Gewissen

Fassungslos starrte Shadow die Kätzin an, die mit großen Augen aus der Gruppe heraustrat.

"Sasha?"

Ist das hier echt? Bilder zuckten wie Blitze durch die Gedanken des schwarzen Katers. Wie die roten Bestien das Lager stürmten und den Stamm der Nacht angriffen. Wie Shadow von einem der Füchse zu Boden gedrückt wurde und plötzlich die gelbe Kätzin auftauchte, um ihn zu retten. Mond, die Sasha zur Hilfe eilen wollten. Er selbst, der sie davon abhielt. Und wie der Fuchs seine Zähne in Sashas Kehle vergrub.

Der Schock von damals saß wieder in seinen Knochen, seine Beine zitterten. Vor ihm stand Sasha und sie sah so real aus, so furchtbar real. Aber das kann nicht sein, ich habe sie sterben sehen! Ich habe ihre Leiche am Boden liegen sehen! Sie ist tot! Sofort zerschlug eine Erkenntnis sein Sträuben gegen die junge Kätzin, die vor ihm stand und offensichtlich kein Produkt seines Verstands war.

Ja, sie ist tot. Deswegen ist sie hier.

Ohne nachzudenken schob Shadow sich an Nachtigall vorbei, sodass seine Nasenspitze fast die von Sasha streifte. Er öffnete seinen Mund und versuchte, etwas zu sagen. Er wollte sich entschuldigen, dass er ihr nicht öfter geholfen hatte, sich gegen Wolf und Natter zu wehren, dass er ihr nicht öfter so gut zugesprochen hatte, wie sie es für ihn getan hatte, dass er sie nicht retten konnte. Doch er brachte kein Wort heraus. Sein Hals war wie ausgetrocknet.

"Ich freue mich, dich noch einmal wiederzusehen." Sasha schnurrte lautstark und Shadow konnte sich nicht erinnern, sie je so glücklich gesehen zu haben.

Seine Gedanken rasten, trotzdem herrschte in seinem Kopf vollkommene Leere. Er wusste nicht, was er in diesem Moment denken sollte. Sein Herz wurde von Glücksgefühlen überflutet, aber gleichzeitig wickelte sich Trauer wie eine Schlinge um seinen Hals. Doch er konnte nicht einfach schweigend vor Sasha stehen und sie wie ein verängstigtes Kaninchen anstarren.

"Wie..." Shadows Stimme war kaum ein Krächzen, doch plötzlich strömten die Worte nur so aus ihm heraus. Sie überschlugen sich und er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt einen Sinn ergaben. "Wie kommst du hier her? Ich meine, dir wurde die Kehle durchgebissen. Oh Sasha, es tut mir unendlich leid! Wäre ich nicht so dumm gewesen, hätte Mond dich vielleicht noch rechtzeitig retten können. Ich bin Schuld daran, dass du gestorben bist! Ich bin Schuld! Es tut mir so leid!"

"Shadow." Sasha lehnte sich nach vorn und berührte seine Nase sanft mit ihrer. Ein Schauer jagte durch Shadows Körper.

"Es ist alles gut. Du hast alles richtig gemacht, ich hätte in dieser Nacht nicht gerettet werden können und wärt ihr mir zur Hilfe gekommen, wäret ihr wohl auch noch verwundet oder gar getötet worden." Sie lächelte ihn sanft an.

Ihre Worte waren tröstlich und Shadow hätte ihnen so gern geglaubt, doch er hatte zu viele Monde als der Verantwortliche an dem Tod der gelben Kätzin verbracht, um einfach so seine Sichtweise zu ändern. Sie hätte gerettet werden können, das weiß ich. Das weiß auch sie. In Sashas grünen Augen lag ein seltsames Glänzen und Shadow konnte sich vorstellen, was sie dachte. Natürlich weiß sie es, aber sie will genauso wenig über die Vergangenheit nachdenken wie ich. Zaghaft erwiderte er das Lächeln.

"Erzähl, wie bist du her gekommen?", fragte er, um ihrer beider Gedanken in eine andere Richtung zu stupsen.

Sasha beugte sich zurück, damit sie sich aufrecht hinsetzen konnte, und erklärte: "Nachdem der Fuchs...na ja, du weißt schon, bin ich für eine Weile einfach nur gefallen. Es fühlte sich an, als wäre ich in ein finsteres Loch gefallen, das mit all meinen Erinnerungen gefüllt war und ich dachte, es würde nie wieder aufhören." Ihre Augen wurden glasig. Sie starrten ins Leere und Shadow spürte, wie sie erneut in dieser Finsternis gefangen war.

"Aber irgendwann tat es das. Kurz darauf traf ich auf Nachtigall, die mich in den Stamm der Geister aufnahm", fuhr Sasha fort und sah zu der beigen Kätzin, die ihr aufmunternd zunickte. "So fand ich meine Bestimmung als Gelehrte."

"Sie ist ein wertvolles Mitglied unseres Stammes", fügte Nachtigall hinzu, woraufhin sich die junge Kätzin verlegen über das Brustfell leckte.

Ein Lächeln huschte über Shadows Gesicht. In all den Monden, in denen er mit Sasha im Stamm der Nacht gelebt hatte, hatte er sie nicht einmal wirklich glücklich gesehen. Nie hätte er gedacht, dass es den Tod brauchte, damit sie es sein konnte. Ob es Mond wohl auch so geht? Ist sie vielleicht sogar mit Sichel zusammen und lebt das Leben, das sie verdient? Für einen kurzen Moment breitete sich ein warmes Gefühl in dem Kämpfer aus und er stellte sich vor, dass seine Schwester nicht allein durch die Dunkelheit des Totenreiches wirren musste.

"Nachtigall hat mir bereits erzählt, du seist eine Gelehrte." Shadow schob seine Gedanken beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Sasha. "Wie genau erforscht du denn diese Traumwelt?"

Mit einem Lächeln wandte Sasha sich an die drei Katzen hinter sich, die dem Gespräch bis jetzt schweigend gefolgt waren.

"Das hier sind Wolke und Schuppe", miaute sie und deutete nacheinander auf eine dunkle Kätzin mit rotbraunen Pfoten und einen beigebraun-gemusterten Kater. "Sie sind ebenfalls Gelehrte. Gemeinsam testen wir die Grenzen des Traumwandelns aus und suchen Möglichkeiten, es zu präzisieren."

Schuppe neigte freundlich den Kopf. Das Schnurren in seiner Kehle klang heiser und die grauen Haare um seine Schnauze deuteten darauf hin, dass er älter als die meisten Katzen aus dem Stamm der Nacht sein musste. "Freut mich, dich endlich persönlich zu treffen, Shadow."

Shadow blinzelte überrascht. "Du kennst mich?"

"Jeder kennt dich", entgegnete Nachtigall amüsiert. "Die meisten Katzen wissen mehr von deinem Leben - das eines Wächters - als von ihrem."

Shadow sah die beige Kätzin ungläubig an. Das ist wahnsinnig! Woher wissen diese Katzen so viel über mich? Beobachten sie mich irgendwie heimlich? Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter und er musste sich zwingen, nicht sein Fell zu sträuben.

Sasha schien zu merken, wie unwohl ihm mit diesem Gedanken war. Mit einem Räuspern brach sie die Stille und deutete auf die vierte Katze der kleinen Gruppe, die sie bis jetzt noch nicht vorgestellt hatte. "Das hier ist Knochen, er ist unser Testkaninchen."

Der hellgraue Kater zuckte empört mit seinen beigen Ohren. "Testkaninchen? Ich tue euch einen Gefallen."

Schuppe stupste ihn sanft mit der Hüfte an und entgegnete: "Ärgere dich nicht, natürlich sind wir dir dankbar, dass du uns hilfst."

Knochen schnaubte wenig überzeugt. "Wenn du meinst...Willkommen hier im Wald der Schatten", fügte er mit einem Blick auf Shadow hinzu und der schwarze Kater erwiderte ihn unsicher.

"Danke"

Alle sahen nun zu Wolke, die bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte und Shadow bloß durch ihre dunkelbraunen Augen anstarrte. Etwas an ihr ließ ihn frösteln und er suchte nach einem Grund, ihrem Blick auszuweichen. Er hätte beinahe laut aufgeatmet, als die dunkle Kätzin sich von ihm abwandte. "Pass auf, dass er nichts Dummes macht", miaute sie zu Nachtigall, drehte sich um und tappte davon.

Ich soll nichts Dummes machen? Ich bin doch kein Junges. "Habe ich etwas falsch gemacht?" Shadow blickte die anderen Katzen fragend an und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie Wolke ihn mit ihren Worten verletzt hatte.

Sasha legte ihm aufmunternd die Schwanzspitze auf die Schulter. "Keine Sorge, Wolke ist eine sehr in sich gekehrte Katze. Nimm es dir nicht zu Herzen, wenn sie etwas schroff ist."

"Genau" Nachtigall trat einen Schritt nach vorn und Shadow sah zurück zu der beigen Kätzin. "Der Sonnenuntergang naht, wir sollten uns auf den Weg machen." Sie nickte den Gelehrten zum Abschied zu, ehe sie mit einem "Komm mit" den Anstieg aus der Kuhle begann. Shadow blickte zu Sasha, die ihm aufmunternd zulächelte. Ich kann doch nicht einfach gehen, wir haben uns doch gerade erst wiedergesehen. Ich darf sie nicht noch einmal allein lassen.

Die Kätzin schien seine Gedanken zu erraten, denn sie stupste ihn leicht mit der Nasenspitze an. "Geh schon, wir sehen uns wieder."

Er sah sie einen Moment dankbar an, ehe er den drei Katzen mit dem Schweif zum Abschied wunk und hinter Nachtigall herlief. Danke, dass du mir verzeihen konntest. Ich hoffe, dass ich auch eines Nachts dazu fähig sein werde.

Der Rückweg zu dem "Aufwachbaum", wie Nachtigall ihn nannte, fühlte sich deutlich länger an. Shadows Kräfte ließen nach und mit jedem Schritt sehnte er sich mehr danach, seine Augen zu schließen und bis zum nächsten Neumond zu schlafen. Bitte lass mich nicht genauso müde sein, wenn ich aufgewache. Doch er wusste, wie unwahrscheinlich das war. Er hatte zu oft mit Kralle trainiert, um zu denken, Schlaf wäre gleich Schlaf.

Er war dankbar, als Nachtigall ihn mit ihren Worten von seiner Müdigkeit ablenkte und ihn daran hinderten, mit verschlossenen Augen gegen einen Baum zu laufen.

"Denk daran, du darfst niemandem von diesen Ort oder Sasha erzählen", schärfte sie Shadow erneut ein.

"Werde ich nicht, keine Sorge." Ich werde all die Lügen aufrechterhalten, bis...Wer weiß schon, wann es soweit sein wird? Vielleicht nehme ich dieses Geheimnis mit in den Tod. Der schwarze Kater musste schlucken. Würde er es so lange aushalten können? Allein?

_____

"Bei dieser Kälte frieren meine Pfoten noch ab!" Donner, der die Grenzpatrouille anführte, bohrte seine Krallen in den gefrorenen Boden und brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Shadow musste dem dunkelgrauen Kater zustimmen. Zwar hatte er sein Fell aufgestellt, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, doch wirklich helfen tat es nicht. Jeder Teil seines Körpers fühlte sich an, als wäre er von einer Schicht aus Eis umschlossen.

Dark, die an Shadows Seite lief, beschleunigte ihre Schritte, um zu Donner aufzuholen. "Je mehr wir uns beeilen, umso schneller sind wir wieder im Lager", miaute sie und wartete auf Donners Reaktion, der zustimmend nickte.

"Gut, dann lasst uns etwas schneller laufen."

Shadow musste sich anstrengen, mit den beiden Katzen mitzuhalten und war dankbar dafür, dass sie mit dem Rücken zu ihm liefen und ihn nicht sehen konnten.

Er fand es beeindruckend, was für einen geringen Unterschied Darks Kämpferernennung machte. Die schwarze Kätzin hatte schon immer einen starken Willen gehabt und war bereits als Lehrling dafür respektiert worden. Obwohl sie älter als ich ist, durfte sie erst letzte Nacht ihre Prüfung ablegen. Das ist nicht fair. Ich wurde bloß Kämpfer durch einen Mord, meinen ersten Mord. Bei diesem Gedanken zog sich Shadows Brust zusammen und für wenige Herzschläge fühlte er sich davon überwältigt, wie viel in den letzten Monden geschehen war.

Auf einmal wehte der Wind ihm einen fremden Geruch in Nase. Die anderen mussten ihn auch wahrgenommen haben, denn sie stoppten und drehten ihre Köpfe in Richtung des Flusses. Shadow versuchte, ihrem Blick zu folgen.

"Der Stamm des Lichts." Donner knurrte. Tatsächlich stand nicht weit von ihnen entfernt eine Patrouille des feindlichen Stammes und starrte zu ihnen herüber.

Shadows Herz schlug schneller. War Joel unter ihnen?

Er hatte den Kater seit jener Nacht nicht mehr gesehen und fragte sich, ob er ebenfalls mit einer Lüge leben musste oder es seinen Stammesgefährten erzählt hatte. Seine Aufregung vermischte sich mit Panik. Wenn Joel ihnen alles gebeichtet hatte, würde die Grenzpatrouille des Stammes des Lichts sie darauf ansprechen? Welchen Grund sollten sie dazu haben?, versuchte Shadow sich zu beruhigen und schnippte mit dem Ohr, als könnte er so seine Gedanken abschütteln.

Dennoch kam der schwarze Kater nicht umhin, nach Joel Ausschau zu halten. Enttäuscht musste er feststellen, dass er sich nicht unter den vier Katzen auf der anderen Seite des Flusses befand.

"Wir sollten warten, bis sie weitergezogen sind", gab Dark zu bedenken und rümpfte verächtlich die Nase. "Nicht, dass sie wieder auf die Idee kommen, einfach unser Territorium zu betreten."

Donner nickte, wandte den Blick jedoch nicht von der Patrouille ab. "Sollten sie auch nur einen Schritt über die Grenze machen..."

Er brauchte den Satz nicht beenden. Der dunkelgraue Kater war vielleicht nicht besonders laut und auffällig wie Klaue oder Tornado, doch niemals würde Shadow ihn in einem Kampf als Gegner wollen. Wohlmöglich ist es besser, dass Joel nicht hier ist. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, war er sich nicht sicher, ob er ihn ohne zu zögern angreifen könnte. Und jeder Herzschlag, in dem er sich nicht auf einen feindlichen Kater stürzte, würde unnötige Fragen aufwerfen.

Zu Shadows Erleichterung musterte eine der Katzen, eine stämmige Kätzin mit langem rotbraunen Fell, sie noch einmal abschätzend, ehe sie den anderen ein Zeichen gab und die Patrouille im Schutz der Bäume verschwand.

"Wie ungewöhnlich, sie nachts zu sehen", sprach Dark ihre Gedanken laut aus. "Normalerweise patrouillieren sie doch, während wir schlafen."

"Feiglinge", war Donners Antwort. "Erst unsere Katzen angreifen und sich dann so aufspielen, als wären wir hier die Flohpelze. Düster hat recht: Ein Kampf wird ihnen zeigen, wo sie wirklich hingehören."

Shadow bohrte seine Krallen in die Erde und hoffte, nicht so unbehaglich auszusehen, wie er sich fühlte. Er musste einfach mit jemandem reden. Ob ich mich irgendwie mit Joel treffen kann? Ich schulde ihm eh noch eine Erklärung. Nur wie? Plötzlich kam dem schwarzen Kater eine Idee. Nachtigall kann mir bestimmt helfen! Immerhin hat sie schon einmal zuvor mit Joel gesprochen, also wird sie bestimmt noch ein zweites Mal dazu fähig sein.

Vorfreude prickelte in Shadows Pfoten, als die drei Katzen ihre Runde fortsetzten.

Bald.

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