Chapter 5
Plötzlich taucht ein kleiner Stoffhase zwischen den Metallstäben auf, und direkt daneben erscheint das Gesicht eines kleinen Mädchens. Ihre Augen wirken unnatürlich groß in der Dunkelheit. Verlegen versuche ich mir die Tränen vom Gesicht zu wischen und lächel sie leicht an, obwohl es bestimmt eher leidend aussieht.
Einen Moment zögert sie noch, dann schiebt sie ihr Stofftier zu mir und klettert in mein Bett.
„Wie heißt du?“ Ihre Stimme ist sehr leise.
„Liz, und du?“, frage ich, erstaunt, dass meine Stimme nicht bricht.
„Sofia.“
Ich betrachte sie und komme zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich drei oder vier ist.
„Warum weinst du?“, fragt sie und drückt leicht nervös ihr Stofftier.
„Ich, …ich vermisse meinen Freund. Und meinen Vater.“
„Du hast einen Vater?“ Ihre Augen werden noch größer und ich muss lächeln.
„Ja er hat mich aufgenommen, als ich von hier weggelaufen bin, das war vor vielen Jahren“, erzähle ich ihr.
Sie rutscht ein Stück näher und ich nehme sie in die Arme.
Ihren warmen Körper zu spüren gibt mir ein Hauch Sicherheit zurück und ich schließe die Augen.
„Danke, Sofie.“
„Meinst du ich bekomme auch einen Vater?“
„Bestimmt!“ Hoffe ich, denke ich und drücke sie fest an mich. Sie seufzt erleichtert und schlingt ihre dünnen Arme um mich.
Ein schriller Ton reißt mich aus dem Schlaf und ich stoße mir den Kopf an der Decke, als ich mich aufsetze. Das geht ja toll los, denke ich und rüttel vorsichtig an Sofie, die mich blinzelnd ansieht.
„Wir müssen aufstehen, sonst gibt es kein Frühstück.“ Ein grimmiges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich mich daran erinnere. Wer nicht als einer der ersten aufsteht, bekommt nichts.
Hastig kletter ich das Bett hinunter und gerade als ich ihr helfen will, ist sie schon neben mir. Zusammen gehen wir in den Speisesaal, wo schon relativ viele Kinder sind und sich auf das gerade hingestellte Essen stürzen. Mein Magen knurrt und ich dränge mich durch das immer dichter werdende Gewühl nach vorne durch. Sofie hat nicht so viel Glück. Das andere Mädchen ist auch schon da, schnappt sich einen Teil des Essens und verschwindet in eine Ecke. Ich versuche möglichst Gewaltfrei an etwas dran zu kommen und schaffe es schließlich drei Scheiben Brot, etwas Käse und Wurst zu ergattern. Mit erhobenen Händen drücke ich mich dann durch die Menge zurück, damit mir niemand was stibitzen kann. Unterwegs begegne ich Sofie, die gerade von ein paar Jungen zur Seite gestoßen wird.
„Komm mit, ich habe für uns beide“, rufe ich ihr über den Tumult zu und deute in eine noch leere Ecke, als ich merke, wie einer der größeren Jungen nach meinem Essen greift.
„Hey, Finger weg“, brumme ich und nehme die Hand schnell noch etwas höher. Als Sofia und ich in der Ecke sind gebe ich ihr eine Brotscheibe, belegt mir Wurst und Käse.
Hastig schlingt sie es herunter, ehe ich protestieren kann. So macht man das eben, wenn man überleben will. Ich kaue an meinem Brot, als ich ihren gierigen Blick bemerke.
„Da.“ Ich gebe ihr noch die dritte Scheibe, die ich eigentlich unter uns aufteilen wollte, doch sie hat es nötiger als ich.
Zufrieden, aber immer noch hungrig schlucke ich den Rest meines Frühstücks hinunter, als ich die beiden Männer sehe, die auf mich zukommen.
„Mitkommen!“, raunzt der eine mich an, doch sicherheitshalber werde ich noch an beiden Armen gepackt. Stimmt, ich sollte heute verkauft werden. Mein Magen zieht sich zusammen.
„Pass auf dich auf“, sage ich noch zu Sofia, als ich an ihr vorbeigeschleppt werde. Sie winkt mir ängstlich hinterher.
Ich werde in Frau Kingstons Büro gebracht, dort ist auch schon das andere Mädchen. Wird sie etwa auch verkauft? Doch meinem neugierigen Blick weicht sie stumm aus.
Direkt hinter mir kommt ein groß gewachsener Mann hinein. Er trägt eine ordentlich gebügelte Hose, die zu einem sehr schnieken Anzug gehört. In seiner Tasche steckt eine goldene Taschenuhr die gerade so weit hinausragt, dass sie nicht rausfällt, aber sehr gut zu sehen ist.
Seine schmalen Augen mustern mich und das Mädchen neben mir interessiert.
„Willkommen …“ Frau Kingston scheint noch etwas sagen zu wollen, lässt es dann allerdings bleiben.
„Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei. Ihr seid heute adoptiert worden!“
„Sie meinen wohl verkauft!“, raunze ich ungehalten, verschränke die Arme vor der Brust und bekomme einen Stoß in den Rücken. Der Mann sieht mich aufmerksam an, jedoch kann ich in seinem Gesicht keine Regung erkennen.
„Ach, hören Sie nicht auf sie. Elizabeth ist nur aufgeregt.“ Frau Kingston starrt mich mit ihrem Blick gerade zu nieder. Ich knirsche mit den Zähnen. Wie ich diesen Namen hasse! Er verbindet mich mit all diesen schrecklichen Erinnerungen.
„Also, das ist Elizabeth. Wirklich gut ausgebildet und ein reizendes Mädchen. Die mit den braunen Haaren ist Finja. Für meinen Geschmack ein sehr seltsamer Name, aber nun ja. Das ist … ähm, der Mann, der euch adoptiert hat.“ Sie setzt wieder ihr Lächeln auf. Irgendwie kommt es mir so vor, als wolle sie vermeiden seinen Namen auszusprechen.
Der Mann bekommt ein paar Papiere in die Hand gedrückt, und gibt eins davon, nachdem er es unterschrieben hat wieder Frau Kingston zurück.
„Hier.“ Er drückt ihr zweitausendfünfhundert Euro in die Hand.
„Aber“, sie wirft uns einen kurzen Blick zu. „Ich habe doch viertausend gesagt. Die beiden sind wirklich gut.“
Empört mache ich den Mund auf, schließe ihn jedoch wieder. Verhandeln die jetzt etwa über unseren Preis?!
„Viertausend? Wissen Sie wie viel das ist? Dreitausend!“ Er gibt ihr weitere Scheine.
„Vier!“
„Drei!“
„Vier!“
„Dreitausendfünfhundert, mein letztes Angebot!“
„Vier.“ Frau Kingston sieht ihn kühl an.
„Langsam regen Sie mich auf, ich habe nicht den ganzen Tag zeit! Von mir aus vier.“ Er gibt ihr den Rest und dreht sich finster aussehend zu uns um.
„Und jetzt los! Ins Auto.“ Der Mann macht eine wedelnde Handbewegung und die beiden Typen packen Finja und mich. Einen Moment bin ich wie erstarrt, dann strample ich und versuche zu kratzen.
„Ein Jammer, dass die heute schon gekauft wurde! Ich würde sie am liebsten mal richtig zerschlagen!“, knurrt der eine und schubst mich gegen die Wand.
Finja hält ganz still, stolpert einfach mit, als wäre nichts besonderes passiert. Ich werfe ihr einen verständnislosen Blick zu und trete wieder mit aller Kraft zu. Dafür werde ich an den Haaren gepackt und grob nach draußen ins Sonnenlicht geschleift. Für einen Moment kneife ich die Augen zusammen und versuche die Tränen zurück zu drängen, die sich durch den ziehenden Schmerz in meinen Haaren in meinen Augen gebildet haben und sehe eine schwarze Limousine.
„Da rein!“, befiehlt der Mann und geht mit großen Schritten auf das riesige Ding zu, Finja und ich werden hinter her geschleift. Hinter der Limousine hält ein schwarzer Van. Erst will ich meinen Augen nicht trauen, dann schreie ich vor Freude auf.
Der Van hält an und Nico springt heraus, auf der anderen Seite reißt Mate die Tür auf und rennt los.
Die beiden Typen reagieren schnell, ich werde am Kragen und weiterhin an den Haaren gepackt und zur Tür der Limousine geschleift, der reiche Mann steigt gerade ein.
„Mate! Nico!“ Meine Stimme überschlägt sich vor Freude. Die beiden rennen auf mich zu, die Tür wird hinter uns geöffnet, Finja wird brutal hineingestoßen, dann schleudern sie mich gegen die Öffnung. Plötzlich bekomme ich Angst.
„Hilfe. Bitte!“ Ich schreie. Im nächsten Moment liege ich hinten in der Limousine, die Tür mit den getönten Scheiben fliegt zu, gerade als die beiden das Auto erreichen.
Nicos Körper ist deutlich zu sehen, als er sich gegen die Tür wirft, ich sehe sein Gesicht, doch weiß genau, dass er mich durch diese dummen Spezialscheiben nicht sehen kann.
„Liz!“ Mates Stimme dringt gedämpft in das Innere des Wagens, als die Limousine losfährt.
„Nico! Nico, Mate, bitte!“ Tränen laufen mir über die Wangen, ich rüttel am Türgriff, doch sie lässt sich nicht öffnen.
Einen Moment stehen die beiden wie erstarrt da, dann sprinten sie zum Van zurück.
Durch das Rückfenster sehe ich, wie der Van losfährt, bevor Nico richtig drinnen sitzt. Nur am Rande nehme ich war, wie die beiden Typen wieder zurück ins Waisenheim gehen, als wäre nichts passiert.
„Los, schneller!“, rufe ich, obwohl mich Mate und Nico nicht hören können. Schnell wische ich mir über die Nase und trommel mit den Fäusten auf das Leder.
Die Limousine wird immer schneller, überall ist hupen und empörte Schreie zu hören, als sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnt, doch den schwarzen Van kann sie nicht abhängen. Dann sausen wir an einer roten Ampel vorbei, Autos bremsen mitten auf der Kreuzung ab, das Hupen klingt unangenehm schrill in meinen Ohren.
„Bitte nicht, bitte nicht“, murmel ich, doch da schießt der Van uns auch schon hinter her, nimmt die Kurve und holt wieder auf.
Von vorne sind durch die Glaswand gedämpfte Stimmen zu hören.
„Fahren Sie schneller, Sie Idiot. Für was bezahle ich sie eigentlich?“
„Los, dass schafft ihr. Ja!“, feuer ich Mate und Nico an und hopse auf dem breiten Sitz herum. Erst jetzt bemerke ich Finjas erstaunten, seltsamen, aber auch ein wenig verbitterten Gesichtsausdruck. Fragend drehe ich mich zu ihr um, doch sie sieht weg.
Plötzlich werde ich nach rechts und dann gleich wieder nach links geschleudert, brauche einen Moment um mich wieder orientieren zu können.
Als ich an die Rückenlehne geklammert nach draußen sehe, stelle ich fest, dass die Limousine gerade über einen Bahnübergang gefahren ist, und direkt hinter ihr die Schranken runter gehen. In dem Moment höre ich ein Splittern und hohes Kratzen. Die zweite Schranke hat das Dach getroffen.
Entsetzt sehe ich zu dem schwarzen Van, der erst noch beschleunigt, doch dann unvermittelt abbremst und stehen bleibt.
Nein! Ich schlage mit den Fäusten gegen das Glas, kämpfe gegen die aufkeimende Angst. Dann biegt das Auto um eine Kurve und der Bahnübergang samt den beiden Menschen, die mir am wichtigsten geworden sind, verschwindet.
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