16 | Ohne sie
Sie hatte es tatsächlich verbockt.
Es kostete Hermine alle Selbstbeherrschung, nicht am Frühstückstisch in der Großen Halle in Tränen auszubrechen. Sie dachte, sie hätte alles einkalkuliert, aber es war trotzdem schief gegangen.
Nach Tagen der Stille hatte sie gestern Abend endlich den Mut zusammengenommen und war Draco wieder absichtlich zufällig über den Weg gelaufen. Wie in den Wochen vorher hatte sie ihn am Arm gepackt und Richtung leerstehendes Klassenzimmer gezogen. Doch er hatte sich losgerissen und ihr nicht einmal einen Blick zugeworfen. Er war einfach wortlos gegangen.
Was hatte sie falsch gemacht?
Er war doch freiwillig über sie hergefallen. Sie hatte ihm nur eine Versuchung geboten, alles danach hatte er selbst getan, ohne dass sie etwas gesagt hatte. Und sie hatte es so genossen. Sie war berauscht gewesen von der Macht, die sie über ihn hatte. Wie vollkommen er ihr in dem Moment verfallen war. Dass er sich seinen animalischen Trieben hingegeben hatte und sie hart und rücksichtslos genommen hatte. Es hatte sich genauso gut angefühlt wie das erste Mal, als sie ihn oral befriedigt hatte.
Warum war er so wütend geworden?
Sie wünschte, er würde ihr wenigsten erklären, was los war. Wenn sie etwas falsch gemacht hatte, wollte sie sich entschuldigen. Aber wie sollte sie sich entschuldigen, wenn sie keine Ahnung hatte, wofür.
Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Teetasse. So durfte es nicht enden. Sie war nicht bereit, das alles jetzt einfach so aufzugeben. Ja, es war am Ende des Tages nur Sex, aber es bedeutete ihr so viel. Draco Malfoy bedeutete ihr so viel. Sie lernte und machte fleißig Hausaufgaben, sie verbrachte Stunden in der Bibliothek und war immer aufmerksam und aktiv im Unterricht. Aber das einzige, was sie im Moment wirklich noch glücklich machte, waren die kurzen Momente, die sie mit Draco teilte.
Sie konnte das einfach nicht aufgeben. Vielleicht sollte sie zur Abwechslung versuchen, mit ihm zu reden. Anstatt ihn zum Sex zu überreden, könnte sie schauen, ob er zu einem Gespräch bereit war. Das war sowieso das, was sie wollte. Sie wollte seine Nähe spüren, nicht nur körperlich. Sie wollte wissen, was in ihm vorging. Sie wollte wissen, ob er genauso unter den Nachwehen des Krieges litt wie sie.
Sie wollte einfach nicht mehr so einsam sein.
***
Mit einem langen Seufzen ließ Draco sich in den großen Ohrensessel beim Feuer sinken. Die Woche war lang und hart gewesen, in mehr als einer Hinsicht.
Nach der Aktion von Granger hatte er fast vergessen, was er zwischen Blaise und Theo beobachtet hatte. Erst, als ihm auffiel, dass die beiden zwei Tage am Stück kein Wort miteinander gesprochen hatten, war seine Erinnerung zurückgekehrt. Er hatte sein Bestes gegeben, die beiden im Laufe der Woche zu gemeinsamen Aktivitäten zu bringen, doch einer von beiden hatte immer eine gute Ausrede parat, warum er nicht mitmachen konnte.
Er verstand nicht, wo das Problem war. Soweit er das beurteilen konnte, hatten beide gleichermaßen den Kuss gewollt. Hatten sie danach nicht miteinander gesprochen? Schämten sie sich? Wollten sie nicht mehr öffentlich zusammen gesehen werden, trafen sich aber heimlich zu zweit? Ohne ihn?
Genauso, wie er es mit Granger getan hatte?
Fluchend beugte er sich vor. Er wollte nicht an Granger denken. Sein inzwischen zu langes Haar fiel ihm ins Gesicht, während er seinen Kopf in seinen Armen vergrub. Wann immer er an sie dachte, spürte er, dass er schwach wurde.
Es hatte ihn alle Selbstbeherrschung gekostet, ihr nicht zu folgen und sie abzuschütteln. Dass nachts seine Träume erfüllt von ihr waren, half ihm auch nicht. Er vermisste den Sex, das war alles. Man konnte sich schnell an regelmäßigen Sex gewöhnen, und da war es jetzt eben eine kleine Durststrecke, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte, wie alle anderen auch mit seiner Hand alleine zu sein.
Mehrmals fuhr er sich mit seinen beiden Händen übers Gesicht. Wenn Granger nicht in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen, musste er das tun, indem er Abstand hielt. Sie hatte keine Ahnung, wie schwarz es in ihm aussah. Es war gut, dass sie ihn nur für Sex benutzte, mehr konnte er ihr sowieso nicht geben. Wenn sie ihn provozierte, würde er sich nur in seiner Wut verlieren.
Wer wusste, was er ihr antun würde, wenn er sich verlor?
Sie hatte es nur angedeutet, aber er mehr brauchte es auch nicht. Die Gewalt, die ihr im Krieg wiederfahren war, hatte sie nachhaltig traumatisiert. Ihr Körper sprang gegen ihren Willen in den Überlebensmodus, wenn sie sich bedroht fühlte. Festgehalten zu werden gegen ihren Willen triggerte Panik. Er verstand das. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man die ganze Zeit in Angst lebte.
Und genau deswegen musste er sich von ihr fernhalten. Es war ihm schwer genug gefallen, sich zu beherrschen, als sie einfach nur schnellen, simplen Sex gehabt hatten. Aber wenn sie sich ihm so verführerisch willig und schutzlos präsentierte, dann brachen alle Dämme.
Dann wollte er nichts lieber als sie mit Haut und Haaren aufzufressen.
Oder sie in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen.
Ein Holzscheit im Feuer knackte laut und riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich im Kreis. Seit Tagen dachte er immer wieder über dieselben Dinge nach, und immer wieder sah er keine andere Lösung, als Granger von sich fernzuhalten.
Langsam richtete er sich wieder auf und schaute sich um. Der Slytherin-Gemeinschaftsraum füllte sich langsam mit Schülern, die an diesem Freitagabend noch nicht bereit waren, ins Bett zu gehen. Ohne, dass er es bemerkt hatte, war Theodore aufgetaucht und hatte sich auf dem Sofa neben ihm niedergelassen.
„Hi", murmele Draco und versuchte sich seine trübsinnigen Gedanken nicht ansehen zu lassen.
„Hey, Mensch", erwiderte Theo sarkastisch, „Ist der Prinz aus seinem Schönheitsschlaf aufgewacht?"
Draco zog eine Augenbraue hoch. „Nimmst du Privatstunden bei Blaise oder warum bist du neuerdings so auf Krawall gebürstet?"
Er konnte sehen, wie sich Theos Augen unmerklich weiteten, doch sofort hatte der andere Slytherin-Schüler sich wieder im Griff. Interessant. Vielleicht konnte er hier endlich Ablenkung von Granger finden.
„Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst", sagte Theo betont und schaute ihm dabei so direkt in die Augen, dass Draco sich sicher war, dass sein Freund etwas vor ihm verbergen wollte. „Es sieht dir nur nicht ähnlich, in Gedanken versunken im Gemeinschaftsraum zu sitzen und nichts mitzubekommen. Ich wollte lediglich meine Sorge zum Ausdruck bringen."
Er beschloss, den Hinweis auf die Sorge einfach zu ignorieren, und ging stattdessen zum Angriff über. Absichtlich langsam schlug er die Beine übereinander und legte einen Finger an sein Kinn, um dann ganz unschuldig zu erwidern: „Du verbringst definitiv zu viel Zeit mit Blaise. Du warst immer zurückhaltender."
Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als Theo die Augenbrauen zusammenzog und ihn eindringlich musterte. Es würde vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sein Freund begriff, dass er mehr wusste, als er vorgab. Er schaute ihn offen an und wartete auf eine Antwort.
„Vielleicht habe ich dieses Jahr einfach beschlossen, dass es manchmal besser ist zu handeln", erklärte Theo leise. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und Draco begriff sofort, dass er nicht mehr nur über sein ruhiges Wesen im Allgemeinen sprach. „Wir leben alle nur einmal, Draco. Wir sollten sehen, dass wir unsere Chancen nicht vergeuden."
Der spöttische Spruch, der Draco auf der Zunge gelegen hatte, löste sich in Luft auf. Wie aus dem Nichts breitete sich Leere in ihm aus. Blicklos starrte er zu Theo, der selbst noch immer zu Boden schaute.
Er hatte nichts. Er hatte nichts und niemanden und vor allem nichts, wofür es sich lohnte, weiterzuleben. Er wusste nicht einmal, woher er etwas nehmen sollte. Da war einfach nur Leere.
Vor dem Krieg hatte er nie wirklich über sein Leben nachgedacht. Und dann kam Voldemort zurück und der Auftrag, Dumbledore zu töten, und jede Sekunde war nur noch erfüllt von der Angst, morgen sterben zu können. Jetzt war er weg, sein Vater hatte seine Position verloren und war zu Hausarrest im eigenen Anwesen verurteilt worden, und es gab nichts mehr in seinem Leben, was er tun wollte.
Er schluckte. Er hasste dieses Gefühl von Leere. Es wurde begleitet von Herzrasen und Schwindel und dem Gefühl, als würde sich der Boden unter ihm auftun und ihn verschlingen wollen. Was er noch viel mehr hasste, war die Angst, die dem stets folgte.
Angst vor sich selbst. Würde er morgen noch hier sitzen? Es gab keinen Grund für ihn, irgendetwas zu tun. Er bereicherte das Leben von keinem anderen. Und kein anderer bereicherte sein Leben. Alles, was er hatte, waren gebrochene Eltern und hasserfüllte Blicke von anderen. Konnte er sich wirklich sicher sein, dass er nicht einfach ...
Wenn er tot war, würde er Granger nie wieder sehen.
Vor seinem inneren Auge tauchte plötzlich das Bild ihres lächelnden Gesichts auf, wie sie ihn so offen und voller Vertrauen anschaute, als könnte er in ihren Augen nichts falsch machen.
Fluchend presste er seine geballten Fäuste gegen seine Augen. Er wollte sie wiedersehen. Alles andere war gelogen. Er war zu selbstsüchtig, als dass er sie nach den vielen Wochen einfach so aus seinem Leben verbannen konnte. Es war nur Sex, nicht mehr, aber es gab ihm so viel. Ohne sie war sein Leben wirklich leer.
„Sorry, Theo", flüsterte er, „Ich bin nochmal weg. Wir reden später weiter, okay?"
Er wartete gar nicht mehr auf die Antwort. Ohne auf die vielen anderen Schüler zu achten, die ihm überrascht nachschauten, stürzte er sich durch das Portrait aus dem Gemeinschaftsraum. Er wusste nicht, ob sie da sein würde, aber er musste es versuchen.
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