Einsamkeit

Es war exakt 17.45 Uhr. Nicht 17.44 Uhr oder 17.46 Uhr - derart würde Alfons Schmidt niemals von seinem Zeitplan abweichen - sondern exakt 17.45 Uhr: Zeit zum Abendessen. 

Alfons halbierte wie jeden Tag sein Brötchen, klatschte auf beide Seiten eine angewelkte Scheibe Käse und legte sein Werk auf den Teller. Es folgte der wichtigste Teil seines Abendrituals: Er betrachtete die drei gerahmten Bilder vor sich auf dem Tisch und gab jedem von ihnen einen Kuss. Seiner geliebten Lieselotte. Wie sehr er sie nach all den Jahren noch immer vermisste. Seinem Sohn Lennart, der nach Paris ausgewandert war, weil er es nach dem Tod seines Lebensgefährten nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung ausgehalten hatte. Er und Alfons telefonierten jeden zweiten Tag um 16.00 Uhr. Und zuletzt seinem Schäferhund Rex. Er war ein wunderbarer, ein ordentlicher Hund gewesen. Ordentlich meinte für Alfons all das, was genauso war, wie es sein sollte.

Alfons machte sich auf den Weg zur Couch. Um Punkt 18.00 Uhr saß er vor dem Fernseher. Die ordentliche Struktur war sein einziger Freund in all der Einsamkeit. Er hielt sein Brötchen an den Mund und wollte eben hineinbeißen, als er ein seltsames Fiepen vernahm. Er schlug mit der Hand gegen den Bildschirm, aber das Fiepen hörte nicht auf. Und eigentlich klang es auch gar nicht wie ein Fiepen - eher wie ein Winseln. Er blickte sich um. In der Wohnung war nichts zu sehen. Er ging zu seinen Vorhängen, zog sie auf und da sah er ihn: Dort in seinem Garten saß ein kleiner, strubbeliger, weißer Hund. Alfons zog die Vorhänge wieder zu.

Andererseits: Er konnte den Hund nicht dort draußen lassen. Egal, wie sehr es seinen Abend durcheinanderbringen würde. Das wäre unordentlich. Also öffnete Alfons die Terrassentür und der Hund stürmte sofort schwanzwedelnd in die Wohnung und wälzte sich auf Alfons' Teppich. Alfons streichelte ihm den Bauch und musste unwillkürlich lächeln. In der Nacht kuschelte sich der Hund an ihn - obwohl Alfons ihm sicher zehnmal gesagt hatte, dass das Bett tabu sei - und das erste Mal seit Langem schlief er bis 06.17 Uhr. Nicht bis Punkt 06.00 Uhr.

Morgens gab er seinem Gast ein Käsebrötchen zu fressen und fand heraus, dass eine Sarah Kiesel einige Straßen weiter ihren Hund vermisste. Er machte sich auf den Weg zu ihr und mit jedem Schritt wurde sein Herz schwerer. Als sie öffnete und erfreut schrie: „Oh mein Gott, Prinzessin, da bist du wieder. Ich lasse nie wieder die Tür auf, wenn ich zum Kleiderschrank renne", drehte Alfons sich bereits weg. Prinzessin war kein ordentlicher Name für einen Hund und außerdem bemerkte er, wie seine Augen feucht wurden.

„Warten Sie", rief ihm Frau Kiesel hinterher. „Ich besuche bald ein Achtsamkeitsseminar, mein Mann hat viel zu tun und es scheint, als hätten Sie und Prinzessin sich gut verstanden. Haben Sie vielleicht Lust hin und wieder auf sie aufzupassen?" Alfons überlegte kurz wie „Hin-und-Wieder" in seinen Zeitplan passen sollte, aber antwortete: „Wann immer Sie möchten."

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