Mitgefühl

Jakob mochte Trauerfeiern. Er wusste, es war seltsam, aber er verband damit ausschließlich gute Dinge. Also nicht mit diesem kirchlichen Trauerkram und dem unsäglichen Sargniedergelasse, sondern mit den Treffen, bei denen Familie, Freunde und Bekannte beisammensaßen und des Verstorbenen gedachten. Es gab dort Kuchen, manchmal belegte Brötchen und mit viel Glück einen Gedenkschnaps. Der Schnaps war eine wunderbare Tradition.

Stellte man sich geschickt genug an, war es nicht schwierig, sich als Fremder auf diese Zusammenkünfte zu schleichen. Jakob las die Traueranzeigen in den Tageszeitungen auf der Suche nach einer Familie, die ungeschickt genug war, eine Einladung zu dem Gedenktreffen abzudrucken, oder er scharwenzelte lange genug um eine Trauergemeinschaft bei der Kirche herum, um die entscheidenden Informationen abzugreifen. Heute war letzteres der Fall. „Wir sehen uns gleich im Café Naomi. Da stoßen wir im Gedenken auf Ben an", hörte er jemanden sagen und machte sich sogleich auf den Weg zur besagten Lokalität unweit der Kapelle.

Die zehn Tische im Restaurant waren schlicht schwarz dekoriert. Auf einem stand ein Foto des Toten. Er sah jung aus, keine vierzig und seine Augen glänzten vor Lebensfreude. Jakob musterte das Bild nur kurz, bevor er sich einen Platz suchte. Vielen fiel es nicht auf, aber Trauergesellschaften sortierten sich immer nach demselben Schema, einem ungeschriebenen Gesetz, dem alle folgten: Vorne saß die Familie, und alle anderen Gäste ordneten sich nach absteigendem Verbundenheitsgrad, wie von Zauberhand geleitet um ihren Tisch herum an. Jakob nahm in der hintersten Ecke Platz. Hier würde er nicht auffallen.

Allmählich füllte sich der Raum und eine alte Dame setzte sich neben Jakob. Mit einem dahin genuschelten „Hallo" begrüßten sie einander und urplötzlich fing die Dame an zu reden. Ohne Punkt und Komma. Wie schrecklich es sei, das mit Ben. Wie sehr er gelitten habe mit seiner Krankheit und als ihm die Haare ausgefallen seien. Dass er doch eigentlich noch so viele Pläne mit seinem Lebensgefährten gehabt habe. „Hm", brummte Jakob. Wo blieb eigentlich der Kuchen?

„Er war dann ja im Krankenhaus und später kam der Palliativdienst, der ihm bei allem helfen musste, sogar beim...", zeigte sich die Frau unerbittlich, bis es aus Jakob herausplatze: „Ich kannte Ben gar nicht. Ich will das nicht hören. Ich wollte hier bloß in Ruhe etwas essen." Alle starrten ihn an. Die Frau guckte entsetzt. Jakob erhob sich zum Gehen, da klang eine Stimme vom vordersten Tisch hinüber.

„Sie hätten Ben gefallen", sagte ein von Trauer gezeichneter Mann, „er mochte Persönlichkeiten, die aus der Reihe fallen. Sie hätten sich sicher gut verstanden. Bleiben Sie bitte und erzählen uns Ihre Geschichte. Geschichten helfen in dieser schwierigen Zeit."

Die Spur eines Gewissensbisses regte sich in Jakob, als er sich wieder setzte. Der endlich aufgetischte Kuchen schmeckte bitter und Schnaps gab es auch keinen.

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