Kapitel 38 [Eve]
Nein. Nein. Nicht. Bitte nicht.
Ich machte einen Schritt zurück, konnte meinen Blick nicht von Daisy lösen. Von ihren schwarzen Haaren, die ihr kantiges Gesicht umrandeten und fast so dunkel wie ihre Augen waren.
Nein.
Kai legte seine Handfläche an Daisys Halsbeuge und dann vergrub er sein Gesicht in den Händen. Paul saß noch immer auf seinem Sofa und schien unter Schock zu stehen. Aus Serayas Augen strömten leise Tränen und sie ließ sich kraftlos neben Noah nieder.
Die Stille war so schwer.
Cuinn starrte reglos auf Daisys Körper, seine braunen Augen glänzten. Er schien den Anblick nicht mehr zu ertragen, denn er wandte sich ab und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
Daisy García war tot. Daisy García.
Meine Verbündete. Meine Freundin.
Ich schluchzte laut auf und presste meine Handfläche auf meinen Mund, um mein Weinen zu ersticken. So hätte es nicht enden sollen. So war das nicht geplant. Wir hätten es alle schaffen sollen. Jeder von uns. Auch Daisy. Vor allem Daisy.
Im Augenwinkel sah ich eine Bewegung. Mein Blick schoss zu Celine, die leicht zuckend am Boden in einer Blutlache lag.
Ich hatte zwei Menschen getötet.
Ein taubes Gefühl breitete sich in mir aus, Selbstzweifel schlichen sich in meine Gedanken, doch mein Zorn überschwemmte sie alle. Mit einem Satz stand ich bei Celine. Anders als Levin und Daisy war sie noch nicht tot. Sie blickte mich mit unter ihrer Maske an, ihre braunen Augen bohrten sich mit einem unbestimmbaren Ausdruck in meine.
„Daisy ist tot“, sagte ich und meine Stimme bebte. „Du...du hast sie getötet.“
Celine hustete, ohne zu antworten, und auf einmal begann ich heftig zu schluchzen. Die Tränen rannten über meine Wangen.
Ich wusste nicht, was ich noch sagen konnte, was ich Celine entgegenschleudern konnte, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie verabscheute. Verachtete.
Ich setzte zu Worten an, doch meine Stimme brach und ich drehte mich von diesen zwei abscheulichen Menschen weg, konnte sie nicht mehr sehen. Meine Augen fanden Cuinns und sie waren ebenso rot und verquollen wie meine.
„Ich hasse es“, flüsterte ich und dann schrie ich noch lauter: „Ich hasse es! Ich hasse dieses verdammte Leben und diese verdammte Ungerechtigkeit und ich hasse alles!“
Stevie. Ich habe es schon wieder nicht geschafft. Ich habe es schon wieder nicht geschafft, jemanden zu retten.
Die Stille wurde lediglich von dem pfeifenden Wind, der durch die Fenster drang, durchbrochen. Ich nahm die salzigen Tränen, die mir über die Lippen rannen, kaum wahr.
Ich wollte noch etwas schreien, doch ich hatte keine Kraft mehr dazu, weshalb ich mit zitternden Knien einfach nur da stand und überall hinblickte, nur nicht auf Daisy, Levin und Celine.
Cuinn stand am anderen Ende des Raumes und schien gegen die Tränen anzukämpfen, doch wie wir alle auch verlor er diesen Kampf.
Ich schloss die Augen, versuchte das Gleichgewicht zu halten und mich selber zu beherrschen.
Ich wollte es Celine heimzahlen. Ich wollte es Levin heimzahlen. Ich wollte es Juna heimzahlen. Ich wollte es dieser verfluchten Welt heimzahlen.
„Das hast du bereits“, sagte Cuinn und ich blinzelte ein paar Mal, verwirrt darüber, dass ich meine rachsüchtigen Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Ich antwortete nicht. Ohne den drei Toten noch einen Blick zu widmen, drehte ich mich um und stürmte aus dem Gemeinschaftsraum. Durch den Korridor, dessen Wände mich einzuengen schienen. Sie näherten sich mir, pressten meine Lungenflügel zusammen.
Ich kann nicht atmen.
Mit großen Schritten eilte ich zur Haustür, rannte über den kalten Schnee, der unter meinen Schuhen knirschte. Die eiskalten Schneeflocken landeten sanft auf meiner Haut, doch der Schneesturm schien bereits fast komplett aufgehört zu haben.
Der Himmel war so klar, so blau.
Der pfeifende Wind fegte durch meine Haare, doch ich verlangsamte meine Schritte nicht. Sie trugen mich zu dem Helikopter, der mitten auf dem großen Feld stand. Ich sah im Cockpit jemanden sitzen, weshalb ich langsam abbremste.
Mit leerem Blick näherte ich mich dem Hubschrauber und der Pilot schwang sich aus der geöffneten Tür.
Es war ein junger Mann mit schwarzen Haaren, der mir einen düsteren Blick zuwarf.
„Sie sind tot“, sagte ich mit ruhiger Stimme. „Wenn du uns von hier wegbringst, werden wir niemandem verraten, dass du ihr Komplize warst.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte der Pilot. „Ich bin von niemandem der Komplize. Ich wurde nur beauftragt, hierherzukommen, um drei Leute abzuholen. Für den richtigen Preis, versteht sich.“ Ich war weder blind noch blöd, denn ich sah in seinem finsteren Gesicht ganz klar, dass er nur die Masche des Unwissenden spielte.
„Wir zahlen den richtigen Preis“, erklärte ich, ohne den Blick abzuwenden und hörte hinter mir die Schritte der Anderen, die langsam das Haus verließen. „Wir werden der Polizei sagen, dass du von Levin, Celine und Juna gezwungen wurdest, sie abzuholen und sie dich erpresst haben. Dass du nichts mit ihnen zu tun hattest.“
Ich streckte meine Hand aus. Der Pilot betrachtete sie einen Moment lang, ehe er ein paar Schritte auf mich zu machte, und mit seiner kalten Hand einschlug.
„Was sowieso der Wahrheit entspricht. Ich habe nichts mit ihnen zu tun gehabt. Mir wurde nicht mitgeteilt, was sie hier vorhatten.“ Seine Augen verrieten ihn. Ein verzweifelter Lügner. Aber einer, der unser Ticket nach draußen ist.
Ich nickte und drehte mich zu den Anderen, die aus dem Haus kamen. Sie trugen ihre Reisetaschen. Als würden sie aus einem gewöhnlichen Urlaub abreisen.
Kai trug Daisys leblosen Körper, denn sie sollte nicht hier bleiben und darauf warten müssen, bis ihre Leiche von der Polizei abgeholt wurde.
Mein Blick schweifte über die fünf Menschen, mit denen ich diese Hölle überstanden hatte und über den einen Menschen, den es gekostet hatte.
Es hat zu viel gekostet.
Während der Pilot Kai dabei half, Daisy in den Helikopter zu bugsieren und Seraya Noah stützte, der mit leerem Blick zwischen Seraya und Paul auf den Helikopter zu humpelte, entdeckte ich Cuinn, der etwas abseits stand und in den Abgrund blickte.
„Einen Moment noch“, bat ich den Piloten, der mit den Schultern zuckte, denn solange der Preis stimmte, schien ihm egal zu sein, wann und wohin wir gingen.
Ich trat neben Cuinn und als ich in den Abgrund blickte, sah ich das, was Cuinns Blick so anzog.
Es war ein Körper, der in einer Blutlache lag. Das Blut war so rot wie die Haare der Frau. Feuerrot.
Meine Augen schweiften wieder zurück zu Cuinn, dessen Blick starr auf Junas Leiche lag. Sein ganzer Körper zitterte, obwohl er sich über seinen schwarzen Kapuzenpulli eine Daunenjacke gezogen hatte.
„Jetzt sind sie alle tot“, flüsterte ich. „Levin. Und die drei Frauen, die ihn alle geliebt haben.“ Ich schluckte schwer. „Aber Daisy war stärker als sie alle zusammen. Sie wäre nie so tief gesunken und hätte Menschen verletzt und getötet, nur um Levin zu gewinnen. Daisy hat das alles nicht verdient.“
Ein Schluchzen presste sich aus meiner Kehle und es klang so kläglich und bitter, dass ich die Tränen nicht mehr aufhalten konnte.
Cuinn drehte seinen Kopf zu mir, doch er war zu erschüttert, um etwas zu sagen.
„Ich kann nicht fassen, dass Daisy diesen Ort hier nie verlassen wird“, sagte ich leise und blinzelte in den Wind. „Es ist, als wäre alles umsonst gewesen. Es ist alles umsonst gewesen.“
„Eve...“
„Daisy war so zerbrochen, musste so viel erleben und trotzdem wurde sie bestraft. Das ist der verfluchte Grund, wieso ich nicht an einen Gott glaube. Welcher Gott lässt zu, dass so etwas passiert? Dass so grausame Menschen wie Levin einen Schuss überleben, aber Daisy nicht.“ Ich schluckte. „Ich hätte schneller schießen müssen. Ich hätte sie beide erschießen müssen, bevor sie Daisy treffen konnten. Nur ein kleines bisschen schneller, nur…“
„Eve!“
„Was?!“ Meine Tränen glühten, brannten sich in meine Haut ein.
Cuinn raufte sich die Haare und presste die Lippen fest aufeinander. „Die Welt ist grausam. Aber du bist nicht Schuld daran.“ Er zögerte kurz, ehe er kurz die Augen schloss und wieder aufschlug. „Ich habe ehrlich gesagt nie damit gerechnet, dass wir es alle hier raus schaffen. Und ich habe auch nie von dir erwartet, dass du sie beide schnell genug erschießt. Ich wusste, dass sie vermutlich noch jemanden treffen würden. Dass es jemanden von uns treffen würde.“
Er atmete tief durch und wandte den Blick von mir ab. „Aber eigentlich habe ich damit gerechnet, dass sie auf mich schießen würden. Ich habe schließlich die ganze Zeit geredet und provoziert. Die Aufmerksamkeit lag auf mir und auch ihre Waffen waren auf mich gerichtet… sie hätten also auf mich schießen müssen, nicht auf…“ Seine Stimme brach.
„Nein. Nein! Das kannst du nicht sagen.“ Ich packte ihn bei der Hand, drückte sie. „Du wünscht dir, du wärst an ihrer Stelle getroffen worden! Du wünscht dir, dass sie dich getötet hätten! Das… darfst du nicht!“
Ein mattes Lächeln erschien auf Cuinns Lippen und er musterte unsere Hände stumm, ehe er wieder aufblickte. „Ich darf das nicht.“ Ich wusste nicht, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. „Ich darf das also nicht. Aber merkst du nicht auch, dass du das Gleiche wie ich tust? Du wünscht dir, du hättest schneller geschossen, obwohl es unmöglich für dich wäre. Ich wünsche mir, sie hätten einfach auf mich geschossen. Hätte, wünschte, wäre. Diese Wörter sind Gift, Eve. Gift.“
Ich schloss die Augen und ich weinte, denn er hatte Recht, er hatte natürlich Recht.
Doch mit geschlossenen Augen war alles schlimmer, denn ich sah Daisy, die wunderschöne, lächelnde Daisy, die so oft verraten und benutzt und verletzt worden war. Ermordet.
„Daisy ist tot.“ Cuinns Stimme zitterte. „Aber ‚ich hätte, ich könnte, ich wünschte‘ werden sie uns nicht wieder zurückbringen.“
„Cuinn! Eve!“, erklang Kais Stimme vom Helikopter aus. „Wir fahren jetzt. Kommt.“ Seine Worte wurden fast vom rauschenden Wind verschluckt. Ich nickte schwach.
Cuinns Augen ruhten noch immer auf mir. „Eve. Tu mir einen Gefallen“, sagte er leise, während ich die Tränen beobachtete, die über seine Wangen eilten wie verzweigte Flüsse. „Lass dich nicht von diesem Gift zerfressen. Es ist vorbei.“
Meine Kehle wurde trocken, mein Blick verschwommen, doch ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
Daisys toter Körper schwebte in meinem Kopf, übertönte jeden anderen Gedanken, der sich befreien wollte, verschluckte alles und jeden anderen.
„Ich habe deine Tasche aus dem Haus geholt“, sagte Cuinn schließlich, als ich nicht antwortete und deutete auf die zweite Tasche, die er bei sich trug, ehe er sich umdrehte.
Langsam näherte er sich dem Hubschrauber, entfernte sich von dem tiefen, kalten Abgrund voller Tod und Unheil.
„Warte kurz, Cuinn“, flüsterte ich, immer noch auf der selben Stelle verharrend, als wäre ich fest gewachsen. Fast glaubte ich, er hätte mein Wispern nicht mehr gehört, doch er hielt inne und drehte sich kurz zu mir. Es war ein wenig nebelig, weshalb ich ihn nicht gut erkennen konnte. „Danke. Für...für alles.“
„Das ist doch kein Abschied, Eve, oder?“, erwiderte Cuinn und ich meinte, eine Spur von Wehmut in seiner Stimme zu hören. Ich weiß es nicht, flüsterten meine Gedanken. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird.
„Nein, ist es nicht“, sagte ich stattdessen und befeuchtete kurz meine Lippen. „Gleich sind wir frei, Cuinn. Und wir können mit unserer Freiheit machen, was auch immer wir wollen. Das hier ist kein Abschied. Sondern ein Neuanfang.“
Wir schwiegen einen Moment lang und dann erkannte ich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen.
„Komm, Eve“, sagte er leise und gemeinsam eilten wir zu dem Hubschrauber. Unserer Rettung.
Als wir abhoben, lehnte ich meinen Kopf gegen die Scheibe und blickte nach unten.
Meine Augen schweiften über die schneebedeckten Berggipfel, über den See und die vielen Nadelbäume, die die Luft so erfrischt hatten. Ich sah auf die Brückentrümmer und zuletzt auf den Rubinpalast, der friedlich und idyllisch auf dem Plateau thronte.
Es war zweifellos ein verfluchter Ort. Ein gottverlassener Berg. Ich hasste dieses Haus.
Es war nicht zu meinem Grab geworden. Aber zu Daisys.
Je höher und weiter wir flogen, desto unklarer wurde das Bild. Langsam verschwand der Rubinpalast aus meiner Sicht, verblasste im Nebel und dem aufkommenden Schneesturm.
Vergiss mich nicht, hatte Daisy geflüstert.
Und während wir in unsere Freiheit flogen, während ich meinen Blick über die Anderen schweifen ließ, wiederholte ich leise die Worte, die ich auch Daisy gesagt hatte. „Niemals, Daisy.“
Niemals.
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