Mutter
Neugierig beobachtete Shadow die vier Neuankömmlinge, die sich nun unter Schuppes und Wolkes Anweisungen in einer Reihe aufgestellt hatten. Staub machte ihnen gerade vor, wie sie sich am besten positionieren sollten. Dabei wirkten seine Glieder deutlich verkrampfter als die geschmeidigen Bewegungen der jüngeren Katzen.
Kann man sie überhaupt als jünger bezeichnen? Shadows Ohren zuckten angestrengt bei der Vorstellung, dass das Aussehen in diesem Wald nichts über das Alter aussagte. Von Nachtigall wusste er, dass Tiger - eine braungetigerte Kätizn, die Schuppess hektische Bewegungen versuchte nachzuahmen - nicht viel jünger als diese selbst war. Sie hatten sogar zur selben Zeit im Stamm der Nacht gelebt.
Dabei sieht Tiger nicht viel älter aus als ich. Sie muss früh gestorben sein. Dennoch übertrifft sie Staubs Alter um Längen. Es war eine komische Vorstellung, nach dem Tod nicht mehr zu altern und für immer in dem selben Körper festzustecken.
Shadow beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Die Gewissheit einer sich nie verändernden Ewigkeit löste ein seltsames Gefühl in ihm aus, dem er lieber nicht nachgehen wollte. Also lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen direkt vor seinen Pfoten.
"Mache ich das richtig so?"
Der dunkelbraune Kater Brocken mit den hellbraunen und grauen Punkten hatte sich in einem breiten Stand vor Schuppe positioniert und starrte den Gelehrten durch seine trüben Augen an.
Schuppe gab Brockens Schweif einen Klaps mit der Pfote. "Entspann dich etwas mehr. Du bist ja völlig versteift", schnurrte er.
Beschämt ließ der ehemalige Kämpfer seinen Schweif sinken und folgte auch Schnuppes weiteren Verbesserungen.
Plötzlich spürte Shadow weiches Fell, dass seine Flanke streifte. Er musste sich nicht drehen, um zu wissen, wer sich zu ihm gesetzt hatte.
"Woran denkst du?"
Shadows Blick verharrte noch wenige Herzschläge auf Tiger, die ebenfalls von Schuppe berichtigt wurde, und sah dann zu Nachtigall. Woran dachte er eigentlich? Seine Gedanken waren entweder zu schnell, um ihnen zu folgen, oder zu sprunghaft, um sich an den letzten zu erinnern. Also antwortete er mit einer Gegenfrage: "Waren alle Katzen hier einmal ein Teil des Stammes der Nacht?"
"Es freut mich, dass du so interessiert an unserer Geschichte bist", entgegnete sie mit einem Schwanzschnippen. "Ich befürchtete schon, du würdest dich vor all dem hier verschließen.
Aber um auf deine Frage zurückzukommen. Ja, wir alle stammen aus dem Stamm der Nacht. Du musst jedoch wissen, dass es nicht immer so gewesen ist. Da ich die Gründerin bin und damit erst die Möglichkeit erschuf, sich dem Stamm der Geister anzuschließen, können das nur Katzen nach meinem Tod tun. Verstehst du?"
Shadow nickte. "Also kann jede Katze, die jetzt stirbt, zu euch kommen."
"Genau."
"Dann...dann können Mond und Finsternis ja auch irgendwo hier sein, oder!" Der schwarze Kater riss die Augen auf. Daran habe ich noch nie gedacht. Sasha ist seit ihrem Tod doch auch im Wald der Schatten, wieso sollten sie es nicht auch sein? Sein Herzschlag beschleunigte sich, seine Pfoten kribbelten. Automatisch reckte er den Kopf, um über den Rand der Grube etwas zu erkennen. "Wir müssen los und sie suchen!"
Lange hatte er schon nicht mehr so eine Aufregung verspürt. Aber da war noch etwas anderes. Wie die ersten Sprösslinge in der Blattfrische keimte nun auch etwas in seiner Brust. Es war ein warmes Gefühl, das sich mit der Aufregung vermischte und seinen gesamten Körper ausfüllte. Hoffnung.
"Shadow, es-"
"Die ganze Zeit dachte ich, ich würde sie nie wieder sehen! Komm, sie werden hier irgendwo sein."
Seine Augen wanderten bereits durch das vernebelte Territorium des Stammes der Geister und er machte einen Schritt nach vorn, als Nachtigall ihm plötzlich eine Pfote in den Weg stellte.
Verwirrt lenkte der schwarze Kater seinen Blick zu ihr. Was hat sie?
"Du brauchst nicht nach ihnen zu suchen."
"Aber wieso nicht?" Das warme Gefühl in Shadows Brust geriet ins Flackern. War die Hoffnung in ihm so schwach, dass Nachtigall sie mit nur einem Satz ersticken konnte? Ich muss daran glauben, dass ich sie wiedersehen werde.
"Shadow, so einfach funktioniert das nicht", hob Nachtigall an, ihre gelben Augen schimmerten sanft. "Nicht jeder findet den Weg ins Totenreich."
Unsicher legte der Kämpfer den Kopf zur Seite und seine Schnurrhaare bebten vor Spannung. "Wie...wie meinst du das?"
"Die Reise in das Leben nach dem Tod ist gefährlich. Nicht jeder übersteht sie", erklärte Nachtigall sanft und wollte Shadow mit der Schwanzspitze über die Stirn streichen, doch er drehte den Kopf weg.
"Sie sterben also." Die Flamme, die zuvor seine Brust mit Wärme gefüllt hatte, erlosch und mit ihr das prickelnde Gefühl der Hoffnung. Die gähnende Leere, die sie zurückließ, wirkte noch größer und dunkler als zuvor. Wie kann das überhaupt möglich sein?
"Sterben ist so ein hartes Wort", fügte Nachtigall hinzu, während sie ihren Schweif wieder zurückzog und um eines ihrer Hinterbeine wickelte. "Sagen wir, sie finden endlich ohne jeglichen Schmerz ihre Ruhe."
Sie mussten nicht leiden? Das hoffe ich so sehr. Erst mussten sie so sinnlos meinetwegen sterben, da sollen sie in ihren letzten Atemzüge nicht auch noch Qualen erdulden. Shadow spürte ein leichtes Zucken, das an seinen Gesichtsmuskeln zerrte. Wieso fühlte es sich so befreiend an, zu wissen, dass sie diese Welt der ewigen Nacht und Dunkelheit hinter sich lassen konnten, obwohl es doch den Tod bedeutete?
"Danke", flüsterte er und drehte sich zu Nachtigall, den Blick zu Boden gerichtet.
Die beige Kätzin blinzelte überrascht, lächelte dann aber. "Komm, ich möchte dich jemandem vorstellen."
Sie führte Shadow aus der Wandelgrube hinaus zurück in den Wald. Der Weg zu der Stelle, an der er immer in der Traumwelt erwachte, war inzwischen in sein Gedächnis eingeprägt, sodass er sofort erkannte, dass sie nicht dort hingingen.
Stattdessen drangen sie immer weiter in einen Teil des Waldes vor, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Die Bäume wuchsen hier höher, ihre Stämme waren dünn und ihre Kronen weit zu den Seiten ausgestreckt.
"Was machen wir hier?" Shadows Stimme zitterte. Wurde es kälter oder war es nur die Dunkelheit, die ihm den Rücken hochkroch?
Nachtigalls Ohren zuckten bloß hin und her. Worauf wartet sie? Und warum ist sie so aufgeregt?
Plötzlich ertönte eine Stimme. "Haben wir etwa Zuwachs bekommen?"
Shadow wirbelte herum, sein Blick schnellte zwischen den Bäumen hindurch, doch er konnte niemanden erkennen. Währenddessen konnte er förmlich die Aufregung schmecken, die von Nachtigall ausging und wie ein Feuer Funken sprühte.
"Nicht ganz. Komm her, dann stell ich ihn dir vor."
Mit wem spricht sie? Shadow sah zu Nachtigall, die ihr Kinn gehoben hatte und die Baumwipfel absuchte. Verwirrt folgte er ihrem Blick. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er die Silhoutte einer Katze zwischen den Ästen umher springen sah. Die Zweige wankten unter ihrem Gewicht, als sie einen kleinen Satz von einem Baum zum nächsten machte. Sie wird noch herunterfallen! So hoch oben über dem Boden...
"Du spannst mich ganz schön auf die Folter", entgegnete die Katze, tänzelte über den Ast zum Baumstamm hinüber und kletterte ihn in wenigen, geschickten Bewegungen hinunter.
Jetzt erst konnte Shadow die Kätzin richtig erkennen. Ihr Fell war dunkelgrau und von breiten, hellen Streifen durchzogen. Ihre grünen Augen leuchteten voller Neugier, während sie ihn von oben bis unten betrachtete.
"So jung schon, das tut mir leid", murmelte die Kätzin und neigte den Kopf vor Shadow. "Ich würde dich gerne willkommen heißen, doch Nachtigall lässt es so klingen, als wärst du kein Mitglied unseres Stammes. Stimmt das?"
"Nebel, darf ich vorstellen? Das ist Shadow. Shadow, das ist Nebel", miaute Nachtigall, ohne auf die Frage einzugehen.
Nebels Gesichtszüge erstarrten. Mit großen Augen sah sie zwischen den beiden Katzen hin und her, während sie ein gedehntes "Oh" ausstieß. Shadows Schwanzspitze zuckte unruhig. Warum sieht sie mich so seltsam an? Und wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie kenne? Seine Gedanken drängten ihn, endlich das Schweigen zu brechen und die Fragen in seinem Kopf loszuwerden, doch er brachte keinen Ton heraus.
Vorsichtig machte Nebel einen Schritt auf ihn zu. Shadows Herzschlag beschleunigte sich, als die dunkelgraugestreifte Kätzin ihm so nahe war, dass er ihren Atem auf seiner Schnauze spüren konnte.
"Du bist so groß geworden. Ein Jammer nur, dass du ganz nach deinem Vater kommst", fügte sie mit bissigem Unterton hinzu.
"K...kennen wir uns?" Shadows Stimme zitterte, aber längst nicht so sehr wie seine Beine in diesem Moment.
Nebel schüttelte den Kopf und ihr Blick trübte sich für wenige Herzschläge. "Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern. Du warst noch ein Junges, gerade geboren und noch nicht einmal die Augen geöffnet, als ich starb."
Nachtigall legte dem Kämpfer behutsam die Schwanzspitze auf den Rücken. "Sie ist Finsternis' Mutter."
Shadows Herzschlag setzte einen Moment aus. Er starrte die Kätzin wortlos an und suchte nach den passenden Worten. Gab es überhaupt etwas zu sagen? Und wenn ja, was war das Richtige?
Noch ehe er einen Gedanken fassen und aussprechen konnte, lehnte Nebel sich nach vorn. Sie presste ihre warme Schnauze an seine Wange, während ein lautes Schnurren ihre Kehle emporstieg. "Ich kann es nicht fassen, sieh dich an!", nuschelte sie in Shadows Fell, wich zurück und betrachtete ihn mit leuchtenden Augen. "Du bist noch am Leben, nach allem, was passiert ist. Das mit Mond, ich..." Ihre Stimme brach.
"Du weißt davon?", flüsterte Shadow, überrascht, dass auf einmal ein Ton aus ihm herauskam.
"Natürlich tue ich das." Nebels Augen weiteten sich. "Es tut mir so leid, was passiert ist. Seine Schwester so zu verlieren, das ist grausam."
Shadows Ohren zuckten hin und her. "Ich verstehe nicht." Sein Blick huschte verunsichert zu Nachtigall, doch sie schenkte ihm nur ein sanftes Lächeln. "Es tut dir leid?"
Nun legte auch Nebel ihren Kopf verwirrt zur Seite. "Selbstverständlich, du hast so viel durchgemacht. Ich habe meinen Bruder damals bei einem Dachsangriff verloren, doch ich hatte meine Eltern, die mich aufgefangen haben. Aber deine wunderbare Mutter ist bereits von uns gegangen und dein Vater ist zu egoistisch, um noch jemand anderes als sich selbst wahrzunehmen."
Shadow wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hat Mitleid mir, dabei bin ich derjenige, der Mond getötet hat. Weiß sie das denn nicht? Ein Schauer kletterte ihm den Nacken hinauf. Doch, sie weiß es und meint es ernst. Das fühlt sich...seltsam an.
"Danke."
Schon zum zweiten Mal hatte er sich in so kurzer Zeit bedankt. Doch es war das erste Mal seit Langem, dass es von Herzen kam.
Nebel blinzelte überrascht. "Oh, dafür musst du mir nicht danken. Mach das erst, wenn wir diesen Krähenfraßfressern das gegeben haben, was sie verdienen. Sie werden es bereuen, wie weit sie gegangen sind!", fauchte sie, während ihr Schweif aufgebracht hin und her peitschte.
Shadow bohrte seine Krallen in die Erde, um nicht zurückzuweichen. "Du möchtest sie töten?"
"Was denn sonst?" Ein etwas zögerliches Lächeln huschte über Nebels Gesicht. "Das ist immerhin das Ziel des Krieges."
Der schwarze Kater wollte etwas erwidern, doch Nachtigall kam ihm zuvor. "Denk' daran, was die andere Seite dir alles angetan hat. Deine Mutter, deine Schwester..."
Wieso sagt sie mir das? Als würde je eine Sekunde vergehen, ohne dass ich an sie denke. Shadow musste nicht nach dem Gefühl der Leere suchen. Es begleitete ihn immer und war wie das Rauschen des Windes immer im Hintergrund seiner Gedanken.
Möchte sie mich daran erinnern, damit ich keine weiteren Fragen stelle? Damit ich die andere Seite ebenfalls töten möchte? Seine Brust zog sich zusammen. Warum sollte sie das wollen?
"Die Nacht bricht bald an, wir sollten zurück", fuhr Nachtigall fort, ohne etwas von Shadows Zweifeln zu merken.
Sie verabschiedeten sich von Nebel, die dem Kämpfer das Versprechen abnahm, sie bei seinem nächsten Aufenthalt im Wald der Schatten zu besuchen. Auf dem Weg zum Traumbaum ließen ihn Nebels Worte jedoch nicht los. War dieser Krieg, von dem sie sprachen, wirklich unvermeidbar? Und wie konnte es sein, dass er schon wieder Teil eines Mordes sein sollte? Es ist, als würde ich den Tod anziehen.
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