Lügen und Geheimnisse

Fahles Sonnenlicht sickerte durch die Decke des Weidentunnels und erhellte den Kämpferbau, in dem Shadow sich in seinem Nest zusammengerollt hatte. Seine Augenlieder zuckten unter den hellen Strahlen, die ihn am Einschlafen hinderten. Auch Skorpions rasselndes Schnarchen aus der hinteren Ecke war ihm dabei keine Hilfe. Immer wieder sog der schwarzrote Kater die Luft mit einem röchelnden Laut ein und stieß sie anschließend mit einem leisen Pfeifen aus. Als Shadow sich allmählich an die Gleichmäßigkeit von Skorpions Atem gewöhnt hatte, änderte sich plötzlich sein Rhythmus und der schwarze Kater stöhnte genervt auf.

Frustriert drehte Shadow sich in seinem Nest, sodass er durch die eng verflochtenen Weidenranken auf die Lichtung spähen konnte. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber ihre Strahlen reichten bereits über die Baumwipfel und ließen das Lager des Stammes der Nacht lebendig wirken. Und obwohl es noch das schwache Morgenlicht der Blattleere war, schien es durch den Schnee so hell, dass Shadow beinahe geblendet wurde.

Der schwarze Kater seufzte. Mond hätte das geliebt.

Als das letzte Mal Schnee gelegen hatte, waren er und seine Schwester noch zu jung, um nach draußen zu gehen. Dennoch formten sich verschwommene Bilder vor seinen Augen, in denen sie sich heimlich zum Ausgang des Beschützerbaus geschlichen und den Einbruch der Nacht beobachtet hatten. Es war einer der wenigen Momente gewesen, in denen sie sich so nahe gestanden hatten.

Wir haben uns viel zu oft gestritten, und ich weiß nicht mal mehr, wieso. Wenn ich nur die Zeit zurück drehen und jeden Moment auskosten könnte, den ich mit Mond verbracht habe. Shadow lächelte wehmütig bei der Vorstellung, seine Wurfgefährten würde neben ihm liegen. Ihr Pelz an seinem, als würden sie den selben tragen. Sie würde ihm mit dem Schweif über seine Flanke streichen, wie sie es immer getan hatte, um ihn zu trösten.

Ich habe alles zerstört, dachte Shadow und wusste, dass er nicht nur Monds Tod meinte. Er meinte die vielen letzten Monde, die sie davor hätten verbringen können, wäre er nicht so stur gewesen. Hätte ich mich nicht einfach entschuldigen können? Dann würden wir vielleicht noch Seite an Seite im Lager sitzen und uns einander unsere Geheimnisse anvertrauen. Ich würde ihr erzählen, dass ich eine Katze der Macht bin und was für ein Druck das ist. Sie würde von ihrer Zukunft mit Sichel schwärmen und jede Nacht ihre Meinung ändern, wie sie ihre Jungen nennen wolle.

Aber für all das war es zu spät.

Shadow ließ seinen Kopf fallen und schloss die Augen. Für wenige Herzschläge tanzten helle Lichtflecke durch sein Sichtfeld, die sich in seine Netzhaut eingebrannt hatten. Doch nach und nach erloschen auch sie, bis der Kater sich in vollkommener Dunkelheit wiederfand.

"Wach auf", riss ihn eine sanfte Stimme aus seinem Dämmerzustand. "Wach auf."

Shadow murrte frustriert, weil er endlich kurz davor gewesen war, in den Schlaf zu sinken. Vielleicht wäre er von Alpträumen geplagt gewesen, trotzdem hätte er sich in der nächsten Nacht nicht so erledigt gefühlt.

Die Lippen verärgert gekräuselt blickte er auf und drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch zu seiner Überraschung fand er sich einer beigen Kätzin gegenüber, die ihn mit ihren gelben Augen freundlich musterte. Das Nest unter ihm war verschwunden, stattdessen lag er auf kaltem, gewelltem Boden, der sich unangenehm in seine Rippen drückte. "Nachtigall?" Shadow erhob sich und sah die Kätzin verwirrt an.

"Schön, dich zu sehen, Shadow. Es ist etwas her, nicht wahr?", miaute Nachtigall zur Begrüßung.

"J..ja", entgegnete der schwarze Kater und ließ seinen Blick durch die Umgebung schweifen. Der Wald der Schatten, was für ein abscheulicher Ort. Erinnerung füllten seine Gedanken und er spürte, wie sein Nackenfell sich nervös aufstellte.

Nachtigall blinzelte ihm aufmunternd zu. "Du wirst dich daran gewöhnen, wieder hier zu sein."

Sofort fuhr der schwarze Kater zu ihr herum. "Was meinst du damit: ich werde mich daran gewöhnen?"

Ein mitfühlender Schleier legte sich über Nachtigalls Augen und sie antwortete: "Damit musst du doch gerechnet haben. Das letzte Mal war noch lange nicht dein letztes. Wenn wir dich nicht weiter trainieren, wirst du deine Macht nie kontrollieren können und das wird letztendlich..." Sie zögerte. "In einer Katastrophe enden."

Shadows Herzschlag beschleunigte sich. "Aber..." Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. "Kralle ist doch tot. Ich brauche diese Ausbildung nicht, ich will sie nicht!"

"Du musst doch verstehen, dass..."

"Wie soll ich denn verstehen, wenn du mir nie etwas erklärst!" Wut wurde in seiner Brust entfacht und fraß sich wie ein Feuer durch seinen gesamten Körper. "Kannst du nicht verstehen, dass ich all das nicht möchte? Dass ich einfach ein normales Leben führen möchte?"

Nachtigall seufzte resigniert, nickte aber. "Natürlich verstehe ich das und du hast recht."

"Also wirst du mir erklären, warum du so eine Angst hast?", miaute Shadow und spürte, wie sein Zorn ein wenig verflog.

Überrascht riss die beige Kätzin die Augen auf. "Wie kommst du darauf, dass ich Angst habe?" Shadow schwieg zur Antwort und sie ließ geschlagen den Kopf hängen. "Also gut. Ich rede eigentlich nicht gerne darüber, aber du verdienst die Wahrheit. Zu meiner Zeit hat ebenfalls eine Wächterin gelebt. Sie wurde falsch trainiert, weil verblendete Katzen sie als Mittel zur Macht betrachtet haben, und in einem Kampf kam es, wie es kommen musste. Die Wächterin konnte ihre Macht nicht kontrollieren. So viele Katzen wurden getötet - Freunde und Familie ließen sinnlos ihr Leben. Doch anstatt aus seinem Fehler zu lernen, beschloss der Stamm der Nacht, diesen Teil seiner Vergangenheit einfach zu vergessen. Und nun droht genau diese Vergangenheit, sich zu wiederholen, bloß mit dem Unterschied, dass wir dieses Mal die Chance haben, es besser zu machen."

Keine der beiden Katzen sagte für eine kurze Zeit ein Wort. Shadow hatte das Gefühl, Nachtigall plötzlich nicht mehr nur als die geheimnisvolle Kätzin zu sehen, sondern als eine Kämpferin, die ihren Stamm noch immer schützen wollte. Es gibt noch so vieles, das ich nicht über sie weiß, trotzdem scheinen wir den Schmerz als eine Verbindung zu teilen.

"Das tut mir leid", war alles, was er sagen konnte.

Nachtigall schüttelte den Kopf. "Das muss es nicht", miaute sie und versuchte sich an einem Lächeln. "Lass uns das Thema wechseln: Wie kommst du im Stamm der Nacht zurecht?"

Shadow blinzelte, dankbar, dass die Anspannung etwas nachließ, und antwortete: "Die meisten haben mir die Lüge mit dem Stamm des Lichts geglaubt, aber ein paar hegen immer noch Zweifel und versuchen, die anderen zu überzeugen."

"Aber niemand weiß, dass du ein Wächter ein bist?"

"Nein, niemand" Shadows Schwanzspitze zuckte nervös. Sollte ich ihr von dem geplanten Kampf erzählen? Sie scheint auch gegen unnötige Gewalt zu sein, also ist sie vielleicht der Meinung, die Wahrheit könnte den Frieden und einigen Katzen das Leben retten. "Vielleicht war die Idee, alles dem Stamm des Lichts anzuhängen, keine so gute Idee."

Nachtigall spitze überrascht die Ohren. "Wie kommst du darauf?"

"Der Stamm der Nacht plant einen Angriff auf den Stamm des Lichts, um sich zu rächen", platze Shadow heraus. "Und wenn ich ihnen beichte, dass ich...dass ich für Monds und Sichels Tod verantwortlich bin, werden sie bestimmt nicht angreifen."

Entschieden schlug die beige Kätzin mit dem Schweif. "Auf keinen Fall! Niemand darf es erfahren, sonst werden sie wissen wollen, warum du das getan hast und früher oder später finden sie heraus, dass du ein Wächter bist."

"Aber soweit muss es doch gar nicht kommen und deswegen einen Kampf zu starten, ist mäusehirnig", protestierte Shadow.

"Das Risiko ist zu groß." Nachtigall musste sich deutlich bemühen, nicht frustriert aufzuknurren "Du wirst ihnen nichts sagen, verstanden?" Shadow nickte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob es wirklich eine Frage gewesen war und die Kätzin wirkte nicht so, als würde sie weiterhin mit sich reden lassen.

"Komm, ich führe dich ein wenig herum", miaute Nachtigall, für sie hatte sich die Angelegenheit offensichtlich erledigt.

Shadow unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht sollte ich einfach auf sie hören, immerhin hat sie so viele Monde - sogar Blattwechsel an Erfahrung. Also schwieg er, als er hinter Nachtigall hertappte, die sich bereits auf den Weg gemacht hatte.

Alles in ihm sträubte sich, tiefer in den Wald einzudringen. Es war schon schlimm genug gewesen, auf der Lichtung zu sein, wo er mit Kralle trainiert hatte und nun musste er sich ganz der Dunkelheit hingeben, in der hinter jeder nächsten Biegung Gefahren lauern konnten.

Für eine kurze Zeit liefen die beiden Katzen einfach nur durch den Wald der Schatten, ohne ein Wort zu wechseln. Shadow konnte sich nicht vorstellen, sich je an diesem Ort zurecht zu finden. Alles sieht gleich aus. Bloß die gleichen knorrigen Bäume, immer und immer wieder. Auf einmal bleib Nachtigall stehen und deutete in die Tiefen des Waldes hinein. "Da hinten sind die Traumfelsen. Erkennst du, dass dort hinten keine Bäume wachsen?"

Shadow kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in die Richtung, in die die beige Kätzin gezeigt hatte. Tatsächlich konnte er erahnen, dass der Wald in einer Lichtung enden musste. "Die Traumfelsen?"

"Du kannst sie dir wie eure Baue vorstellen", miaute Nachtigall und setzte sich wieder in in Bewegung. "Sie sind unser Schlafplatz."

Shadow musste sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten. "Schlafplatz? Aber ich schlafe doch in diesem Moment", erwiderte er und sah Nachtigall verwirrt an, die amüsiert mit den Schnurrhaaren zuckte.

"Denkst du, die Toten brauchen keinen Schlaf?"

Verlegen starrte der Kämpfer auf seine Pfoten, die etwas unbeholfen versuchten, auf dem unebenem Boden Halt zu finden. "Na ja..."

"Du musst es dir so vorstellen", hob Nachtigall an, brach jedoch ab, um unter einem Busch hindurch zu tauchen. Shadow konnte nicht sagen, was für ein Busch es war, doch die Dornen, die sich in seinem Fell verhakten, deuteten auf einen vertrockneten Brombeerbusch hin. "Unsere Welten - die der Lebenden und die der Toten - koexistieren. Und nur weil man nicht länger in der Welt der Lebenden ist, bedeutet das nicht, dass man keinen Schlaf mehr braucht. Du bist noch du, bloß an einem anderen Ort."

Der schwarze Kater überlegte. Es sollte zwar eine Erklärung sein, doch er hatte das Gefühl, jeder Satz würde neue Fragen aufwerfen, anstatt sie zu beantworten. "Wie kann ich dann hier sein, wo wir doch in unterschiedlichen Welten leben?"

Zu seiner Überraschung schnurrte Nachtigall. "Wenn ich das wüsste! Aber es gibt ein paar Katzen, die es dir erklären können. Mit etwas Glück treffen wir sie noch heute. Oh, da sind wir schon!"

Shadow sah auf und blinzelte. Von einem Augenblick auf den anderen schlug der Wald in eine Lichtung über, auf der Felsen so groß wie Katzen aneinandergelehnt einen Kreis bildeten. Er ließ seinen Blick über die Felsen gleiten, bis er an einem schildpattfarbenen Fellknäuel hängen blieb. "Wer ist das?", flüsterte er, aus Angst, die Katze könnte ihn hören.

"Sein Name ist Fetzen und die beiden", entgegnete Nachtigall, während sie mit dem Kopf in die Richtung zwei weiterer Katzen deutete, die nur wenige Schwanzlängen von Fetzen entfernt lagen. "heißen Staub und Brocken."

"Sind diese Katzen auch tot?" Shadow konnte nicht glauben, dass er das fragte. Keiner seiner Stammesgefährten würde ihm von all dem auch nur ein Wort glauben. Umso besser, dass ich ihnen sowieso nichts erzählen darf., warf er gedanklich in einem ironischen Ton ein und hätte beinahe belustigt geschnaubt.

Nachtigall nickte. "Jede Katze, die du hier antreffen wirst, hat ihren Weg aus dem Totenreich zum Stamm der Geister gefunden und beschlossen, sich ihm anzuschließen."

Sofort schoss ein Gedanke durch Shadows Kopf, von dem er wünschte, ihn einfach wieder aus seinem Kopf zu schieben. "Was geschieht mit den restlichen Katzen, die den Weg nicht finden?"

Nachtigalls Ohren zuckten und der schwarze Kater konnte spüren, wie schwer es ihr fiel, eine Antwort darauf zu formulieren. Das ungute Gefühl in seinem Bauch wurde noch stärker. "Das ist nicht wichtig", miaute sie schließlich und schenkte Shadow ein Lächeln, der es zu erwidern versuchte. Vermutlich möchte ich es nicht einmal wissen. Trotzdem beruhigte ihn dieser Gedanke genauso wenig wie Nachtigalls halbherziges Lächeln, denn er hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und würde seinen anderen Sorgen Gesellschaft leisten, die ihn ohnehin vom Schlaf abhielten.

"Wir sollten weitergehen, wenn wir es noch bis zur Wandelgrube schaffen möchten", brach Nachtigall das Schweigen, drehte sich mit einem erwartungsvollen Blick auf Shadow um und tappte langsam vorraus.

Shadow zögerte noch wenige Herzschläge, ehe er ihr folgte. Es fühlte sich an, als wäre es noch nicht einmal Sonnenhoch, doch wenn Nachtigall ihn zur Beeilung drängte, lag der Nachteinbruch anscheinend nicht mehr weit entfernt. Die Zeit im Wald der Schatten verhält sich seltsam.

Dieses Mal liefen sie nicht so lang und schon nach kurzer Zeit hielten sie an der Kante zu einer Grube, die steil bergab fiel. Pfotenspuren prägten den Weg, den bereits viele Katzen zuvor gelaufen sein mussten, um nicht von dem lockeren Sand mitgerissen zu werden. In der Mitte der Grube standen ein paar Katzen, die sich aufgewühlt unterhielten und scheinbar über etwas stritten.

"Hier erforschen die Gelehrten die Geheimnisse der Traumwelt." Nachtigalls Augen waren ebenfalls auf die kleine Gruppe gerichtet.

"Wie genau machen sie das?", wollte Shadow wissen. Er versuchte sich vorzustellen, was für Geheimnisse diese Katzen wohl untersuchen könnten.

Nachtigall trat behutsam in die ersten Pfotenstapfen des Abhangs, doch bereits mit dem nächsten Schritt wurde sie sicherer und man sah ihr an, dass sie hier schon öfters gewesen war. "Das können sie dir wohl selbst am besten erklären", rief sie Shadow über die Schulter zu, der ihr vorsichtig folgte. Warum kann sie mir nicht einmal eine vernünftige Antwort geben?

Mit klopfendem Herzen tappte der schwarze Kater den Hang hinunter, verlor jedoch wenige Schwanzlängen vor dem Ende das Gleichgewicht, rutschte auf dem glatten Sand aus und kam nur kurz vor Nachtigall zum Stehen, die ihn amüsiert musterte.

"Darf ich vorstellen", miaute sie mit einem Schritt zur Seite. "Die Gelehrten."

Vier Augenpaare richteten sich auf Shadow, doch die grünen Augen der zierlichen gelben Kätzin starrten ihn genauso schockiert an, wie er selbst aussehen musste.

Das kann nicht sein!

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