Chapter 21
Doch spätestens, als ich keine Luft mehr bekomme, ist klar, das ist kein Traum! Ich werfe mich herum und trete meinem Angreifer in den Bauch. Sein Griff lockert sich und sofort kann ich wieder atmen.
Er gibt ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich, ich nutze die Gelegenheit, winde mich aus seinem Griff und verschwinde schwupps, unter dem Bett.
Lautlos fluchend reibe ich meinen Hals. Was soll denn das? Dass dieser Irre mich mitten in der Nacht angreift.
Anscheinend scheint er nicht gemerkt zu haben, dass ich unter dem Bett verschwunden bin, denn er sucht immer noch über mir das Bett ab.
Das ist meine Chance. So leise wie möglich rutsche ich über den Boden unter meinem Bett hervor. Es knarrt ganz leise und mit einem Schlag ist es totenstill. Mist! Ich halte die Luft an, doch mein Herz schlägt so laut, dass ich das Gefühl habe, es müsste im ganzen Zimmer zu hören sein.
Dann nehme ich eine Bewegung ganz in meiner Nähe war und erstarre. Er … er kommt um das Bett herum! Mit einem Ruck schaffe ich es, mich aus meiner Starre zu lösen und krieche zurück unter das Bett. Für einen Moment kann ich seine Beine sehen, als er an der Türseite vorbei geht, dann ist da wieder nur Dunkelheit. Verzweifelt spähe ich umher, kann aber niemanden mehr sehen. Wo ist der Kerl nur?
In dem Moment packt mich jemand am Bein. Vor Schreck schreie ich auf, werfe mich herum und trete zu.
Dann robbe ich panisch unter dem Bett hervor, als eine schwarze Gestalt direkt vor mir auftaucht. Wie – aber er stand doch gerade noch auf der anderen Seite? Blitzschnell lasse ich mich auf den Boden fallen, rolle links an ihm vorbei, springe auf die Füße und renne los. Doch der Typ ist unheimlich schnell.
Ich werde an einem Arm gepackt und zurück geschleudert. Einen Moment ruder ich mit den Armen, dann lande ich auf dem Bett, feder ein bisschen und rolle mich auf der anderen Seite hinunter.
So schnell ich kann verschwinde ich wieder unter dem Bett.
Ich sehe seine Beine und Füße vor dem Bett stehen und plötzlich kommt mir eine Idee.
Möglichst leise krieche ich auf ihn zu und greife mit spitzen Fingern nach seinen Schnürsenkeln. In dem Moment macht er einen Schritt und ich zucke zurück. Dann strecke ich meine Hände wieder aus und knote so schnell ich kann die Schnürsenkel zusammen.
Gerade will ich zurückrutschen, als der Typ sich hinkniet, unter das Bett schaut, mich am Arm packt und erbarmungslos aus meinem Versteck zieht.
Ich fange an zu zappeln und trete wie wild um mich. Er flucht wütend auf und lockert für eine Sekunde seinen Griff, doch das reicht mir, um mich loszureißen und aufzuspringen.
Ich sprinte los, tauche unter seinem nach mir haschendem Arm hinweg und renne. Bloß weg von hier!
Mein Plan funktioniert: Als er versucht mir hinter her zu jagen stolpert er und geht mit einer Salve an Flüchen zu Boden.
Doch ich bleib nicht stehen, um zu sehen, ob er wieder auf die Füße kommt, ich laufe immer weiter, durch die nachtschwarzen Korridore.
Beim vorbeirennen werfe ich einen Blick aus einem der Fenster. Draußen ist noch alles dunkel, warum hat mich dieser Kerl mitten in der Nacht angegriffen?
Ich laufe Treppen hoch und runter, jage um Ecken und stolper an unzähligen Türen vorbei. Irgendwann kann ich nicht mehr und lehne mich schwer atmend an eine Wand. Am liebsten würde ich mich einfach fallen lassen und einschlafen. Die Angst, die mir vorher noch Flügel verliehen hat, ist Erschöpfung gewichen und ich fühle mich auf einmal hundemüde.
Gähnend versuche ich auf meinen Beinen zu bleiben, die sich wie Wackelpudding anfühlen, und schleppe mich zur nächsten Tür.
Gott sei Dank kein Badezimmer, denke ich, als ich hineinspähe. Es ist eine Mischung aus Wohnzimmer und etwas anderem. Zumindestens gibt es Sofas.
Erleichtert wanke ich hinein und schließe die Tür hinter mir. Hier kann er mich nicht finden. Hier wird er mich nicht finden.
Ich lasse mich auf eins der insgesamt drei Sofas fallen und ziehe die Beine an.
Müde und erschöpft liege ich da und warte, bis sich mein Puls beruhigt, damit ich einschlafen kann. Es ist angenehm still, irgendwo in der Dunkelheit tickt eine Uhr, doch das stört mich im Moment wenig.
Langsam schließe ich die Augen und atme aus. Mein Kopf ist wie leer gefegt und für den Moment bin ich dankbar dafür.
Helle Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase und lassen mich aufwachen. Ich blinzel und kneife die Augen sofort wieder zusammen. Man ist das hell!
Ich drehe mich um, um weiter zu schlafen, als mein Magen grummelt. Das gibt es doch einfach nicht. Ich fühle mich umwerfend müde und ausgelaugt.
Seufzend und brummelnd rolle ich mich vom Sofa und bleibe mit geschlossenen Augen auf dem Teppich liegen.
Ich weiß, dass ich aufstehen muss, doch habe keine Lust. Vielleicht sollte ich es einfach langsam angehen.
Vorsichtig öffne ich meine Augen und stelle überrascht fest, dass das Licht gar nicht mehr so grell ist.
Ich setze mich auf und strecke mich. Irgendwo knackt etwas und ein leichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Eindeutig Morgen.
Mein Magen grummelt erneut und ich richte mich auf. Einen Moment lang frage ich mich, was ich hier drin verloren habe, dann dämmert mir, was letze Nacht passiert ist.
Sofort sinkt meine Laune ein erhebliches Stück nach unten.
Aber jetzt ist erst einmal ein ausgiebiges Frühstück dran. Fest entschlossen stehe ich auf und gehe zur Tür. Sicherheitshalber strecke ich meine Nase auf den Gang, doch niemand ist zu sehen.
Erleichtert schlüpfe ich hinaus und sehe mich um.
Ich kann mich nicht erinnern, schon mal hier lang gekommen zu sein, was es schon mal komplizierter macht, den Speisesaal zu finden. Ich hole tief Luft und stapfe los. Irgendwo wird der ja wohl sein!
Eine Weile streife ich ziellos durch die Gänge, bis mir das Glück in Form einer in ein Bedienstetenkleid gekleideter Frau Wort wörtlich über den Weg läuft.
„Hey, ähm, können Sie mir sagen, wo der Speisesaal ist?“, frage ich und bleibe vor ihr stehen.
„Klar, aber Sie befinden sich ja völlig im falschen Stockwerk. Am besten Sie gehen … Moment, ich denke, dass Einfachste ist, ich begleite Sie.“ Sie lächelt mich an und eilt davon.
Hastig laufe ich ihr hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren.
„Aber wahrscheinlich wird gerade noch aufgetragen, Sie sind ziemlich früh“, informiert sie mich auf dem Weg.
„Macht nichts“, murmel ich. Solange ich dem Typ von gestern Nacht nicht begegne. Plötzlich fällt mir siedeheiß etwas ein. Ich habe keine Ahnung, wer das war. Eigentlich könnte es jeder in diesem Haus außer Moralez und Jen gewesen sein. Die beiden hätte ich an der Stimme wiedererkannt.
Plötzlich werde ich leicht nervös und sehe mich dauernd um.
„Hier sind wir.“
Ich hebe den Kopf und erkenne die große hölzerne Tür sofort wieder.
„Vielen Dank“, sage ich und trete ein.
Die Frau hat recht, mindestens zehn Leute decken gerade den Tisch. Da ich mir etwas schlecht vorkomme, ihnen nur zuzusehen, gehe ich zu ihnen.
„Kann ich vielleicht helfen?“ Unsicher sehe ich die leicht mollige Frau an, die gerade Teller auf den Tisch stellt.
Perplex sieht sie mich an.
„Bei was denn?“
„Ähm, beim Tischdecken …“
Ihr Gesichtsausdruck wird noch verwunderter. „Nein, machen Sie sich keine Mühe“, meint sie dann und stellt fast in Zeitlupe den nächsten Teller ab.
Dann halt nicht, denke ich und gehe etwas verlegen zu einem der Fenster. Dann warte ich eben, bis sie soweit sind.
Von hier aus hat man einen direkten Blick in den wundervollen Garten, also setze ich mich auf das Fensterbrett und sehe hinaus.
Plötzlich höre ich eine Stimme direkt neben mir.
„Morgen.“
Überrascht und etwas erschrocken drehe ich mich um und sehe Jen, der mit verschränkten Armen, fast neben mir lehnt.
„Morgen“, brumme ich zurück und sehe wieder raus.
„Mein Vater ist ganz schön sauer auf dich“, erklärt er mir und ich glaube eine Spur von Freude, aus seiner Stimme zu hören.
„Na und?“, entgegne ich. „Was geht dich das an.“
„Er kann sehr unangenehm werden, wenn er sauer ist.“
„Willst du mir vielleicht etwas Bestimmtes sagen? Dann tu es lieber jetzt.“ Meine Laune ist seid gestern Nacht eh nicht die Beste und jetzt kann ich erst recht niemanden gebrauchen, der sich gerade diebisch freut, nur weil sein Dad auf mich sauer ist. Warum auch immer das sein sollte. Ich denke kurz nach, kann aber keinen Punkt finden, der Moralez Anreiz geben könnte, wirklich sauer auf mich zu sein.
„Du wirst eine ordentliche Abreibung bekommen“, erzählt Jen begeistert und grinst mich überlegen an.
Ich ignoriere ihn einfach und sehe weiter aus dem Fenster, betend, dass Finja bald kommt.
„He, warum ignorierst du mich jetzt?“, ruft er ärgerlich. Ich bin kurz davor ihm eine bissige Antwort zu geben, schlucke sie dann allerdings hinunter und stehe auf.
Der Tisch ist gerade fertig gedeckt, also lasse ich mich auf einen Stuhl fallen und greife nach einem Brötchen. Es ist noch warm und ich erinnere mich an meinen Traum mit Nico. Einen Moment sitze ich einfach nur da, mit dem Brötchengeruch in der Nase, dann reiße ich mich zusammen, bevor Jen wieder irgendeinen blöden Spruch ablässt.
Gelassen angel ich mir eine Scheibe Käse, als die Tür aufgeht und Finja hineingeschlurft kommt.
„Morgen, Liz“, murmelt sie, was allerdings in einem lauten Gähnen endet und deshalb ziemlich unverständlich ist.
„Hi“, lächel ich zurück. Sie lässt sie träge auf den Stuhl neben mich plumpsen und reibt sich die Augen.
„Man, ich bin hundemüde“, seufzt sie und greift zweimal nach den Brötchen, bis sie eins zu fassen bekommt. „So ein Idiot hat sich in mein Zimmer geschlichen und mich angegriffen. Mitten in der Nacht! Der hatte einen Knall.“
„Anscheinend war das schon wieder Teil seines Trainings“, grummel ich und fische grinsend ihren Ärmel aus dem Honig.
„Ups, ich glaube ich bin noch total verpennt.“
Ich lache. „Zum Glück bin ich wach, obwohl ich heute so wenig Schlaf hatte.“ Ich beiße in das Brötchen und kaue, mit den Gedanken ganz wo anders, vor mich hin.
In dem Moment fliegt die Tür auf und Herr Moralez kommt herein.
Durch Jens Worte doch etwas besorgt hebe ich den Kopf, doch Herr Moralez lässt sich nur auf seinen Platz fallen.
„Morgen“, grüßt er mit einem Lächeln im Gesicht. Oho, denke ich und esse angespannt weiter. „Herrliche Nacht, nicht wahr?“ Bei den Worten sieht er mich direkt an. Vor Schreck verschlucke ich mich fast an meinem Brötchen.
Finja ignoriert ihn einfach.
„Elizabeth.“ Jetzt nimmt seine Stimme einen Ton an, als sei ich ein kleines Kind, das immer alles falsch macht. „Du weißt, dass du mich beschützen sollst.“
Ich nicke vorsichtig, nicht ganz sicher, worauf er hinaus will.
„Na also. Aber wie frage ich dich, wie willst du mich beschützen, wenn du immer zu wegläufst, sobald etwas passiert?“
Das ist es also. Ich verziehe das Gesicht. „Sie waren doch gar nicht dabei“, brumme ich und sehe ihn möglichst gelassen an.
„Na und? Woher soll ich wissen, dass auf dich verlass ist? Eins weiß ich: Du kannst schnell rennen, aber was bringt das mir?“ Seine Stimme wird drohender und ich ziehe leicht den Kopf ein.
„Du läufst nicht mehr davon, verstanden?“
Ich nicke.
„Hast du verstanden?“, wiederholt er.
„Ja“, antworte ich gereizt.
„Können Sie eigentlich kämpfen?“, mischt sich Finja interessiert ein. Herr Moralez sieht sie für einen Moment einfach nur an. Dann schüttelt er den Kopf.
„Deswegen habe ich ja euch.“
„Aha.“
„Was aha?“
„Ein einfaches Aha. Nichts weiter.“
„Was meinst du damit?“
„Aha.“
„Finja?!“
„Herr Moralez?“ Sie grinst ihn an und isst dann einfach weiter. Beeindruckt sehe ich sie an. Manchmal wünsche ich, ich hätte ein ähnliches Talent, zum Beispiel jetzt, aber was solls.
Das Frühstück dauert noch eine geschlagene halbe Stunde und ich sitze den größten Teil davon einfach nur rum und halte mich davon ab, mehr zu essen, als ich vertrage.
Finja schafft es mal wieder die ganze Zeit durchzuessen, wahrscheinlich hat sie einen sehr guten Stoffwechsel.
„Ok, ihr könnt euch hier frei bewegen, wir sehen uns dann zum Mittagessen, und stört mich nicht, ich habe noch etwas Wichtiges für heute Abend zu besprechen“, sagt Herr Moralez und sieht uns eindringlich an.
„Außerdem erwarte ich, dass es diesmal klappt, nicht Elizabeth?“
Ich nicke und füge schnell noch ein: „Geht klar“, hinzu.
Ohne ein weiteres Wort geht er zur Tür. Er hat sie fast erreicht, als Jen plötzlich aufspringt und ihm hinter her läuft.
„Warte.“ Er holt ihn ein und redet auf ihn ein.
„Vergiss es“, antwortet Moralez aufgebracht.
„Vater, ich kann das auch, lass diese Mädchen hier, oder zumindestens die, die so feige ist.“
„Du hast dich da gefälligst rauszuhalten! Die beiden kommen mit und damit basta, du bist ein Weichei. Das haben die Trainings ganz eindeutig bewiesen. Wenn deine Mutter dich nicht so verhätschelt hätte.“ Herr Moralez starrt seinen Sohn an, dann geht er einfach weiter. Jen sieht im wütend hinterher und verschwindet in die andere Richtung.
Ich drehe mich zu Finja um und ziehe sie von ihrem Stuhl hoch.
„Lass uns gehen.“
„Ich habe aber noch Hunger!“
„Das ist mindestens dein zehntes Brötchen, wie schaffst du es, die ganzen Mengen zu verdrücken?“
„Keine Ahnung, aber endlich gibt es mal was.“ Sie isst das letzte Stück von ihrem Marmeladenbrötchen und folgt mir aus dem Speisesaal.
„Wo wollen wir hin?“, frage ich und strecke mich ausgiebig.
„Umziehen und dann lesen?“, fragt sie hoffnungsvoll und ich nicke.
Seite an Seite gehen wir zu unseren Zimmern und schaffen es sogar mit nur einmal verlaufen dort anzukommen.
„Bis gleich“, sage ich noch, dann verschwinde ich in mein Zimmer. Der große hölzerne Schrank ist auf der rechten Seite. Erwartungsvoll gehe ich darauf zu und werde maßlos enttäuscht. Jede Menge bestimmt richtig teurer Kleider, aber keins gefällt mir.
Doch dann entdecke ich eins ganz hinten. Es ist blütenweiß und hat einen Hauch blau. Begeistert nehme ich es heraus und freue mich noch mehr, dass es Ärmel hat und ziemlich lang aussieht.
Schnell schlüpfe ich aus meinem blauen Kleid, das durch die Nacht ganz schön zerknittert ist, und ziehe mir das neue über den Kopf.
Es passt perfekt.
Ich drehe mich vor dem Spiegel, bis ich merke, was ich eigentlich gerade da tue. Sofort weiche ich ein Stück vor meinem Spiegelbild zurück.
Mate wäre bestimmt begeistert, mich in einem Kleid zu sehen, er meinte manchmal, dass ich eigentlich eher wie ein Junge war.
Nico hatte mir daraufhin lachend die Beine weggezogen und gesagt: „Dafür ist sie aber ein bisschen schwach!“
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich mich an den darauf folgenden Kampf erinnere.
Dann gebe ich mir einen Ruck und gehe rüber zu Finja. Sie ist auch schon fertig.
„Cool“, meint sie, als sie mein Kleid sieht. Ihres sieht auch toll aus: Dunkelblau mal wieder aber mit hellblauen Abschnitten.
„Wollen wir?“
Begeistert läuft sie los und ich muss fast rennen, um mit ihr Schritt zu halten, so eilig hat sie es.
In der Bibliothek ist es still und riecht wundervoll nach Büchern.
Ich fische eins aus dem Regal, während Finja hinter mir unruhig hin und her zappelt.
„He“, lache ich. „Setz dich einfach auf den Stuhl da, bin gleich da.“
Gehorsam setzt sie sich und ich schlage das Buch auf. Ich habe noch nie Nachhilfe gegeben, ist ja auch etwas schwierig, wenn man in der Schule nicht spricht, und habe demnach keine Ahnung, nach was genau ich suchen soll. Schließlich entscheide ich mich einfach für einen groß gedruckten Text und gehe zu Finja.
„Also, als Erstes denke ich das lesen.“
„Ok.“ Sie beugt sich interessiert über das Buch.
„Also, das ist ein, ähm … a.“ ich zeige ihr den Buchstaben. „Da siehst du? Das alles sind a. Und das hier, dass Große, das ist auch ein a, nur halt ein großes. Weil man jedem Satzanfang groß schreiben muss.“
Finja runzelt konzentriert die Stirn und nickt. „A“, murmelt sie leise. „Das da auch?“
Ich nicke und sie fängt an zu strahlen. Plötzlich merke ich, wie viel es ihr bedeutet, lesen zu können. Für mich war es immer selbstverständlich.
Dadurch selbst beflügelt erkläre ich das ganze Alphabet und zeige ihr die dazu passenden Buchstaben.
Wahrscheinlich ist es für sie viel zu viel auf einmal, doch sie beschwert sich nicht, saugt alles, was ich ihr erzähle auf wie ein trockener Schwamm.
Irgendwann – ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist – sitzt Finja mit dunklen Ringen unter den Augen und wild abstehenden Haaren an dem kleinen Tisch und ich stehe fix und fertig daneben. Unterrichten ist anstrengender als ich gedacht habe, besonders, wenn der Schülerin irgendwann beschließt schreiend im Kreis herumzulaufen, weil sie das l dauernd mit dem i verwechselt.
„Oh man“, ächzt Finja und sieht zu mir auf.
„Ich habe Hunger, hoffentlich gibt es bald …“, seufze ich, als die Tür aufgeht und Herr Moralez da steht.
„Ah, was macht ihr beide denn da?“
„Lesen“, brummt Finja.
„Ich dachte du kannst nicht lesen?“, bemerkt Herr Moralez mit einem wachsamen Blick.
„Ich habe ihr vorgelesen“, werfe ich schnell ein und versuche zu lächeln.
„Na dann.“ Leicht misstrauisch sieht er mich an. „Es gibt Mittagessen.“ Damit dreht er sich um und geht wieder.
Besorgt drehe ich mich zu Finja um.
„Warum weiß er, dass du nicht lesen kannst?“
„Wahrscheinlich hat es ihm Frau Kingston gesagt“, meint Finja und zuckt mit den Schultern. „Das finden die meisten Kunden praktisch.“
„Warum das denn?“, will ich entgeistert wissen.
„Na ja, dass macht uns abhängiger.“ Finja stellt das Buch zurück ins Regal.
Ich nicke.
„Und warum hast du ihm nicht gesagt, dass wir lesen üben?“
„Damit wir noch ein Ass im Ärmel haben“, erkläre ich grinsend. „Nein, keine Ahnung. Ich denke es ist besser so, wenn er es nicht weiß. Vielleicht nützt es uns irgendwann was.“
„Ach so. Wie du meinst, ich habe Hunger. Lass uns gehen und danach weiter machen!“ Begeistert strahlt sie mich an und zieht mich hinaus auf den Flur.
„Du willst heute noch weiter machen?“ Irgendwie bewundere ich ihre Ausdauer.
„Klar, wegen dem Ass im Ärmel!“
„Finja!“
„Schon gut, ich habe nur Lust, weiter zu machen“, grinst sie.
Ich seufze ergeben. Von mir aus.
Es gibt das Gleiche wie heute Morgen, nur, dass noch etwas Fischsuppe dabei ist. Ich verzichte auf die Suppe und esse wieder Brötchen.
Herr Moralez scheint aus irgendeinem Grund ziemlich gute Laune zu haben, Jen sieht so mürrisch aus wie immer und ich sitze die ganze Zeit angespannt da.
Schließlich beugt sich Herr Moralez ein Stück vor und lächelt in die Runde. Wobei die Runde eher Finja und mich einschließt.
„Heute Nachmittag machen wir etwas ganz besonderes“, fängt er an und nickt bedeutend.
Finja isst ungerührt weiter und ich sehe ihn misstrauisch an.
„Ach ja, das geht dich nichts mehr an“, meint er dann und sieht Jen an. Der hebt den Kopf und sieht seinen Vater feindselig an. Dann steht er auf und verlässt den Raum.
„Shoppen! Mädchen lieben shoppen, deswegen gehen wir heute Nachmittag einkaufen!“, lenkt Herr Moralez meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Erst einen Moment später realisiere ich, dass er shoppen gesagt hat. Mir dreht sich der Magen um.
„Was?“ Entsetzt sehe ich ihn an und auch Finja hat aufgehört zu kauen.
„Mädchen lieben doch so was!“ Herr Moralez scheint es sichtlich für eine brillante Idee zu halten.
„Es ist ja nicht so, dass ich Shoppen nicht mögen würde“, fange ich an, doch komme nicht dazu, den Satz zu beenden.
„Dann ist es ja prima.“
„Noch irgendwelche Einwände von dir, Finja?“
Finja schluckt hastig ihr Essen herunter, doch da hat sich Moralez schon wieder zu mir umgedreht.
„Na also. Das wird bestimmt super. Eigentlich können wir gleich los!“
Wütend sehe ich ihn an. Mit dem will ich bestimmt nicht einkaufen gehen. Außerdem bin ich nicht mehr shoppen gegangen, seit Nico beinahe einen Pullover, der mir gefallen hat, einfach mitgenommen hat. Aber nur beinahe.
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