Chapter 30

Ein etwas älterer Mann lehnt sich weiter nach vorne an Finja vorbei, die sich gerade den nächsten Bissen in den Mund schiebt.

Er scheint so etwas wie der Boss der anderen zu sein, zumindestens hören ihm die anderen aufmerksam zu.

Erschrocken hebe ich den Kopf und zucke erneut zusammen, als ich den wachsamen Blick meines Nachbarn bemerke.

Schnell schenke ich ihm ein unschuldiges Lächeln, das auch nur genau die zwei Sekunden anhält, die ich ihn ansehe.

Moralez Blick wird eiskalt. „Ich weiß.“

Ein grimmiges Lächeln schleicht sich auf die Gesichter der Männer.

„Nun ja. Tragischer Unfall.“

„Sehr tragisch“, sagt Moralez kaum hörbar.

Mir schwirren so viele Fragen im Kopf herum, doch ich wage es nicht, auch nur eine auszusprechen. Plötzlich merke ich, wie einer der Männer immer wieder seltsame Blicke zu Finja wirft.

Schnell trete ich sie unter dem Tisch.

Erstaunt sieht sie auf, jedoch erst zu Moralez und dann zu mir.

Unsere Blicke treffen sich und sie kaut erleichtert weiter. Fast unmerklich schüttel ich den Kopf und deute auf meinen Teller.

Sie legt den Kopf leicht schief und schiebt sich den nächsten Löffel in den Mund. Am liebsten würde ich mir die Hand vor die Stirn schlagen, aber das wäre wohl mehr, als nur etwas auffällig.

„Du hast wohl einen ziemlich großen Hunger, Mädchen“, sagt der Mann, der ihr schon die ganze Zeit Blicke zugeworfen hat. Finja und ich erstarren und Herr Moralez hebt den Kopf.

Nach zwei Ansätzen hat es Finja geschafft, den Bissen hinunter zu schlucken.

„Ähm …“

„Wir haben heute Mittag nicht so viel gegessen“, werfe ich schnell ein.

„Oh, ich denke Sie sind reich?“, meint der Mann neben mir an Moralez gewandt.

„Da hatte sie noch keinen Hunger, Sie wissen ja, wie Kinder sind“, lacht Herr Moralez künstlich.

Wütend sehe ich ihn an, doch senke schnell beschämt den Kopf, als sein tödlicher Blick mich trifft.

„Das Essen ist einfach zu gut“, meint Finja und versucht ein Lächeln.

Das scheint die Laune zumindestens etwas zu heben.

„Vielen Dank.“ Einer der Männer, der noch nichts gesagt hat, nickt freundlich. Finja fängt an zu strahlen.

„Wie alt seid ihr eigentlich?“, will dann der Mann neben mir wissen.

Mit einem unguten Gefühl drehe ich mich zu ihm um, doch er lächelt freundlich.

„Ich bin … siebzehn.“

„Siebzehn?“

„Haha.“ Moralez drückt meinen Arm etwas zu fest. „Sie würde gerne siebzehn sein, dabei ist sie erst dreizehn.“

Dreizehn?, denke ich und kann mich gerade noch beherrschen, ihn nicht wütend anzublitzen.

„Dann muss sie ja kurz, nachdem Sie hier so plötzlich verschwunden sind, auf die Welt gekommen sein“, bemerkt der Mann und streicht sich wieder über die Krawatte.

Herr Moralez nickt misstrauisch.

„Er hat uns nie erzählt, dass er schon mal hier war“, plauder ich gelassen und genieße den warnenden Blick von Herr Moralez. Ha, das hat er jetzt davon.

„Das ist schade. Wir haben ihn richtig vermisst“, sagt der Mann und grinst mich an.

„Ah, gute Freunde was?“

„Sicher. Die Zeit war zum Sterben schön.“

Obwohl er immer noch lächelt, habe ich das ungute Gefühl, das er es wörtlich meint.

Dann sollte ich wohl besser das Thema wechseln.

Doch bevor ich mit irgendetwas Dummen versuchen kann, auf eine etwas ungefährlichere Schiene zu kommen sagt Herr Moralez: „Haben Sie schon von der Bankenkrise gehört?“

„Welche Bankenkrise?“, fragt der ältere Mann und wirft einen leicht irritierten Blick, zu der immer noch essenden Finja.

Ich muss leise kichern, worauf mich alle ansehen.

„Na ja, die im Moment allen Geschäftsmännern Schwierigkeiten bereitet“, sagt Herr Moralez und lenkt damit Gott sei Dank, die Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Davon haben wir nichts mitbekommen“, bemerkt ein anderer und verschränkt die Arme vor der Brust.

Wir? Sind die etwa eine Gruppe oder Firma?

Ich werfe Herr Moralez einen Blick zu und merke, dass er fieberhaft nach einer Antwort sucht. So langsam scheint er nicht mehr ganz so sicher zu sein. Ein paar Haarsträhnen haben ihre ursprüngliche Form verlassen und verleihen ihm ein nicht mehr ganz so eindrucksvolles Aussehen.

„Ähm, wie heißt denn Ihre Firma?“, frage ich und frage mich im selben Moment, warum ich ihm eigentlich helfe.

Sofort starren mich alle an.

„ZOS“, erwidert der Mann neben mir. Ich werfe einen Blick auf seine blutrote Krawatte und schlucke. Das kann ja für alles stehen.

„Und … für was steht das?“, frage ich weiter und springe damit weiter auf dem eh schon dünnen Eis herum.

„Zahl oder stirb“, murmelt Moralez und der Mann neben mir lacht ein kaltes, grausames Lachen.

Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter und selbst Finja lässt ihre Gabel sinken und sieht plötzlich entsetzt aus.

Entsetzen macht sich in mir breit, als ich ihren Blick bemerke. Doch sie sieht nicht mich an, sie schaut an mir vorbei.

Hektisch werfe ich einen Blick über die Schulter und bemerke zum ersten Mal die beiden Männer neben der großen Tür. Sie haben die Statue von Schränken und sehen sehr grimmig drein, die Arme sind vor der Brust verschränkt.

Der Mann mit der blutroten Krawatte dreht mich wieder zu sich um und ich erstarre bei seiner Berührung. Will er mich jetzt umbringen?

„Es ist eigentlich die Abkürzung von seinem Namen“, erklärt er und deutet auf den älteren Mann.

„Und ich heiße nicht, Zahl oder stirb“, fügt der hinzu und sein finsteres Lächeln wird noch dunkler. „Obwohl das natürlich nicht schlecht wäre.“

„Ich habe Ihnen doch schon hundertmal gesagt, dass die Bank es noch nicht hat“, sagt Moralez mit kalter Stimme und wirft ihm einen unfreundlichen Blick zu.

„Die Bank muss ja ganz schöne Probleme haben“, antwortet er ironisch und beugt sich wieder ein Stück vor.

„Es sieht gerade nicht gut aus“, knurrt Moralez zurück.

„Gerade?“, faucht der Mann neben mir und durch seine dunkle Stimme klingt das noch Furcht einflößender. Ich zucke ein Stück zurück. „Das erzählen Sie uns seid fünfzehn Jahren!“

Überrascht sehe ich Moralez an. Seine Hände liegen auf dem Tisch, sind jedoch angespannt.

Kann es sein, dass er uns etwas verheimlicht hat? Oder besser gesagt, ziemlich viel? Nach einem einfach Essen mit Arbeitskollegen sieht mir das hier nämlich gar nicht mehr aus.

Moralez und die Männer starren sich an, wobei Herr Moralez deutlich unterlegen ist.

„Herr Fernando Campillo Moralez“, sagt der ältere Mann und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, wobei er die Arme auf dem Rücken verschränkt. Ihm scheint der Name nichts auszumachen, zumindestens lässt er sich nichts anmerken.

„Ich habe das Gefühl, das Sie unsere Bedingungen nicht mehr so ernst nehmen.“

Herr Moralez sieht ihn mit eiskalten Augen an, sagt jedoch nichts.

„Sie erinnern sich bestimmt noch an unser Gespräch. Und deswegen sollte Ihnen klar sein, dass Sie in Schwierigkeiten stecken“, fährt der Mann fort, ohne zu blinzeln.

Möglichst unauffällig reibe ich mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben.

„Nun, andererseits sollten Sie wissen, dass ich nicht einfach Geld aus dem Ärmel zaubern kann“, entgegnet Herr Moralez ruhig.

„Langsam gehen Sie mir auf die Nerven“, knurrt der Mann. Plötzlich zieht der Mann neben mir eins der beiden Hähnchen zu sich heran und zieht mit einem leise reißenden Geräusch das Messer heraus.

Ich zucke zusammen und werfe Herr Moralez einen schnellen Blick zu.

Sein Blick ist auch zu dem Mann mit der roten Krawatte geschossen, wandert dann allerdings wieder zu dem älteren zurück.

Fassungslos sehe ich ihn an. Interessiert es ihn nicht, dass der Kerl gerade ein ziemlich großes Fleischermesser gezückt hat?

„Alles in Ordnung?“, fragt mich in dem Moment der Mann und schneidet ein Stück Hähnchen ab.

Ich schrecke erneut zusammen und werfe ihm einen hoffentlich nicht zu ängstlichen Blick zu.

Zaghaft nicke ich dann, doch mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren.

Irgendwie muss ich es schaffen, dass er das Messer weglegt.

„Ähm, darf ich mir auch etwas abschneiden?“, frage ich unsicher und strecke meine Hand nach dem Messer aus. Alle sind mit Herr Moralez und dem älteren Mann – wahrscheinlich wirklich dem Anführer – beschäftigt, unser kleines Gespräch bekommt niemand mit.

„Aber mach dir doch keine Mühe, warte … ich mache das für dich“, erwidert er mit einem zu freundlichen Lächeln.

Mist!, denke ich und lasse das Messer keine Sekunde aus den Augen.

Plötzlich merke ich, dass die Stimmen lauter werden.

„Vier Tage!“, brüllt gerade einer der Männer und zeigt mit dem Finger auf Herr Moralez. Erschrocken reiße ich den Kopf hoch.

Finja sieht sich mit zusammengekniffenen Augen um und greift langsam nach einer sehr großen und schwer aussehenden Schüssel.

„Sie haben sie doch nicht mehr alle!“, schreit Herr Moralez zurück. Ich habe ihn noch nie so ausrastend gesehen.

Verdammt, irgendwie läuft gerade alles schief.

„Ach ja? Wir geben Ihnen vier Tage, sonst können Sie Ihren …“, droht der ältere, als ich ihn unterbreche.

„Vielen Dank für das Fleisch“, rufe ich dazwischen und strahle den Mann neben mir mit einem eher panischen Grinsen an.

Für eine Sekunde liegen alle Blicke auf mir, doch dann drehen sich die Leute wieder zu Herr Moralez um.

„Wie war das mit den vier Tagen? Ich brauche zwei Wochen!“, sagt Herr Moralez, wobei ich sehe, wie viel Kraft es ihn kostet, sich zu beherrschen und nicht gleich wieder loszubrüllen.

Benehmen Sie sich verdammt noch mal, denke ich und verpasse ihm unter dem Tisch einen Tritt, den er jedoch gar nicht zu bemerken scheint.

„Zwei Wochen? Zwei Wochen?“, wiederholt der Mann, wobei er jedes Wort einzeln betont. „Vergessen Sie es, wegen Ihnen stehen wir ziemlich weit hinten im Kurs.“

„Was gehen mich Ihre Probleme an?“, schnauzt Moralez zurück und haut mit einer Faust auf den Tisch.

„Beruhigt euch doch!“, ruft der Mann neben mir, wobei er die Hände hochwirft. Mit dem Messer.

Meine Augen weiten sich.

Alles scheint plötzlich total langsam und gleichzeitig zu schnell zugehen. Das Messer wirbelt durch die Luft, gezielt auf Herr Moralez Hand zu, der wie erstarrt da sitzt.

Ich höre das „Hoppla“ von dem Mann mit der blutroten Krawatte, Finja stößt mit den Knien unter den Tisch.

Blitzschnell greife ich nach der Schüssel mit den Kartoffeln, reiße sie hoch und stelle sie mit einem Ruck auf Herr Moralez Hand, Sekunden, bevor sich das Messer, nicht in seine Hand, sondern eine Kartoffel bohrt.

Achtundzwanzig Augen starren mich an und ich spüre, wie ich rot werde.

Verdammt, das muss ich jetzt irgendwie erklären.

„Huch, ist die Schüssel aber schwer“, stammel ich und wuchte sie von Moralez Hand hinunter, die etwas platt aussieht. „Da muss ich sie doch glatt fallen gelassen haben. Gibt es hier ein Messer zum Schneiden? – Ach, da steckt ja eins“, brabbel ich vor mich hin und lege mir eine Kartoffel auf meinen Teller.

„Was sollte das denn?“, faucht einen Moment später plötzlich Moralez und funkelt den Mann neben mir an.

„Da muss mir wohl das Messer aus den Händen gerutscht sein“, erklärt der mit einem finsteren Lächeln.

„Vergessen Sie es!“, knurrt Herr Moralez und springt auf. „Finja, Elizabeth, wir gehen!“

„Sie gehen nirgendwo hin!“, widerspricht der ältere Mann und steht ebenfalls auf.

„Als ob Sie mich aufhalten könnten!“, spottet Moralez und zieht mich unsanft von meinem Platz hoch.

„Ich denke nicht, dass Sie unser Angebot noch einhalten werden, nicht wahr?“

„Ich brauche zwei Wochen!“

„Sie bekommen keine zwei Wochen!“

„Dann haben Sie eben Pech gehabt!“, brüllt Herr Moralez und zerrt an Finjas Arm.

„Wissen Sie was?“, knurrt der Mann, mittlerweile sind alle aufgestanden, nur Finja sitzt noch.

Alle sehen so aus, als würden sie uns jeden Moment umbringen wollen.

„Vielleicht hatten Sie gar nicht so unrecht, mit der Übersetzung unseres Namens“, fährt der ältere Mann fort, zieht ein größeres Messer aus seinem Gürtel und wirft.

Ich schreie auf, in dem Moment hat sich Finja schon, samt schwerer Schüssel, vor Herr Moralez geworfen.

Die Schüssel zerspringt in Tausende winzige Splitter, Finjas Schrei ist ohrenbetäubend laut, als sich das Messer, von der Schüssel nur minimal von seinem Kurs abgelenkt in ihre Schulter bohrt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top