Sucht
Das Pärchen am Nachbartisch widerte Anna an. Betrunken in ihrer Verliebtheit schmachteten die beiden Mittzwanziger sich an, hielten Händchen und lachten pausenlos. Was für eine Beleidigung für Menschen wie Anna, die wussten, wie das Leben wirklich war: Unbarmherzig und ungerecht. Eine Urgewalt, die einen jederzeit in den Abgrund ziehen konnte, wenn man nicht aufpasste. Die einem die Seele raubte, sobald man unvorsichtig war. Anna war seit Jahren nicht mehr betrunken vor Freude gewesen, sondern bloß vom Alkohol.
Sie winkte dem Kellner zu, um sich ein neues Glas Schnaps zu bestellen. Das Paar lieferte sich derweil einen Komplimentewettstreit. „Du bist wunderbar, Emma", lobte der Mann seine Freundin. „Und du bist immer für mich und unsere Kleine da, wenn wir dich brauchen, Tom. Ich bin so glücklich mit unserer kleinen Familie", hauchte diese. Anna verlangte drei weitere Korn. Einen Kurzen für jeden schmalzigen Satz. Sie trank sie in einem Rutsch aus.
Bevor sie alles in sich zu betäuben begonnen hatte, gab es eine Zeit, in der Anna glaubte, die Liebe gefunden zu haben. Da war ein Mann gewesen, Stefan, der sie auf Händen getragen hatte. Gemeinsam standen sie gegen den Rest der Welt. Sie machten dieselben Witze und amüsierten sich über seinen Chef, der jeden seinen Untergebenen als Nichtsnutz bezeichnete. Er trägt die Nase so weit oben, dass er das Loch nicht sieht, in das er fallen wird, hatten sie gescherzt. Nicht ahnend, dass Stefan seine Nachfolge antreten würde. In allen Belangen.
Anna war fortan ein unnützes, dummes Anhängsel seiner vermeintlichen Brillanz. Ihr Kinderwunsch wurde von Stefan unwirsch weggewischt – „Keine Zeit!" – und von Tag zu Tag fühlte Anna sich unbedeutender, unwichtiger. Als herauskam, dass der Verlobungsring, den Stefan ihr zwischen zwei Geschäftsterminen hektisch an den Finger gesteckt hatte, gestohlen war, war es endgültig vorbei gewesen. Dass er ihren Ring bei einem dubiosen Flughafendieb gekauft hatte, war für sie das perfekte Sinnbild für ihre Beziehung gewesen. Anna verließ ihn, verzweifelte am Alleinsein und stürzte ab.
Sie orderte die Rechnung. 15 Euro für sechs Kurze. Scheiße, so viel Geld hatte sie nicht. Ihre Karte war gesperrt, die Münzen in ihrem zerfledderten Portemonnaie reichten nicht aus. Unauffällig versuchte Anna sich wegzuschleichen, öffnete die Tür und war fast verschwunden, als sie über ihre Füße stolperte und hart auf den Asphalt aufschlug. Der Alkohol hatte seine Wirkung entfaltet. Schmerz durchfuhr sie und sie erwartete jederzeit den wutschnaubenden Kellner in der Tür zu erblicken. Doch als diese hinter ihr erneut aufschwang, stand nicht der Ober vor ihr. Es war der Mann vom Nachbartisch.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen", sagte er.
„Isch komm klar", nuschelte Anna.
„Wir alle fallen im Laufe unseres Lebens hin und es ist wichtig, dass dann jemand da ist, der uns beim Aufstehen hilft", insistierte Tom und Anna ergriff seine ausgestreckte Hand.
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