5 | Tiefsitzende Einsamkeit
Leer starrte Hermine durch das Fenster ihres Schlafzimmers hinaus. Die Sonne schien und ein eisig kalter Herbstwind wehte, es war ein perfekter Herbsttag. Unten vor dem Schloss schlenderte eine Gruppe von Gryffindor-Schülerinnen lachend den Pfad nach Hogsmeade hinunter. In der Mitte strahlte das rote Haar von Ginny, die umgeben von ihren besten Freundinnen war.
Seufzend drehte Hermine sich um. Ginny hatte ihr mehr als einmal angeboten, dass sie mit runter ins Dorf kommen konnte, doch sie hatte jedes Mal abgelehnt. Sie gehörte nicht dazu. Sie würde die Gruppe stören und ihnen den Spaß verderben. Natürlich hatte Ginny ihr gesagt, dass das Blödsinn war, doch Hermine wusste es besser.
Es war nicht nur, dass sie ein Jahr älter war als die anderen, oder dass sie nicht die vorigen sechs Jahre zusammen in einem Jahrgang verbracht hatte. Das hätte sich mit der Zeit sicher rausgewachsen.
Sie war Hermine Granger.
Ginny mochte es nicht sehen, weil sie selbst ganz nah dran war, aber Hermine spürte es nur zu deutlich: Dieser merkwürdige Respekt, den die anderen ihr entgegenbrachte. Die Zeitungen hatten sich alle Mühe gegeben, sie und Ron und Harry als Kriegshelden darzustellen. Kaum ein Tag war seit Ende des Krieges vergangen, an dem sie nicht ihr Bild in der Zeitung gesehen hatte. Das hatte offensichtlich Eindruck bei den anderen hinterlassen, die sie kaum kannten.
Sie sprachen mit ihr, das war nicht das Problem. Doch entweder waren sie übermäßig daran interessiert, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, oder sie waren mehr als zurückhaltend und konnten ihr kaum in die Augen sehen. Auch nach mehreren Wochen hatte sich das nicht geändert. Es machte jede Interaktion, die nicht zwischen ihr und Ginny ablief, anstrengend.
Sie unterhielt sich inzwischen sogar gerne mit Luna, obwohl auch diese Gespräche oft seltsam waren.
Je länger sie hier war, umso einsamer fühlte sie sich. Ihr war nie richtig bewusst gewesen, wie sehr Ron und Harry Teil von Hogwarts für sie waren. Ohne ihre beiden besten Freunde war das Schloss einfach leer. Selbst sie konnte nicht in jeder freien Minute lernen, und je mehr ihr bewusstwurde, dass sie hier einfach nicht dazu gehörte, umso mehr fühlte sie sich einfach nur leer.
Vielleicht war das auch der Grund, warum sie unwillkürlich hatte lächeln müssen, als sie Malfoy im Zug über den Weg gelaufen war. Ein bekanntes, vertrautes Gesicht, das ihr das Gefühl gab, ein ganz normales Schuljahr stand bevor. Auch wenn sie stets Feinde gewesen waren, hatte es ihr Mut gemacht, ihn zu sehen.
Kopfschüttelnd erhob sie sich vom Fensterbrett und ging mit langsamen Schritten zu ihrem Himmelbett. Mit einem tiefen Seufzen ließ sie sich rückwärts darauf fallen.
Über die Sommerferien war in ihr ein Bild von Draco Malfoy entstanden, das offensichtlich nichts mit der Realität zu tun hatte. Er war immer noch genauso abweisend und hasserfüllt wie zuvor. Sie hatte in ihrer Fantasie einen Draco Malfoy erschaffen, den es gar nicht gab, und sie hatte sich ein klein wenig in ihn verliebt.
Doch er existierte gar nicht.
Vielleicht hätte sie Ron doch eine Chance geben sollen. Nachdenklich rollte sie eine Locke um ihren Finger. Sie hatten sich so leidenschaftlich geküsst nach der Schlacht. Sie hatten in den Wochen danach das Bett geteilt und mehr Sex gehabt, als Hermine bereit war, zuzugeben. Doch als Ron sich dazu entschieden hatte, mit Harry zusammen eine Ausbildung als Auror anzufangen, war Hermine klar geworden, dass sie sich keine Zukunft mit ihm vorstellen konnte. Als hätte er ihre Entscheidung schon gespürt, bevor sie es ausgesprochen hatte, hatte Ron angefangen, im Bett experimentierfreudiger zu werden. Mehr als zuvor hatte er alles getan, um sie zufriedenzustellen. Aber ihre Entscheidung hatte schon festgestanden und so hatte sie ihm das Herz gebrochen.
Vielleicht wäre ihre Entscheidung anders ausgefallen, wenn sie nicht zu dem Zeitpunkt schon so oft an Malfoy gedacht hätte. Vielleicht hatte sie sich blenden lassen von dem Gras, das immer grüner ist auf der anderen Seite des Zauns. In Wirklichkeit gab es gar kein Gras auf der anderen Seite.
Und dennoch.
Als er sich gestern über den Tisch gebeugt hatte und sie seine muskulösen Oberarme durch sein Hemd hatte durchschimmern sehen, war ihr wieder verboten heiß geworden. Wie sie sich gewünscht hatte, ihn einfach an seiner Krawatte packen zu können, ihn zu sich zu ziehen und zu küssen. Seine starken Arme um sich geschlungen zu spüren.
Fluchend setzte Hermine sich im Bett auf. Es ging doch nicht mit rechten Dingen zu, dass ihre Gedanken immer zu schmutzigen Fantasien wurden, wenn sie auch nur den Namen Draco Malfoy dachte. Zumal er mehr als deutlich gemacht hatte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte.
„Du musst hier keinem von uns etwas vormachen."
Diese eisigen Worte saßen wie ein Stachel. Er glaubte ihr nicht, dass sie es ernst meinte mit höflicher Konversation. Er glaubte ihr nicht, dass sie seine Einstellung zu ihm geändert hatte. Dass sie nicht Harry war und ihn von Grund auf verurteilte. Oder vielleicht hatte sich seine eigene Einstellung nicht geändert und er sah immer noch bloß das Schlammblut in ihr, auch wenn er das nicht länger offen sagen durfte.
Sie fuhr sich mehrmals mit beiden Händen übers Gesicht. Trübe Gedanken würden sie nur noch mehr runterziehen und es gab sowieso nichts, was sie am status quo ändern konnte. Sie war hier in Hogwarts, sie hatte sich für diesen Weg entschieden und sie würde ihn zu Ende gehen. Als Erstklässlerin hatte sie sich auch einsam und unerwünscht gefühlt. Sie würde das jetzt überstehen, genauso wie sie es damals überstanden hatte.
***
Griesgrämig trottete Draco hinter seinen beiden Freunden her. Sie hatten darauf bestanden, das erste Hogsmeade-Wochenende zu nutzen und ihren freien Sonntag im Dorf zu verbringen. Draco hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, doch am Ende waren ihre Argumente überlegen gewesen.
Er konnte nicht das ganze Schuljahr über im Gemeinschaftsraum bleiben. Es brachte niemandem etwas, wenn er sich vor den anderen Schülern versteckte. Sie würden ihn hassen, egal, was er tat, also konnte er sie genauso gut ignorieren und tun, was ihm Spaß machte.
Immerhin hatte er Blaise und Theo davon überzeugen können, dass es keine gute Idee war, ins Drei Besen zu gehen. Egal, wie sehr sie versuchten, die anderen Schüler zu ignorieren, die Wahrscheinlichkeit, dort permanent dumme Sprüche zu hören zu bekommen, war ihm zu hoch. Also steuerten sie zielstrebig auf den Eberkopf zu. Außer Slytherin-Schülern fand man dort höchstens ein paar rebellische Ravenclaws oder manchmal auch vereinzelte Gryffindors, die sich zu einer Mutprobe anstachelten.
„Bei deiner Miene krieg ja sogar ich schlechte Laune", beschwerte Blaise sich plötzlich.
Irritiert blieb Draco stehen und schaute zu ihm auf. „Ich bin hier, obwohl ich nicht will. Muss ich jetzt auch noch wie ein Idiot grinsen, damit du zufrieden bist?"
„Jetzt geht euch doch nicht direkt wieder an die Gurgel!" Hastig trat Theo zwischen die beiden und legte Blaise eine Hand über den Mund. „Keiner wird hier zu irgendetwas gezwungen, okay?"
Draco konnte sehen, dass Blaise gegen die Hand über seinem Mund ankämpfte, doch Theo ließ nicht locker. „Ich nehm die Hand erst weg, wenn du versprichst, dich zu benehmen!"
Ein kurzes Gerangel entstand, als Blaise versuchte, die Hand mit Gewalt zu lösen. Dann schrie Theo plötzlich laut auf und ließ ihn so schnell los, als hätte er sich verbrannt.
„Was bei Merlin sollte das denn?", fauchte Theo wütend, während Blaise ihn nur überleben angrinste.
„Du hättest mich halt nicht am Sprechen hindern sollen!", konterte Blaise lachend. „Niemand verbietet mir den Mund!"
„Du bist widerlich, Junge!", protestierte Theo und noch bevor Blaise reagieren konnte, war er wieder auf ihn zugetreten und hatte seine Handfläche über dessen Gesicht gerieben.
„Theodore Nott!", kreischte Blaise entsetzt. „Jetzt bist DU widerlich!"
„Ist doch deine eigene Spucke. Was willst du?"
Gegen seinen Willen musste Draco lachen. Seine beiden besten Freunde benahmen sich wie Erstklässler und er war sich sicher, dass zumindest ein Teil davon absichtlich gespielt war, um ihn aufzumuntern. Trotzdem spürte er, wie sich seine Laune hob. Vielleich hatten sie Recht. Vielleicht nahm er sich und die ganze Situation hier in Hogwarts zu ernst. Vielleicht sollte er einfach versuchen, das Beste draus zu machen und zu genießen, was er genießen konnte.
Mit zwei langen Schritten war er bei seinen beiden besten Freunden, die immer noch in einem freundschaftlichen Boxkampf verwickelt waren, angelangt. Schwungvoll gab er beiden gleichzeitig einen Klaps auf den Hinterkopf. „Ihr benehmt euch beide wie Kleinkinder. Reißt euch zusammen, sonst kommen wir heute nicht mehr beim Eberkopf an!"
Wie auf ein Stichwort ließen sie voneinander ab und drehten sich zu ihm um. Wie einstudiert rissen sie gleichzeitig die Münder auf und starrten ihn an.
„Hast du das gehört, Theo?", erkundigte Blaise sich mit einem Tonfall übertriebener Überraschung.
„Hat er gerade wirklich gesagt, dass er gerne zum Eberkopf will?", fragte Theo, der ebenso unglaubwürdig überrascht klang.
„Ob es ihm gut geht?"
Schnaufend packte Draco beide an den Oberarmen und zerrte sie mit sich. „Ist ja gut, ihr zwei Komiker. Ich hab's verstanden. Los, auf jetzt."
Lachend ließen sich beide von ihm mitziehen, doch Draco entging nicht, dass sie sich verschwörerisch zublinzelten. Manchmal fragte er sich, ob er gesegnet oder gestraft war mit solchen Freunden.
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