Geister der Vergangenheit
»Geister der Vergangenheit« (Schreibvorlage von @WattpadActionDE für #New Year, New You 2023)
Der erste Januar fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Regen platschte auf die Straße. Das prasselnde Geräusch hatte mich aufgeweckt. Sonst war es still in der Wohnung. Das neue Jahr begann genauso unspektakulär, wie das alte geendet hatte. Es gab nur mich und die Gedanken in meinem Kopf. Und Cocky, meinen dreijährigen Cocker Spaniel. Zugegeben, bei der Namenswahl war ich nicht besonders kreativ, aber zu meiner Verteidigung, ich steckte in einer Krise, als er zu mir kam. Dass ich immer noch in dieser Krise stecke, gestehe ich mir nicht laut ein. Aber wer mit fünfundzwanzig den Silvesterabend allein mit seinem Hund verbringt, der macht etwas verkehrt im Leben. Ich würde das gern ändern, aber ich weiß nicht wie. Zu meinen alten Freunden habe ich schon lange keinen Kontakt mehr und eine Familie habe ich nicht mehr besessen, seit–
Cocky merkt, dass ich wach bin, springt auf und winselt vor der Tür herum.
„Ich komme ja schon", rufe ich ihm zu, würge meine Gedanken ab und ziehe mir die Strickjacke an. Da ich in meiner Jogginghose geschlafen habe, kann ich genauso vor die Tür gehen, wie ich bin. So früh wird heute sowieso niemand unterwegs sein, aber zur Sicherheit ordne ich meine Haare und binde mir einen frischen Pferdeschwanz. An der Tür beuge ich mich zu Cocky hinunter und wuschle ihm durch sein schwarzes Fell, bevor ich ihm die Leine anlege. Er freut sich und zeigt es mir, indem er wild mit dem Schwanz wedelt.
Wenigstens einer in diesem Haushalt, der in der Lage ist, Freude zu empfinden. Ich werfe einen kurzen Blick in den Spiegel neben der Tür. Ein blasses Gesicht, eingerahmt von fahlen aschblonden Haaren, schaut mir entgegen. Meine grauen Augen wirken müde, obwohl ich kurz nach dem Feuerwerk zu Bett gegangen bin. Kein Lachen liegt auf meinen Lippen, noch nicht einmal ein Lächeln bringe ich zustande. Irgendwie habe ich irgendwann verlernt, wie das geht.
Dabei habe ich mir vorgenommen, dass neue Jahr ein wenig gelassener anzugehen, aber es will mir nicht gelingen. Das Jahr ist jung, denke ich mir, noch genug Gelegenheit, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Cocky springt vor der Tür auf und ab. „Ja, ja, bin ja gleich soweit", rufe ich ihm zu. Er hat Bedürfnisse, die er am Laternenpfahl vor der Straße erledigen möchte.
Ein kalter Windhauch bläst mir entgegen, als ich die Tür öffne und ich bereue sofort, nicht meine Mütze aufgesetzt zu haben. Sie würde auch den Regen aufhalten, der mir in die Augen peitscht. Es ist ganz feiner Sprühregen der widerlichsten Sorte. Cocky scheint das nicht zu stören bei seinem dichten Fell, er zieht sofort nach draußen. Auf dem Weg vor der Haustür liegen bereits aufgeweichte Pappreste einiger Raketenbatterien, ein paar nasse Zigarettenstummel und Glasscherben. Überreste eines Silvestergelages, das ohne mich stattgefunden hat. Wenigstens hat der Regen den Gestank von Schwarzpulver und Rauch längst mit fort gewaschen. Die Luft riecht klar und rein. Ich hatte Recht und keine Menschenseele ist zu dieser Zeit draußen, vor allem bei diesem Wetter.
Cocky zieht an der Leine in Richtung seiner Lieblingslaterne. Ich mache einen Schritt und muss einer Raketenhülse ausweichen. Cocky scheint etwas Interessantes zu riechen und zerrt, ich gerate aus dem Tritt, stolpere, kann mich aber gerade noch abfangen. Dann– ... dreht sich die Welt. Ich merke, wie sich mein Sichtfeld langsam trübt, mir schwarz vor Augen wird. Mit einem Mal kann ich nichts mehr sehen. In meinen Ohren rauscht es. Ich verliere doch den Halt, sinke zu Boden, als jemand nach mir greift. Cocky, denke ich. Cocky! Cocky? Ich weiß nicht, ob ich seinen Namen laut rufe. Er muss sich losgerissen haben oder ich muss die Leine losgelassen haben. Ich sitze. Aber ich bin nicht allein. Jemand redet. Ich verstehe kein Wort. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich schlage die Hände vor die Stirn, massiere mir die Schläfen. Hinter meiner Stirn breiten sich pochende Kopfschmerzen aus. Aber Cocky– ich muss...
Ich blinzle gegen den Schmerz an, bis sich der Nebel langsam lichtet.
Eine schwarze Gestalt steht vor mir. Allmählich erkenne ich ihre Umrisse, ihr Gesicht. Ich kenne sie. Es ist ein Geist aus meiner Vergangenheit.
Ich stöhne, verschließe die Augen mit meinen Händflächen und lasse mich zurücksinken.
„Jasmin! Hör mir zu!"
Ich sehe nicht nur Gespenster, ich höre sie auch noch reden. Ich ziehe meine Hände von den Augen und presse sie auf meine Ohren. Der Geist in Gestalt meiner Mutter redet weiter. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt, Worte formt, die aber nicht bis zu mir durchdringen. Sie trägt eine schwarze, knöchellange Steppjacke und schwarze Stiefeletten. Jetzt beugt sie sich zu mir hinunter, berührt mich an der Schulter. Ich zucke zusammen. Ich spüre die Berührung. Ich spüre Gespenster!
Sie zieht die Hand zurück, redet weiter und ich schaue zu, wie ein taubstummer Beobachter.
Ihre Augen sind genauso blau, wie ich sie in Erinnerung habe. Vielleicht sind es ein paar mehr Falten, die sich um die Augenwinkel ziehen. Die Haare sind definitiv nicht mehr so dunkel, wie zu meiner Kindheit. Graue Strähnen haben sich unter das Schwarz gemischt, aber es ist dieselbe strenge, nach hinten gekämmte Frisur. Es ist die Gestalt meiner Mutter.
Ich seufze. Gelassenheit. Ich wollte gelassener reagieren.
„Also gut, Jasmin", rede ich mir selbst Mut zu. „Augen zu und durch." Beziehungsweise in diesem Fall Augen auf und Ohren ebenso.
„Jasmin!", sagt die Gestalt meiner Mutter. „Bitte komm mit!"
„Was?"
„Bitte komm mit mir mit!" Die Dame, die aussieht wie meine Mutter, es aber nicht sein kann, weil meine Mutter seit fünf Jahren tot ist, deutet auf eine schwarze Mercedes-Limousine, die am Straßenrand vor meiner Wohnung parkt. Mein Blick schweift über den schwarzen Lack und die getönten Scheiben.
„Wohin sollte ich denn gehen? Und warum?"
Irgendetwas stört mein Bewusstsein. Dass der Regen mich durchweicht, registriere ich kaum. Nicht einmal, dass ich auf der kalten Steintreppe sitze und der dünne Stoff meiner Jogginghose längst nass ist. Ich kann gerade keinen klaren Gedanken fassen, mein Mund redet auf Autopilot.
„Mit zu mir. Nach Hause. Ich kann mich um dich kümmern. Bitte."
Ich registriere die Worte am Rande meiner Wahrnehmung. Der Himmel ist grau und ich fühle mich taub.
„Mein Zuhause ist hier."
„Jasmin bitte. Das hier ist kein Ort zum Leben." Der Geist meiner Mutter streckt erneut die Hand nach mir aus, dieses Mal bleibt sie aber auf Abstand, wartet, dass ich reagiere.
Ich betrachte die Hand keine zwanzig Zentimeter vor meinem Gesicht. Die manikürten Fingernägel sind mit Klarlack überzogen. Am Ringfinger trägt sie einen goldenen Ring mit Stein, der mir von einer anderen Hand sehr vertraut ist. „Du trägst Papas Ring", stelle ich fest. Ihr Blick fällt auf ihre Hand. Sie nickt. „Ich trage ihn, seit er gestorben ist." Ich höre, wie traurig sie bei diesen Worten klingt.
„Du bist auch für mich gestorben", höre ich mich sagen. Ich klinge müde. „Seitdem du vor fünf Jahren fort gegangen bist."
„Jasmin bitte, lass uns im Flugzeug reden. Jetzt ist keine Zeit dafür. Nicht hier." Sie schaut nach oben. Dann wieder zu dem schwarzen Auto. Ich stehe auf. Meine Beine fühlen sich an wie Blei. Gelassenheit, denke ich mir, als ich ein paar Schritte in ihre Richtung mache. Sie fängt mich auf. Für einen Geist fühlt sie sich ziemlich solide an. Sie riecht sogar vertraut. Nach demselben Parfum und Waschmittel, welches mich augenblicklich in das Gefühl meiner Kindheitstage zurückkatapultiert. Damals, als die Welt noch aus einer unbeschwerten, heilen Mutter-Vater-Kind-Familie bestand.
Mit dem Geruch bröckelt all meine Willenskraft. Ich lasse mich zum Auto ziehen.
„Manfred fährt uns zum Jet. Wenn wir erst einmal in der Luft sind, wird alles gut. Du wirst schon sehen. Komm nach Hause, Jasmin."
Jedes ihrer Worte ist von einem Schritt begleitet, der mich näher zu der Limousine bringt, jede Silbe lullt mich tiefer ein.
Wir sind schon fast da. Der Fahrer öffnet die Tür. „Halt!" Ich versteife mich, reiße mich los. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich. „Cocky! Ich kann nicht! Ich kann Cocky nicht allein lassen!"
Aber mein Hund ist nirgendwo zu sehen. Entsetzen packt mich. Jetzt verstehe ich, welcher Gedanke die ganze Zeit am Rand meines Bewusstseins genagt hat. „Cocky!" Mein Schrei gellt durch die Straße. Die Straße! Wenn er in seiner Aufregung über die Straße rennt. „Cocky!" Meine Stimme überschlägt sich. Ein paar Blocks weiter ist die Schnellstraße, die Bahngleise direkt dahinter.
„Cocky! Cocky! Wo bist du?"
Irgendwo in der Nachbarschaft wird ein Fenster geöffnet. Jemand ruft etwas. Meine Mutter redet eindringlich auf mich ein. „Jasmin, beruhige dich. Cocky ist hier!"
Mutter packt mich von der einen Seite, der Fahrer, der inzwischen ausgestiegen ist, greift meine andere Seite. Gemeinsam und unter meinem Protest manövrieren sie mich zum Auto. „Mach bitte keine Szene, Jasmin. Lass dir helfen", beschwichtigt mich meine Mutter.
Erst als ein vertrautes Bellen ertönt, verstumme ich. Ich lausche. Es stammt eindeutig von Cocky. Und es kommt aus dem Inneren des Wagens. Nur deshalb lasse ich mich hinunterdrücken und auf die Rückbank verfrachten, wo mein geliebter Hund im Fußraum sitzt. Er legt sofort seinen Kopf in meinen Schoss und ich lasse meine Finger durch sein weiches, vertrautes Fell gleiten. Der Geist meiner Mutter setzt sich neben mich. Der Fahrer steigt vorne ein. Der Wagen wird angelassen. Der Mercedes fährt los.
Jetzt ist es endgültig, ich bin eingestiegen, aber Cocky ist bei mir. Alles wird gut.
Erst jetzt merke ich, dass es nicht mein Gedanke war, der durch meinen Kopf spukt, sondern die Worte meiner Mutter. „Alles wird gut."
Ich schaue sie an.
Ihre eisblauen Augen fixieren mich.
„Ich bringe dich nach Hause, du nimmst wieder die Tabletten und alles wird gut."
Eine Träne rinnt mir über die Wange. Der Geruch von nassem Hundefell mischt sich mit dem vertrauten Geruch nach Parfum. Es wird auf einmal alles zu viel für mich.
„Du bist gestorben!"
„Jasmin", sagt meine Mutter ruhig. „Das ist nicht echt. Das ist deine Krankheit. Du redest dir Dinge ein, die nie geschehen sind."
Ich höre ihre Worte, verstehe sie nicht.
„Du bist tot. Papa ist tot!"
Langsam sickert eine Träne aus ihren eisblauen Augen, rollt über ihre Wange. „Ja, mein Kind, Papa ist von uns gegangen, aber ich bin noch da. Lass dir helfen. Lass mich dir helfen, Jasmin."
Sie legt den Arm um mich und streicht mir über den Kopf. Meine Hand streichelt durch Cockys Fell. Ich atme tief ein. Der Geruch nach vertrautem Shampoo. Gerüche sind echt. Gerüchen kann ich vertrauen, oder?
Ich kann los lassen. Alles wird gut, oder?
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