11 | Flashbacks
„Ich kann ihr den Buckel runterrutschen?"
Mit langen Schritten lief Draco im gemeinsamen Schlafsaal auf und ab. Er konnte nicht glauben, was Theo ihm gerade erzählt hatte.
„Hey, Mann, ich sag nur, was sie gesagt hat!", verteidigte Theo sich.
Wütend drehte Draco sich zu seinem auf dem Bett sitzenden Freund um: „Warum hast du überhaupt mit ihr geredet? Das geht dich gar nichts an!"
„Oh, komm schon!", mischte sich jetzt Blaise an, der auf dem Bauch liegend gelangweilt in einem Magazin blätterte. „Du erzählst uns nicht, was los ist, also suchen wir anderswo nach Antworten."
Draco konnte nicht glauben, was er da hörte. Verstanden die beiden wirklich nicht, dass sie ihm gerade einfach so in den Rücken gefallen waren? Wenn er sagte, dass er nicht darüber reden wollte, dann hieß das, dass sie ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten zu stecken hatten. Mit zwei langen Schritten war er an seinem eigenen Bett und ließ sich rückwärts drauffallen.
„Ich will einfach nur in Ruhe das Schuljahr überstehen!", murmelte er leise zu sich selbst. „Einfach nur ... in Ruhe gelassen werden und keinen Ärger haben. Ist das wirklich zu viel verlangt?"
Seine beiden Freunde schwiegen und das war auch besser so. Heiße Wut pumpte noch immer Adrenalin durch seinen ganzen Körper, doch Draco spürte, dass er keine Lust hatte, irgendetwas deswegen zu tun. Das Gefühl der Einsamkeit kroch wieder in ihm hoch. Obwohl seine beiden besten Freunde im selben Zimmer waren wie er, hatte er das Gefühl, vollkommen alleine zu sein. Die beiden waren wenigstens freiwillig hier und wussten genau, was sie in Zukunft machen wollten. Sie hatten ein Ziel, auf das sie hinarbeiten konnten.
Er hingegen fühlte sich mehr und mehr verloren. Die bösartigen Blicke der anderen Schüler, die nicht in Slytherin waren, sagten ihm deutlich, dass er in der Zaubererwelt nicht mehr erwünscht war. Es gab keinen Platz für ihn in Zukunft. Granger hatte ihm das mehr als deutlich gemacht: Niemand würde öffentlich mit ihm gesehen werden wollen. Alle, die in irgendeiner Beziehung zu ihm standen, würden sich schämen.
Frustriert zog er die Vorhänge um sein Bett zu und zog die Decke über sich. Es war ihm egal, dass er immer noch angezogen war. Es war ihm egal, dass Blaise und Theo jetzt vermutlich leise über ihn tuschelten. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben.
***
Eigentlich hatte sie vorgehabt, Malfoy in Zukunft einfach zu ignorieren. Das hatte all die Jahr vorher auch gut geklappt, was sollte also schief gehen?
Doch als sie ihn am anderen Ende des Ganges vollkommen alleine gesehen hatte, waren alle Gedanken daran aus ihrem Kopf verschwunden. Ehe sie realisierte, was sie eigentlich vorhatte, war sie auf ihn zugegangen, hatte ihn am Arm gepackt und in den nächst besten Klassenraum gezogen. Sie ließ ihre Schultasche mit den Büchern auf den Boden fallen und drehte sich zu Malfoy um.
„Was soll das werden?", verlangte der zu wissen, kaum dass die Tür hinter ihnen zugefallen war.
„Ich hab genug von dir, Draco Malfoy", spie Hermine aus. „Du hast kein Recht, irgendwelchen Blödsinn über mich zu erzählen. Deine Freunde lauern mir jetzt einfach so irgendwo auf? Geht's noch?"
Ihre Wut explodierte, als sie sah, wie Malfoy sich vor ihr aufbaute, die Arme vor der Brust verschränkt, und mit blitzenden Augen. „Ich hab gar nichts erzählt! Was die beiden Idioten tun, ist deren Sache. Du wolltest es doch so! Du wolltest doch, dass wir nicht darüber reden. Bitte, ich hab genau das getan!"
Empört stach sie ihm einen Finger gegen die Brust. „Tu nicht so, als wärst du hier das Opfer! Du hast doch bekommen, was du wolltest. Ich hab keine Lust auf dein Drama."
„Mein Drama?" Malfoy schrie diese Worte beinahe. Ehe sie sich versah, hatte er sie an den Schultern gepackt und gegen die kalte Steinwand hinter ihr gedrückt. „Mein Drama? Ich hab genau das getan, was du wolltest: Ich hab meinen Mund gehalten und nichts gesagt. Du bist diejenige, die hinter vorgehaltener Hand über mich gelacht hat."
Mit großen Augen starrte sie zu dem blonden Mann vor ihr auf. Hermine realisierte plötzlich, dass ihr Zauberstab noch in ihrer Schultasche war, die jetzt einige Meter von ihr entfernt auf dem Boden lag. Ihre Wut verschwand und hinterließ nichts als eiskalte Panik. Sie versuchte, sich gegen seinen festen Griff zu wehren, doch ihre Muskeln versagten ihr den Dienst. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie da. Ihr Atem raste und ihr war schwindelig. Er würde sie töten. Sie war alleine und unbewaffnet und niemand würde es wissen. Er würde sie töten und keiner würde es wissen. Sie konnte nicht atmen. Egal, wie viel Luft sie holte, es war nicht genug.
Plötzlich breitete sich brennender Schmerz in ihrem Gesicht aus. Es dauerte einen Moment, bis Hermine verstand, was passiert war.
Draco Malfoy hatte sie geschlagen.
Schockiert, aber wieder im hier und jetzt angekommen, blickte sie zu ihm.
Er war zwei große Schritte von ihr weggetreten und hatte seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. Seine Lippen waren zu einem schmalen Stricht verzogen, während seine Augen überall hinschauten, nur nicht zu ihr. „Tut mir leid", flüsterte er. „Du warst irgendwie ... weg. Du hast nicht mehr reagiert, als ich dich angesprochen hab."
Errötend drehte sie sich zur Seite. Es war schon lange nicht mehr passiert und sie dachte, sie hätte es endlich überstanden. Offensichtlich hatte sie falsch gedacht. Sie platzierte ihre Hände auf der Tischplatte und schloss die Augen, um sich für einige Sekunden nur auf ihre Atmung zu konzentrieren.
Alles war in Ordnung. Sie war in Hogwarts. Vor ihr stand Draco Malfoy. Niemand wollte sie töten. Niemand wollte ihr etwas antun. Sie war okay. Alles war okay.
Sie nahm einen weiteren, tiefen Atemzug, den sie dann ganz langsam wieder ausstieß und dabei bewusst jeden Muskel in ihrem Körper entspannte. Dann schaute sie wieder zu Malfoy, der abwartend an einen Tisch gelehnt dastand.
„Mir tut es leid", sagte sie leise. „Ich ... manchmal hab ich solche ... Flashbacks. Es ist nicht deine Schuld, das ist alles ... es liegt an mir. Ich dachte, ich hätte das im Griff, aber offensichtlich nicht, und jetzt ist es wieder passiert, und ich kann mir vorstellen, wie komisch das für dich war."
„Hey", unterbrach Malfoy sie, „hey, Granger. Ganz ruhig. Alles gut, okay? Du musst dich für nichts entschuldigen. Es ist meine Schuld." Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ich hätte dich nicht so in die Ecke drängen sollen. Ich kann mir vorstellen, dass das unangenehm ist."
„Nein, nein!", protestierte sie sofort und trat einen Schritt auf ihn zu. „Du kannst das nicht wissen. Das ist alles nur in meinem Kopf. Seit Greyback ... ah, es ist auch egal. Es ist nicht dein Problem."
Sie wollte an ihm vorbeigehen, um nach ihrer Tasche zu greifen, doch er trat ihr in den Weg. Überrascht blickte sie zu ihm auf.
„Granger", sagte er langsam und schaute ihr dabei endlich in die Augen. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Der Krieg hat uns alle verändert. Das ist okay."
Hermine spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, doch sie blinzelte sie weg. „Ja, naja, der Krieg ist vorbei. Wir müssen im Hier und Jetzt klarkommen."
Wieder versuchte sie, an ihm vorbeizutreten, doch wieder blockierte er den Weg. Er berührte sie nicht, als würde er absichtlich darauf achten, doch er ließ sie auch nicht vorbei.
„Manchmal kann es helfen, sich von solchen Gedanken abzulenken."
Hermine schluckte. Die Worte klangen unschuldig, doch die Art, wie Draco sie anschaute, signalisierte ihr deutlich, was er meinte. Ein Teil von ihr war immer noch wütend auf ihn. Ein Teil von ihr wollte ihn anschreien und ihn fragen, ob er wahnsinnig geworden war.
Aber ein viel größerer Teil wollte einfach in seine Arme sinken und alles vergessen. Er hatte ihre Panik erkannt und sie rausgeholt und ihr versichert, dass sie okay war. Das war mehr, als irgendeiner in den letzten Monaten für sie getan hatte. Er stellte ihre Angst nicht in Frage. Vielleicht hatte er niedere Motive. Vielleicht würde er sich danach wieder gegen sie wenden und sie wütend angreifen.
Doch der reale Draco Malfoy hatte plötzlich Züge getragen, die sie ihrem Fantasie-Draco angedichtet hatte, und sie konnte dem nicht widerstehen. Sie konnte einfach nicht.
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