kopf rasten.

Krähe trat aus der Menge hinaus, sein Schweif peitschte aufgebracht hin und her. "Habt ihr alle Bienen im Hirn? Wir können doch nicht in einen Kampf ziehen, nur wegen der Behauptung eines naiven Jungen."

Shadow versuchte, nicht allzu gekränkt auszusehen. Krähe konnte ihn noch nie leiden, vor allem wenn man bedachte, dass der ältere Kämpfer fest davon überzeugt war, dass Shadow seinen Bruder ermordet hatte. Doch viel mehr fürchtete er, die anderen könnten sehen, wie richtig Krähe mit seiner Anschuldigung lag.

"Genau", schloss sich Rauch an und Shadow dachte, ihm würde gleich die Wühlmaus wieder hochkommen. "Wer weiß, ob der Stamm des Lichts Mond und Sichel wirklich getötet hat."

Düster warf der gelben Kätzin mit den braunen Tupfen einen warnenden Blick zu. "Glaubst du etwa eher an die Unschuld unseres Feindes als an die deines eigenen Stammesgefährten?"

"Sie hat nicht unrecht", gab Blitz zu bedenken und alle Augen richteten sich auf die Ausbilderin. "Ist es nicht seltsam, dass Mond zufällig vom Stamm des Lichts getötet wird, als Shadow genau das tun soll, um seine Treue zu beweisen?"

"Aber was hat Sichel damit zu tun?" Donner sah sie fragend an. "Welchen Grund sollte Shadow haben, ihn zu töten?"

Blitz rollte mit den Augen und entgegnete: "Ist das nicht offensichtlich? Er musste jeden beseitigen, der ihn mit den Morden in Verbindung bringen könnte. Und Sichel war nun mal zur falschen Zeit am falschen Ort." Shadow bohrte seine Krallen in die Erden, um nicht nervös mit ihnen zu spielen.

Düster schüttelte entschieden den Kopf. "Das haben wir doch bereits geklärt: es ergibt keinen Sinn, dass Shadow die beiden getötet hat. Anstatt uns in unseren eigenen Reihen Verräter einzubilden, sollten wir uns der wirklichen Gefahr widmen."

"Ich kann nicht glauben, dass du ihn immer noch in Schutz nimmst", knurrte Krähe und sah Shadow mit blitzenden Augen an, der sich am liebsten in seinem eigenen Pelz versteckt hätte. Obwohl es stockdunkel war, fühlte er sich, als würde er mittem im Licht des Vollmonds stehen. Aber niemand durfte sehen, wie unwohl ihm zu Mute war, sonst würden bald alle die Wahrheit kennen.

Ein Fauchen entfuhr Düster und Shadow spürte, wie der Zorn in dessen Brust wuchs. Sofort verstummte der Protest unter den Katzen. Es brauchte keine Macht, um zu erkennen, wie wütend der Anführer war. "Wir werden diese Diskussion nicht jedes Mal erneut durchkauen, nur weil ihr euch einen neuen absurden Grund habt einfallen lassen. Anstatt euren Frust an Shadow auszulassen, könntet ihr euch wie richtige Kämpfer benehmen und den Stamm versorgen! Denn dieses Gemecker wird ihn definitv nicht durch die Blattleere bringen."

Die Anspannung knisterte wie ein Feuer in der Mitte der versammelten Katzen und niemand wagte, das Schweigen zu brechen. Werden sie jetzt nachgeben? Shadow hielt den Atem an, während sein Blick zwischen Blitz, Krähe und Düster hin und her flog.

Doch niemand sagte etwas und als eine Weile der Stille verflogen war, machte Düster ein zufriedenes Gesicht. "Dann ist es beschlossen: wir werden den Stamm des Lichts angreifen."

"Und wann?" Tunnel blinzelte besorgt und sprach damit aus, was sich die meisten fragten. Ob sie nun ihre Zweifel teilten oder auf einen möglichst baldigen Angriff hofften, konnte Shadow nicht sagen. In der Luft lag der vermischte Geruch aus Angst und Gier.

Düster nickte der getüpfelten Kätzin zu. "Keine Sorge, ihr werdet euch nicht mehr lange gedulden müssen." Ohne auf die Reaktion der Katzen zu warten, sprang er von der toten Esche. Sobald er in seinem Bau verschwunden war, brach der Tumult erneut aus und der Halbkreis zerfiel zu einzelnen Gruppen, die sich aufgeregt über die Ankündigung unterhielten.

Shadow zuckte unsicher mit den Ohren. Wann wird es wieder so weit sein, dass ich meine Krallen gegen unschuldige Katzen richten muss?

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Ich weiß, es hat wirklich lang gedauert, aber ich freue mich, endlich weiterzuschreiben und ab jetzt sollten auch regelmäßig Kapitel hochgeladen werden. Mal sehen, wie Shadow sich im Stamm der Nacht schlagen wird...
Eure Wurzellicht :)

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