Nutzen
Gedankenverloren fuhr Shadow mit seiner Kralle durch die weiße Schicht, die die feinen Schneeflocken am Boden hinterließen. Seine Pfoten waren ganz taub und schmerzten vor Kälte. Auch diese Nacht hatte er nicht mit auf die ersten Patrouillen gedurft, dabei würde ihm etwas Bewegung bestimmt helfen, sich aufzuwärmen. Es fühlte sich an, als wären seine Gelenke versteift oder eingefroren.
Doch auch wenn ein Ausflug aus dem Lager eine ersehnte Abwechslung wäre, hatte Shadow das Gefühl, ihm würde die Kraft dazu fehlen. Selbst der Weg bis zu der Brücke hatte ihn außer Atem gebracht und diese Strecke liefen bereits die jüngsten Lehrlinge.
Der Magen des schwarzen Katers grummelte - ein inwzischen bekanntes Gefühl. Wenn es wenigstens etwas zu fressen geben würde. Seine Rippen zeichneten sich bereits unter seinem Fell ab und gefühlt jeder Muskel seines Körpers war verkümmert. Auch die restlichen Katzen des Stammes der Nacht litten unter dem Hunger, der sie jede Nacht und jeden Tag begleitete.
So können wir keinen Kampf gewinnen. Ihre einzige Hoffnung war es, dass die Lage im Stamm des Lichts genauso beklagenswert war, doch so tief wollte Shadow nicht sinken. Er wollte keiner Katze Leid wünschen.
Im Augenwinkel bemerkte er einen dunklen Fleck, der sich auf ihn zu bewegte und schließlich neben ihm Halt machte. "Ich werde nachher mit ein paar anderen das Moos im Kämpferbau austauschen. Keine schöne Arbeit, aber sie muss nun mal getan werden. Hilfst du uns dabei?"
Shadow sah mit einem Schulterzucken zu Donner hinauf. "Mal sehen." Auf Patrouille gehe ich diese Nacht vermutlich eh nicht mehr.
Donner machte ein gequältes Gesicht und wandte sich zum Gehen, hielt dann jedoch inne. Er trat einen Schritt näher an den schwarzen Kater heran, sein Blick wurde ernst. "Wie geht es dir?"
Diese Frage verwunderte Shadow. Donner war zwar eng mit ihm verwandt, doch tiefgründigere Gespräche hatten sie noch nie geführt. Nicht einmal annähernd. Wenn er so darüber nachdachte, sprachen sie ohnehin nicht viel miteinander. "Es geht mir gut", antwortete Shadow und hoffte, der dunkelgraue Kater würde sich mit einem Nicken abwenden und gehen. Leider war dem nicht so.
"Ich sehe doch, wie du dich quälst", fuhr Donner beharrlich fort. "Ist es Mond? Oder der Streit mit deinem Vater? Wenn es der Kampf ist, muss dir deine Angst nicht peinlich sein. Niemand hier weiß, wie Neumond ausgehen wird."
Shadow starrte zu Boden und erwartete, der Kämpfer würde sein Unbehagen respektieren und ihn schließlich doch in Ruhe lassen. Zu seiner Enttäuschung schien es für diesen noch nicht das Ende ihrer Unterhaltung zu sein.
"Mond hätte nicht gewollt, dass du die ganze Zeit trauerst."
Die Haare in Shadows Nacken stellten sich auf. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Seine Ohren zuckten gereizt hin und her, während Donner fortfuhr: "Überleg doch mal. Mond ist tot und daran kannst du nichts mehr ändern. Alles, was du tun kannst, ist, nach vorn zu sehen. Deine Schwester würde es nicht gutheißen, dass du ihretwegen in deinem Kummer vor dich hin verwest."
"Erzähl du mir nicht, was sie gewollt hätte!", platzte Shadow heraus.
Wie konnte er es wagen, so über Mond zu sprechen? Keine Katze hatte das Recht, ihm zu sagen, was er zu fühlen, denken oder sagen hatte, nur weil sie meinte, seine eigene Schwester besser zu kennen als er. Das Schlimmste, was wir Mond antun könnten, wäre, sie zu vergessen.
Donner taumelte überrascht zurück. "Wie redest du denn mit mir? Ich möchte dir doch bloß helfen."
"Ich brauche deine Hilfe nicht.", knurrte Shadow und drehte den Kopf von dem dunkelgrauen Kater weg.
Dieser bedachte ihn mit einem enttäuschten Blick. "Niemand kann Mond wieder lebendig machen. Vielleicht solltest versuchen, das zu verstehen, anstatt deine Wut immer wieder an anderen auszulassen, die nicht für deinen Verlust verantwortlich sind." Als Shadow nicht antwortete, seufzte er und tappte zurück zu Tunnel, die ihrem Bruder mitleidig über die Ohren leckte.
Er hat leicht Reden, immerhin hat er seine Schwester noch. Schon während dieser Gedanke durch Shadows Kopf schoss, bereute er ihn. Seine Mutter Finsternis war auch Donners und Tunnels Wurfgefährtin gewesen und sie war vor nicht all zu langer Zeit verstorben. Sie kannten ebenfalls den Schmerz, wenn man eine geliebte Katze verlor. Ich hätte ihn nicht gleich so anfahren sollen, aber wie kam er nur darauf, mir auf einmal solche Ansprachen zu halten?
Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit auf jemand anderes gelenkt. Eule kauerte am Lagereingang, sein Rücken gewölbt, sein Nacken und seine Schultern angespannt. Aus seinem Maul kamen seltsame keuchende Laute, die Shadow einen Schauer über den Rücken jagten.
"Was macht er da?" Ratte starrte mit aufgerissen Augen zwischen dem sich krümmenden Kämpfer und seiner Mutter hin und her.
"Husten, das hat uns gerade noch gefehlt", presste Rabe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und eilte bereits zu Eule hinüber. "Alles wird gut, lass es raus." Er legte dem älteren Kater besorgt die Schweifspitze auf die Schulter, während dieser unter weiteren Hustern erzitterte.
Inzwischen hatte sich die Aufmerksamkeit des gesamten Stammes auf Eule gerichtet und das erste Gemurmel wurde unter den Katzen ausgetauscht.
"Erst diese zermürbende Kälte und nun auch noch Krankheit." Schleier schüttelte fassungslos den Kopf.
Sein Bruder Skorpion knurrte zustimmend. "Wenn sich noch mehr anstecken, wie sollen wir dann den Stamm versorgen?"
Untergang erschauderte. "Es ist, als seien wir verflucht."
"Sei nicht albern", grunzte Klaue und warf der Kämpferin einen verächtlichen Blick zu.
Shadow lauschte gebannt der Diskussion, der immer mehr seiner Stammesgefährten beitraten. Wild wurde darum gestritten, was jetzt am besten getan werden sollte, wobei jeder versuchte, die anderen zu übertönen, bis alle bloß noch durcheinander riefen, ohne auf die jeweils andere Meinung einzugehen.
Doch unter dem aufkommenden Zorn spürte Shadow auch Angst, die er gut nachvollziehen konnte. Niemand wollte sich mit der tückischen Krankheit infizieren. Es ist einfacher, wenn man seinen Feind bekämpfen und ihm die Zähne ins Genick bohren kann. Aber wie soll man sich wehren, wenn der Feind einen langsam von innen heraus auffrisst?
Ein gebieterisches Jaulen Düsters ließ die Menge verstummen und sich der toten Esche zuwenden, auf der sich der Anführer mit erhobenem Schweif aufgerichtet hatte. "Könnte mir jemand erklären, was hier los ist?" Seine Frage war mehr ein Befehl als eine Bitte.
Sofort richteten sich alle Blicke auf Rabe und Eule, die noch immer am Lagereingang standen.
Rabes Augen wurden groß, als ihm bewusst wurde, dass alle auf eine Antwort von ihm warteten. "Ich fürchte, Eule wurde von Husten befallen", miaute er und blinzelte verunsichert, als wüsste er nicht, ob er noch mehr sagen sollte.
Düsters Blick verhärtete sich. "Kannst du dafür sorgen, dass er wieder gesund wird?"
"Ich muss gucken, wie viele Heilkräuter wir noch haben", erklärte Rabe und sah zu dem Steinhaufen auf der anderen Seite des Lagers, in dessen Spalten der Stamm der Nacht seine Kräuter aufbewahrte.
Eule, dessen Hustenanfall mittlerweile nachgelassen hatte, erhob sich empört. "Es muss sich nicht um mich gekümmert werden. Ich-", protestierte er, wurde jedoch von einem weiteren Huster unterbrochen.
Als hätte der braungetigerte Kater damit nur noch seinen Punkt unterstrichen, nickte Düster Rabe auffordernd zu. "Dann tu das und lass es mich wissen, wenn es etwas Neues gibt."
Eule grummelte wütend, versuchte allerdings nicht noch einmal, zu widersprechen.
Shadow betrachtete den Kater nachdenklich. Einerseits war die blinde Sturheit seiner Stammesgefährten einfach nur zum Verzweifeln, andererseits konnte er das nagende Gefühl der Scham nachvollziehen, das man verspürte, wenn man allen zur Last fiel.
Während Eule sich unter die schützende Zweige des Beschützerbaus hockte und Rabe zwischen den Felsspalten nach etwas Brauchbarem umherschnüffelte, setzte Düster seine Ansprache fort. "Wenn sich irgendetwas ergibt, was ihr erfahren solltet, dann werde ich euch das auch mitteilen. Bis dahin geht ihr euren Pflichten nach und verschwendet das Mondlicht nicht wie ein Haufen schnatternder Lehrlinge." Als niemand etwas erwiderte, schnippte Düster zufrieden mit der Schwanzspitze.
"Sobald die Patrouillen zurückgekehrt sind, gehen die Ausbilder mit den Lehrlingen zu den Felsen der sterbenden Sonne. Rauch, kümmere du dich mit zwei weiteren Katzen um das Loch im Beschützerbau. Die nächsten Patrouillen wird Blut einteilen."
Die Stellvertreterin nahm den Befehl mit einem Nicken an und löste Düster, der erneut in seinem Bau verschwand, auf dessen Platz auf der toten Esche ab.
Shadow hörte kaum zu, wie sie die Katzen zur Jagd und Grenzkontrolle einteilte. Eher würde eine Blume direkt vor ihm aus dem gefrorenen Boden sprießen, als dass Blut ihn aus dem Lager ließe. Doch er bemerkte Rauch, die flankiert von Krähe auf ihn zugetrottet kam. Dabei war Krähes mürrischer Gesichtsausdruck unübersehbar.
"Shadow, würdest du uns dabei helfen, den Beschützerbau abzudichten?" Rauchs Tonfall war höflich, doch auch sie schien nicht sonderlich erfreut. Gibt es niemanden mehr, der euch sonst dabei helfen kann?, dachte Shadow mit verbittertem Unterton, doch dann wurde ihm klar, das vermutlich genau das der Grund war. Er war immer im Lager und damit eine immer zur Verfügung stehende Hilfe für die anderen. Wahrscheinlich würde er auch nicht darum herum kommen, später Donner zu helfen. Etwas widerwillig erhob er sich schließlich und unterdrückte ein Seufzen.
"Natürlich."
Die drei Katzen betraten den Beschützerbau und Schnipp hob überrascht den Kopf. Scheinbar hatte sie nicht viel von dem Aufruhr draußen mitbekommen. Shadow neigte den Kopf zur Begrüßung. Sein Blick fiel auf den gewölbten Bauch der Beschützerin und er fragte sich, wie lange es wohl noch bis zur Geburt ihrer Jungen dauern würde.
Während Rauch, Krähe und er begannen, das Loch am Hintereingang des Baus mit Stöcken, Moos und anderen Materialien, die sie fanden, zu flicken, spürte Shadow, wie die beiden ihn feindselig musterten. Sie gehörten zu jenen Katzen, die an seiner Unschuld beim Mord an Mond und Sichel zweifelten. Nicht zu vergessen, dass Krähe mich zusätzlich für den Tod seines Bruders verantwortlich macht.
Der schwarze Kater unterdrückte ein Seufzen. Es war hart, seine Lügen am Leben zu erhalten. Vor allem, wenn er dafür den ausgeprägten Instinkt erfahrener Kämpfer täuschen musste.
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Neugierig fand sich Shadow mit dem restlichen Stamm zu der von Düster einberufenen Versammlung ein. Jeder mutmaßte, worum es sich handeln könnte. Ging es nun um Eule oder doch den morgendlichen Kampf? Oder vielleicht hatte sie einen ganz anderen Grund?
Der Anführer trohnte auf seinem Ast und wartete, bis Ruhe eingekehren würde. Doch das Getuschel wollte nicht verstummen, also brachte er es mit einem Ruf zum Schweigen. "Es gibt Neuigkeiten bezüglich Eule", verkündete er und ein Raunen ging durch die Menge.
Das kann nichts Gutes bedeuten, sagte sich Shadow bei dem Anblick von Düsters ernstem Gesichtsausdruck.
"Wie vermutlich inzwischen alle wissen, ist Eule an Husten erkrankt", fuhr der dunkle Kater fort und seine Stimme war ebenso ernst wie sein Blick. "Rabe hat sein Bestes gegeben, doch unsere Heilkräuter reichen nicht aus, um die Krankheit zu heilen. Er wird es nicht schaffen."
Schockiert sahen die Katzen zu ihm hinauf. Einige schnappten vor Entsetzen nach Luft, andere schüttelen den Kopf, als hätten sie bereits damit gerechnet. Shadow ließ den Blick langsam zu Boden wandern und verspürte Mitleid für den alten Kater. Zwar war er immer etwas grimmig gewesen, doch Shadow erinnerte sich, wie seine Schwester es früher geliebt hatte, ihm Streiche zu spielen. Und auch wenn er sich jedes Mal darüber geärgert hatte, so hatte er es den Jungen nie nachgetragen.
"Wie viel Zeit bleibt ihm noch?" Tunnels Augen schimmerten leicht. Ob sie auch an Monds Streiche dachte?
"Darauf wollte ich hinaus", entgegnete Düster und der plötzliche Schock auf der Lichtung wandelte sich wieder in Neugierde um. "Wir können nicht das Risiko eingehen, dass sich noch mehr Katzen anstecken. Deswegen wird es das Beste sein, wenn wir Eule im Vorraus töten."
Für einen kurzen Moment starrte Shadow ihn wortlos an. Er wartete darauf, dass Düster seine Worte zurücknehmen und eine sinnvolle Lösung darbieten würde, doch das geschah nicht.
Erneut brach das Geschrei auf der Lichtung aus. Zuerst waren alle fassungslos, doch nach kurzer Zeit hatten sich die meisten entschieden, was sie von Düsters Beschluss halten sollten.
"Wir brauchen morgen jede Kralle, die wir bekommen können. Da können wir doch nicht einfach unsere eigenen Kämpfer töten", rief Gewitter und blickte den Anführer, der gleichzeitig sein Vater war, verständnislos an, woraufhin von einigen zustimmendes Gemurmel folgte.
"Und wenn wir uns die Gefahr des Hustens zunutze machen?" Schatten trat einen Schritt nach vorn. "Wenn Eule trotzdem mitkämpft, könnte sich der Stamm des Lichts ebenfalls infizieren und dadurch geschwächt werden."
Shadow konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Er erwartete entsetzten Protest, doch zu seinem Schrecken sahen die Katzen einander an und nickten. Der Ekel vor seinen eigenen Stammesgefährten vermischte sich mit deren Hass und Ehrgeiz, bis der schwarze Kater ihn in jeder Krallenspitze spüren konnte.
"Ist das euer Ernst!" Mit gesträubtem Fell war er aufgesprungen und richtete seine Augen auf die verblüfft dreinblickende Menge. Er selbst war auch davon überrascht, dass er seine Gedanken laut aussprach, doch nun konnte er nicht mehr zurück. Alle Blicke lagen auf ihm.
"Ihr wollt nicht nur einer der euren aus Egoismus umbringen, ihr wollt auch noch eure Vorteile daraus ziehen und diese Krankheit im Stamm des Lichts einschleppen! Das ist nicht nur grausam, sondern einfach feige."
Gebannt wartete er auf eine Reaktion der ihn mit großen Augen anstarrenden Katzen. Hatte er es geschafft, sie von ihrer wahnsinnigen Idee abzubringen?
"Einen der euren?" Tornado war der Erste, der sprach, und er spuckte jedes dieser Wörter förmlich aus. "Und zu wem gehörst du dann?"
Krähe bleckte seine Zähne. "Du stellst dich auf die Seite des Feindes. Das hätte ich kommen sehen müssen, schließlich warst du schon immer ein Heuchler ohne einen Hauch von Loyalität. Du zögerst doch nicht einmal, deine eigenen Stammesgefährten zu töten." Shadow wusste genau, worauf der weiße Kater mit den grauen Streifen anspielte.
"Du hältst dich wohl für etwas Besseres", fügte Frost mit einem Fauchen hinzu. "Aber Überraschung: Nur weil deine Schwester tot ist, hast du kein Recht darauf, dich wie der Gebieter über das, was richtig und falsch ist, zu benehmen!"
Bei diesen Worten sahen einige Katzen auf ihre Pfoten, um Shadows Blick auszuweichen. Der Kämpfer schaute Frost schweigend an. Plötzlich war jegliche Kraft, sich seinem verrückt gewordenen Stamm entgegenzustellen, aus ihm verschwunden. Er spürte wieder den Schmerz seiner schindenen Muskeln, den des Lochs in seinem Magen und den des Lochs in seinem Herzen. Er wollte Frost nicht mehr antworten. Sollten sie machen, was sie wollten! Es war ihm egal.
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