Kapitel 36 [Eve]

Ich hörte Cuinns dumpfen Herzschlag neben mir, seinen hektischen Atem. Aber was ich noch deutlicher hörte, war das Geräusch von Propellern.

Es war noch weit weg, doch es näherte sich.

Ist das die Bergwacht? Die Polizei?, fragte ich mich voller Hoffnung, doch mir war klar, dass die wahrscheinlichste Antwort war, dass es sich um den Helikopter eines Komplizen handelte. Dass die Täter planten, noch heute, jetzt gleich, abzureisen.

Und ich wusste natürlich, was das für uns bedeutete.

Ich schloss die Augen, versuchte meinen Atem zu beruhigen, doch egal, wie sehr ich mich anstrengte, es brachte nichts.

Warum sollte ich auch Ruhe bewahren? Was würde es nützen?

„Wir werden nicht einfach so sterben“, hatte mir Cuinn gesagt und ich erinnerte mich an seine Fingerspitzen an meiner Wange, die federleichte Berührung seiner Lippen.

Er hatte es mir versprochen. Und als er mich dabei angesehen hatte, hatte ich ihm geglaubt, denn in seinen wunderschönen Augen hatte ich einen starken Willen, Hoffnung und Zuversicht gesehen.

Doch Cuinn war nur ein Mensch.

Er konnte nicht gegen mehrere Menschen mit Waffen kämpfen. Konnte keine Luftschiffe bauen, die uns von diesem Berggipfel bringen konnten. Auch Cuinn konnte nicht alle Versprechen halten.

Sieben auf einen Streich. Was bedeutete das? Was zur Hölle meinte der Maskierte mit diesem Satz?

Mein Gehirn ist inzwischen wohl eingerostet. Sieben auf einen Streich bedeutet offensichtlich, dass sieben von uns kein gutes Ende nehmen werden. Die Frage ist nur, was passiert mit dem achten von uns?

Ich wagte es nicht, meine Stimme zu erheben oder mich zu rühren.

Die Stille wurde lediglich von unserem Atem und dem leisen Rauschen des sich nähernden Helikopters erfüllt.

Meine Hand griff unwillkürlich nach Cuinns und auch, wenn ich ihn nur aus dem Augenwinkel sah, wusste ich, dass seine Gesichtszüge verängstigt waren.

Wo ist sein Willen? Wo ist die Hoffnung, die er mir vorhin noch gegeben hat? Oder hat er sie mir nur vorgespielt, um mich zum Lächeln zu bringen? Um mir den Mut zu geben, ihn zu küssen?

Noch im selben Moment schämte ich mich für diese Gedanken. Ich wandte mich zu Cuinn und musterte sein Gesicht, versuchte mich zu beruhigen, indem ich in Gedanken an seinen Gesichtszügen entlang fuhr.

Sie waren ernst, verloren.

Aber, als er seinen Kopf leicht drehte, entspannte sich seine Miene ein wenig und er legte den Kopf schräg, während er mich betrachtete.

„Wisst ihr, es ist an der Zeit, dass ihr erfahrt, wer die Person unter euch ist, mit der wir zusammengearbeitet haben, findet ihr nicht?“, fuhr die Gestalt fort und genoss es sichtlich, uns zusammenzucken zu sehen.

Niemand antwortete. Niemand wollte eine Antwort und doch wollten wir eine.

Ich wandte den Blick von Cuinn ab, ohne jedoch seine kalte Hand loszulassen.

„Es gibt eine Person, die euch nicht alles erzählt hat. Eine Person, die sich dazu entschlossen hat, mit uns zusammenarbeiten. Aus ganz anderen Gründen.“

„Du lügst. Schon wieder“, zischte Seraya, verstummte jedoch rasch, als die zweite, schweigende Silhouette die Waffe auf sie richtete.

„Einer von euch spielt ein Spiel mit euch. Und ich sage, ehrlich, ich bin beeindruckt, wie echt alles wirkte. Ich habe es sogar fast selber abgekauft, so gut hat derjenige gelogen und geschauspielert.“ Die Gestalt lachte. „Und jeder von euch ist darauf hereingefallen. Sogar die kluge. Intelligente. Rationale. Evelyn.“

Ich presste die Lippen fest aufeinander, hielt den Blick starr auf der Gestalt, die langsam ihren Blick über mich gleiten ließ und letztendlich ihre Augen auf Cuinns und meine verschränkten Finger legte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, doch ich ließ mich nicht beirren.

„Und diese Person hat allen Grund mit uns zusammen zu arbeiten. Denn sie ist hierher gekommen, mit einem Ziel: Daisy alles heimzuzahlen, was sie getan hat.“

Ich sah, wie Daisy blass wurde und dennoch ihr Kinn hob. „Was ist es denn dieses Mal? Was habe ich noch getan?“

Der Schatten seufzte laut und blickte zu Cuinn. Seine kalte Hand schwitzte auf einmal, sein Blick war so starr und kühl, dass ich meinen Kopf zu ihm drehte.

„Cuinn“, flötete die Stimme. „Cuinn hasst dich, Daisy. Bei dem Vorfall im Ballett, der wegen dir geschehen ist, hat er seine Cousine verloren. Sie war von Levins Schlag ohnmächtig und wurde von dem fliehenden Publikum überrannt. Das wusstet ihr alle vermutlich schon. Aber hat Cuinn euch erzählt, was er vor nicht einmal vier Monaten erfahren hat? Er ist an die Überwachungskamera gekommen. Und wisst ihr, was er gesehen hat? Er hat gesehen, dass Daisy, die damals auf der Bühne lag, gesehen hat, wo Sophie lag. Sie hat die Ohnmächtige angeblickt. Aber anstatt sie zu retten, hat sie nichts getan, außer hinzusehen, sie hat sich nicht gerührt, hat nicht geholfen, obwohl Sophie sich Levin doch in den Weg gestellt hatte, um Daisy zu helfen. Daisy hätte Sophie damals retten können, doch sie tat es nicht. Das erfuhr Cuinn vor nicht allzu langer Zeit. Und er entschied sich, es Daisy heimzuzahlen. Denn sie hatte nicht gehandelt, um Sophie vor den Menschenmassen zu bewahren.“

Die Stille, die daraufhin eintrat, war heimtückisch, verräterisch.

Cuinns Finger fühlten sich plötzlich so seltsam in meinen an, ich verbrannte mich beinahe an dieser Berührung.

Langsam löste ich unsere Hände voneinander, vermied es, Cuinn in die Augen zu blicken. Ich fühlte mich plötzlich unglaublich leer. Ich wusste, dass Cuinn mich ansah, ich wusste, dass er in meinem Gesicht nach einer Reaktion suchte, doch meine Gesichtsmuskeln schienen nicht mehr in der Lage zu sein, sich anzuspannen.

Ausdruckslos wirkte ich vermutlich gerade. Gleichgültig.

Dabei war das Gegenteil der Fall. Es fühlte sich an, als wäre mir ein Messer ins Herz gestoßen worden.

„Stimmt das, Cuinn? Hast du uns all das verschwiegen?“, fragte jemand, doch ich hörte die Worte kaum. Ich wollte die Antwort nicht wissen.

Sag nein, wollte ich schreien. Sag, dass das alles eine Lüge ist.

„Ja“, sagte Cuinn ruhig und, obwohl er neben mir saß, fühlte es sich an, als säße er viele Meter weit weg. „Ja, das habe ich euch verschwiegen.“

„Du hast deine Rolle wirklich sehr überzeugend gespielt, Cuinn“, sagte die Gestalt. „Besonders die Szenen mit Eve waren äußerst amüsant anzusehen. Deine Schauspielkünste sind hervorragend.“

Ich presste die Lippen fest aufeinander, um zu verhindern, dass ihnen ein Schrei entwich. Meine Hände wollten auf den Tisch schlagen, doch ich beherrschte mich, denn es war das, was ich am besten konnte.

Mich beherrschen.

Meine Gefühle herunterschlucken. Meinen Schmerz verbergen.

Ich sah, wie Daisy weinte. Ich sah in ihren Augen, dass sie sich die Schuld an allem gab.

Es ist ja auch alles ihre Schuld, rief ein Teil meiner undankbaren, hinterhältigen Gedanken, doch ich schüttelte den Kopf. Nein. Das ist schon lange nicht mehr nur Daisys Schuld.

Cuinn bewegte sich neben mir, beugte sich nach vorne. „Wer sagt, dass die Szenen mit Eve geschauspielert waren?“, fragte er mit seiner ruhigen Stimme und ich fuhr zu ihm herum.

„Es ist egal, was geschauspielert war und was nicht“, zischte ich und begegnete zum ersten Mal seinem Blick. Mein Ausdruck war kühl. Verächtlich. Doch, als Cuinn meinen Blick erwiderte, wusste ich, dass er in meinen Augen die Enttäuschung entdeckt hatte.

Den Schmerz.

Ich konnte seine Augen nicht deuten. Er war schon immer ein hervorragender Lügner. Doch ich hatte gedacht, er würde sich mir langsam zeigen, so wie ich es auch getan hatte.

„Ich zeige mich“, hatte er gesagt, als ich ihn weinen gesehen hatte. „Es gibt nichts, was ich mehr hasse, als Menschen, die mir ins Gesicht lügen“, waren ebenfalls seine Worte gewesen und auf einmal erschienen sie mir so unglaublich ironisch, dass ich auflachte, ohne den Blick von Cuinn zu nehmen.

„Stimmt das alles?“, fragte ich, obwohl diese Frage bereits gefragt und von Cuinn höchstpersönlich mit ja beantwortet worden war.

Und dennoch hegte ich die Hoffnung, sie würde jetzt anders ausfallen. „Stimmt das, habe ich gefragt?!“, zischte ich und blinzelte mehrmals, denn auf einmal brannten meine Augen fürchterlich. Ich spürte die tief sitzende Enttäuschung, sah sie in jedem Gesicht.

Cuinns Augen waren leer. Kalt. Als wäre er nicht er selbst. Oder als wäre er nie er selbst gewesen…

„Ja. Ich habe vor wenigen Monaten auf der Überwachungskamera gesehen, dass Daisy Sophie gerettet haben könnte, stattdessen aber nur reglos auf der Bühne gesessen hat, um zuzusehen, wie Sophie von der Menge überrannt wurde“, erwiderte Cuinn, während Daisy im Hintergrund leise weinte und Entschuldigungen aussprach, die niemandem mehr etwas brachten.

„Das war nicht meine Frage“, zischte ich. „Meine Frage war, ob es stimmt, dass du mit diesen zwei verfluchten Arschlöchern zusammenarbeitest. Ob du das alles gemeinsam mit ihnen inszeniert hast.“ Ob das alles zwischen uns nur Einbildung war, wollte ich hinzufügen, doch ich schluckte diese Worte hinunter wie Tabletten, die bitter und widerlich schmeckten.

Cuinn erwiderte nichts und griff fast schon beiläufig an seinen Hals, um mit seinen Fingern an seiner Kette zu spielen. Seiner verdammten Froschkönig-Kette.

„Verräter“, presste Kai hervor und ich sah in seinen Augen einen unglaublichen Schmerz.

Verräter. Verräter. Verräter. Wie ich dieses Wort inzwischen hasse.

Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen, konzentrierte mich auf meinen Atem, denn ich wusste nicht, wie ich es sonst schaffen sollte, ruhig und gefasst zu bleiben. All die Zeit mit Cuinn. Jeder Moment war eine Lüge. Eine so schöne Lüge an einem schrecklichen Ort wie diesem.

„Eve“, sagte Cuinn und als ich nicht reagierte, wiederholte er meinen Namen dringlicher. „Vertraust du mir?“

Ich blinzelte mehrmals, völlig ungläubig, dass er tatsächlich so dreist war, so etwas zu fragen. Ich öffnete meinen Mund, doch meine Stimme brach und einer einsamen Träne gelang es, meinen Augen zu entschlüpfen, obwohl ich mich doch so sehr bemüht hatte, sie zu unterdrücken.

Cuinns Gesicht regte sich nicht, er saß direkt neben mir, doch wir berührten uns nicht, versuchten so viel Abstand zueinander zu haben wie nur möglich auf so einem kleinen Sofa.

„Wie tragisch!“, flüsterte die düstere Gestalt und ich hasste sie abgrundtief, so abgrundtief, wie ich niemanden hasste. Nicht einmal Paul, der Schuld an Stevies Tod war, nicht einmal Cuinn, der meine Gefühle missbraucht und benutzt und hintergangen hatte.

„Gib mir einen guten Grund dir zu vertrauen“, flüsterte ich und meine Worte waren nicht einmal ein Hauchen, so leise waren sie. „Gib mir einen guten Grund dazu.“

Cuinn schwieg einen Moment und dann streckte er seine Hand nach mir aus. Ich spürte alle Blicke auf uns, sah, wie sich seine Hand meinem Gesicht näherte. Alles in mir wollte schreien und sich wegdrehen, Cuinns Berührung ausweichen, doch ein kleiner, verräterischer Teil in mir sehnte sich danach.

Cuinn beobachtete jede meiner Regungen und als ich mich nicht von ihm weg bewegte, entdeckte ich ein kleines, kaum sichtbares Lächeln auf seinen Lippen.

Er beugte sich zu mir und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab. Ich war wie erstarrt, konnte mich nicht bewegen, denn alles, was ich spürte war Verwirrung und Enttäuschung und Schmerz und vielleicht auch ein bisschen Sehnsucht, denn Cuinns Kopf in meiner Halsbeuge fühlte sich so schön, so einfach an.

Auch, wenn uns jeder beobachtete, wenn sich jeder vermutlich fragte, was mit meinem Gehirn falsch gelaufen war – ich genoss dennoch die sanfte Berührung.

„Die zwei Täter wollen doch ein Theaterstück, oder?“, flüsterte Cuinn mir ins Ohr, so leise, dass selbst ich es kaum hörte. Ich spürte sein Lächeln an meinem Ohr. „Findest du nicht, dass wir ihnen dann auch eines liefern sollten? Ein schönes, dramatisches Theaterstück, bei dem sie sich köstlich amüsieren.“ Sein Gesicht war so gedreht, dass die Anwesenden nicht sehen konnten, wie sich Cuinns Lippen bewegten. Mein Herz raste. „Wir brauchen nur genügend Zeit, damit das Märchen noch so lange wie möglich geht. Wir brauchen noch genug Zeit für das, was wir in der Nacht besprochen haben.“

Der Helikopter war nun so laut, dass man uns selbst dann nicht gehört hätte, wenn wir laut gesprochen hätten.

Cuinn machte Anstalten, sich wieder von mir zu entfernen, doch meine Hand umfasste seinen Nacken und hielt ihn noch für einen Moment bei mir.

„Cuinn. Das alles, was du gerade gesagt hast, war also nur Teil deines Theaterstücks oder? Du bist kein Verräter, oder?“

„Nein, bin ich nicht“, erwiderte Cuinn leise. „Aber, um dich zu zitieren, würde ich das auch behaupten, wenn ich ein Verräter wäre.“

Ich schluckte, schloss kurz die Augen, dachte an jeden Moment zurück, den ich mit Cuinn verbracht hatte. Jedes Wort, das er ausgesprochen hatte, jede Berührung, jeden Gesichtsausdruck. All das konnte keine Lüge gewesen sein. Unmöglich. Wir werden nicht einfach so sterben. Wir werden nicht einfach so sterben. Immer wieder spielte ich diese Worte vor meinem inneren Auge ab. Und: Hör zu, Eve. Ich habe einen Plan.

„Um deine Frage zu beantworten, ich vertraue dir“, sagte ich schließlich und meine Worte wurden von dem Helikopter verschluckt, der nun direkt über dem Haus zu kreisen schien. „Aber, falls du dich als Lügner und Verräter entpuppen solltest, bringe ich dich eigenhändig um.“

Cuinn lächelte in meine Haare hinein. „Keine Sorge. Ich würde es niemals riskieren, mich mit dir anzulegen.“

Seine Lippen blieben eine Sekunde länger als erwartet an meiner Schläfe, ehe er sich zurückzog. Vorsichtig berührte ich meine Wange mit meiner Fingerspitze und stellte fest, dass sie nass war.

„Wie rührend deine Naivität doch ist, Eve“, sagte die dunkle Gestalt mit einem Lachen. „Du lässt dich tatsächlich leichter manipulieren, als erwartet.“

Unsicherheit und Angst machten sich in mir breit, doch ein kurzer Seitenblick zu Cuinn ließ mich tief durchatmen.

„Eve. Du solltest niemandem einfach so vertrauen“, sagte nun auch Kai, während Daisy noch immer benommen vor sich hin weinte und die Anderen schweigend und schockiert umherblickten, nicht in der Lage zu verstehen, was vorging.

„Mach dir keine Sorgen um mich“, antwortete ich Kai mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Ich weiß noch sehr gut, wie ich meinen Verstand benutze, vielen Dank.“

Weiß ich das?, wollte eine skeptische Stimme in meinem Kopf wissen, doch ich blendete sie aus.

Cuinn wirkte nachdenklich, und wenn ich ihn nicht besser kennen würde, würde ich meinen, er hätte keine Angst, doch inzwischen wusste ich, dass er sie lediglich tief in sich begrub.

„Jeder hier kann glauben, was er will“, sagte er ruhig und scheinbar gleichgültig. „Ich kann euch aber versichern, dass ich Daisy nicht hasse. Und selbst wenn ich sie hassen würde, würde ich nicht so tief sinken, diesen Scheiß hier abzuziehen.“

Daisys verquollene Augen legten sich auf Cuinn und ich sah in ihnen Dankbarkeit und Schuld.

„Ich arbeite nicht mit diesen zwei Idioten zusammen“, fügte Cuinn hinzu. „Nichts, was ich hier getan oder gesagt habe, war nur ein Schauspiel, um euch zu hintergehen.“

Ich meinte, dass er mir einen flüchtigen Blick zuwarf und verspürte ein warmes Gefühl der Erleichterung in meinem Körper aufblühen. Das, was ich heute Nacht zu dir gesagt habe, war ehrlich, schienen seine Augen mir zu sagen. Das alles war ich.

Einen Moment herrschte Stille, dann lachte die Gestalt auf. „Nun, es ist Zeit, dass wir es beenden.“

Cuinn nickte wissend und mein Puls schoss augenblicklich in die Höhe.

Immer wieder rief ich mir Cuinns Worte ins Gedächtnis, die er mir ins ohr geflüstert hatte, als wir nachts in unserem Gefängnis auf dem Boden gelegen hatten. So nah beieinander.
Eve, ich habe einen Plan.

Es war Zeit.

„Und was ist, wenn ich dir sage, dass ich weiß, wer du bist?“, fragte Cuinn mit einem gelassenen Lächeln auf den Lippen, das jeden Betrachter gekonnt von seinen verängstigten Augen ablenkte.

Stille breitete sich aus und ich versuchte, mir nicht ansehen zu lassen, dass ich nicht überrascht war.

Meine Gedanken rasten, durchspielten jeden Moment, den wir hier erlebt hatten und beteten, dass alles so kommen würde, wie wir hofften.

Als die sprachlose Gestalt keine Antwort darauf gab, fuhr Cuinn unbeirrt fort: „Und was ist, wenn ich bereits irgendwo hier auf dem Grundstück oder im Haus eine Nachricht versteckt habe, in der steht, wer der Täter ist? In der dein Name und alle Beweise stehen? Ich habe einigen Freunden gesagt, wo ich hingefahren bin. Sie würden dafür sorgen, dass dieser Zettel gefunden werden würde. Und dass ihr beide hinter Gitter kommt.“

Er erhob sich schwungvoll von der Couch und machte einen Schritt auf die Gestalt zu, während ich jede seiner Bewegungen beobachtete.

Die bewaffnete Gestalt schien sich zu fragen, ob all das möglicherweise nur ein Bluff war, doch ehe sie etwas sagte, richtete sie den Pistolenlauf auf Cuinns Brust.

Mein gesamter Körper spannte sich an. Ich konnte sehen, dass Cuinn Angst hatte, jedoch hatte er die beeindruckende Fähigkeit diese Angst so aussehen zu lassen, als wäre sie gespielt. Ein weiteres Schauspiel, das er aufführte.

Er hob beide Hände. „Es gibt natürlich immer noch die Option, dass ihr uns freilasst. Jeder von uns hier wäre bereit dazu, das alles hier niemandem zu erzählen, solange wir leben und von hier weg dürfen.“

Die schwarz gekleidete Gestalt lachte.

„Du kannst gar nicht wissen, wer ich bin“, zischte sie verächtlich. „Du kennst mich nämlich nicht einmal. Aber netter Versuch.“

„Wir können doch ziemlich einfach klären, ob ich lüge, oder nicht? Ich brauche euch ja nur zu beweisen, dass ich weiß, wer ihr seid“, erwiderte Cuinn, ohne zu blinzeln, ohne zu zögern.

Ich versteifte mich und lauschte dem Helikopter. Er schien auf der großen, schneebedeckten Fläche vor dem Haus zu landen und ich wagte es, mich umzudrehen, um aus dem Fenster zu blicken.

Der Hubschrauber der Täter thronte inmitten der hellen Weite und ein kleiner Teil von mir wollte einfach aufspringen, losstürmen und den Piloten anflehen, mich mitzunehmen.

„Na gut. Ich bin gespannt, was du dir da ausgedacht hast, Cuinn“, sagte die Gestalt und lehnte sich gegen die Tür des Gemeinschaftsraumes, nicht ohne Cuinn mit einer Handbewegung zu bedeuten, sich wieder auf die Couch hinzusetzen.

Dieser zögerte kurz, kam dann jedoch der Aufforderung nach und nickte mir knapp zu.

„Das ist ganz einfach. Du bist derjenige über den wir die ganze Zeit sprechen“, sagte Cuinn gelassen.

Niemand lachte, obwohl diese Worte so unglaublich absurd klangen.

Die Gestalt schwieg kalt, weshalb Cuinn fortfuhr. „Du bist Levin. Du hast das alles hier inszeniert, um dich an denjenigen zu rächen, die Schuld daran sind, dass du ein totgeglaubter Mörder bist. Soll ich dir was sagen? Es wäre klüger gewesen, deinen vermeintlichen Tod dafür zu nutzen, ein neues Leben anzufangen. Diese Racheaktion bringt dir nichts, außer dass du dieses Mal wirklich in den Knast kommst.“ Cuinn schluckte und Abscheu trat in seinen Blick. „Wenn ich jemanden hasse, dann bist du das, Levin. Und selbst, wenn du mich heute erschießen wirst, werde ich wenigstens die Genugtuung haben, dass man den Zettel und den Beweis finden wird, dass du das alles hier getan hast.“

Mein Herz hatte ausgesetzt. Mit starren Augen blickte ich zwischen Cuinn und der dunkel gekleideten Gestalt hin und her und als diese langsam ihre Maske mit dem Stimmverzerrer abnahm, begann mein Herz zu rasen.

Vor uns stand der hochgewachsene, braunhaarige Mann.

Er hatte sich kaum verändert. Er trug das selbe überhebliche Lächeln, das man wochenlang in den Nachrichten gesehen hatte, als Fotos von ihm eingeblendet worden waren.

Mein Atem stockte und ich erkannte den selben Schock in den Gesichtern der Anderen. Doch Daisys Gesicht war das, was mich am meisten fesselte. Sie war bleich und ihre dunklen Augen ruhten wie gelähmt auf dem Mann, der uns all das angetan hatte.

Der Mann, der tot sein sollte.

„Wie… wie“, stammelte sie, woraufhin Levin sie selbstbewusst anlächelte. „Hallo, Schneewittchen“, flüsterte er und ich sah, wie Daisys Körper sich anspannte.

„Du bist doch tot.“

Levin schmunzelte und schüttelte den Kopf, während er die Schusswaffe in seinen Fingern spielen ließ. „Noah hat damals vor zwei Jahren nicht perfekt getroffen. Ein Arzt, der mir Geld geschuldet hat, hat sich um mich gekümmert, hat meine Sterbeurkunde ausgestellt, sich um alles Formelle gekümmert. Meine Beerdigung war sowieso nicht sehr reichlich besucht, stimmt’s? Da ist sowieso niemandem aufgefallen, dass derjenige, der da im Sarg lag, nicht ich, sondern irgendeine Leiche war. Und wisst ihr, welches Problem ihr jetzt habt?“

Levin wandte sich von Daisy ab, die ihn immer noch ansah, als wäre er ein Geist. „Selbst, wenn euer Zettel gefunden wird, auf dem mein Name steht, wird es niemand glauben. Die Außenwelt denkt nämlich, ich wäre tot. Und Tote“, er lächelte arrogant, „können keine Mörder sein.“

Er wandte sich mit einer eleganten Bewegung an Cuinn und lächelte breit. „Es tut mir beinahe schon Leid. Genau genommen kannst du ja nichts dafür, dass deine Cousine damals gestorben ist. Aber du hast dich mit deinem großen Hass auf Daisy sehr als Nebendarsteller angeboten. Du weißt schon. Um ein wenig mehr Dramatik in unser Märchen zu bringen.“

Fast schon gelangweilt richtete er den Pistolenlauf auf Cuinn. Ich zuckte zusammen und erhob mich ruckartig.

„Wir sind noch nicht fertig“, sagte ich mit fester Stimme und versteckte meine bebenden Hände hinter meinem Rücken. „Wo bliebe denn der Spaß, wenn wir nicht auch noch die zweite Gestalt identifizieren würden?“

Wir brauchten noch Zeit. Noch ein kleines bisschen mehr Zeit.

Levin drehte sich zu mir und jegliches Blut entwich meinem Kopf, denn dieser kalte, skrupellose Blick kam mir immer noch so surreal vor. Unmöglich. Unmöglich.

Denn auch, wenn ich diejenige gewesen war, die Cuinn bereits heute Nacht, als wir nebeneinander auf dem harten Boden gelegen hatten, erzählt hatte, wen ich hinter alledem vermutete, hatte ein winziger Teil in mir an meinem Verdacht gezweifelt.

Denn wie wahrscheinlich war es, dass ein Toter der Täter war?

„Und du weißt, wer sie ist?“, wollte Levin von mir wissen und deutete auf die dunkle Gestalt, die hinter ihm stand. Langsam und vorsichtig nickte ich und ich meinte, im Augenwinkel, ein Lächeln auf Cuinns Lippen zu erkennen.

„Ja, das weiß ich“, sagte ich, wie, um mich selber zu bestätigen. Ich machte einen vorsichtigen Schritt auf die Gestalt zu, auch, wenn sie nicht wusste, was mein eigentliches Ziel war.

Wer mein eigentliches Ziel war.

„Ich bin dir noch nie begegnet. Aber mir wurde immer wieder von dir erzählt.“ Ich stand nun auf der Höhe der Couch, auf der Kai und Daisy saßen, doch ich musste noch ein Stückchen weiter.

Levin ließ mich nicht aus den Augen, beobachtete, wie ich mich der dunklen Gestalt näherte, die ihre Waffe auf mich gerichtet hatte.

„Vielleicht erzählen wir erst einmal, wie wir herausgefunden haben, wer der zweite Täter neben Levin ist“, mischte sich Cuinn nun ein, der sich ebenfalls erhoben hatte und mit einem matten Lächeln an der Fensterbank lehnte.

„Setzt euch wieder hin“, befahl Levin mit einem drohenden Ton, woraufhin ich eilig nickte, mich jedoch zwischen Noah und Juna niederließ, anstatt zu Cuinn zurückzukehren.

„Erinnert ihr euch noch an den Tag, an dem Daisys Freundin unten im Keller gequält wurde?“, fragte Cuinn, der immer noch seelenruhig dastand, als hätte er den Befehl, sich hinzusetzen, nicht gehört. „Zu diesem Zeitpunkt waren Eve und ich draußen, um uns die Beine zu vertreten. Aber wir haben gesehen, wie eine Person geflohen und danach spurlos verschwunden ist. Vermutlich die Person, die Daisys Freundin da unten gequält und Daisy und Noah anschließend im Keller eingesperrt hat.“ Cuinn legte eine theatralische Pause ein, ehe er hinzufügte. „Das dachten wir zumindest zuerst.“

Während alle Augen wie gebannt auf Cuinn ruhten, beugte ich mich leicht zu Juna und schloss die Augen. „Ich habe Angst“, flüsterte ich und spürte Junas leeren, verwirrten Blick auf mir.

„Aber wo ist dann Daisys Freundin?“, fuhr Cuinn währenddessen fort. „Wo ist sie, wenn derjenige, der sie gequält hat, damals vor Eve und mir in der Dunkelheit geflohen ist? Er war schließlich alleine, wo hat er dann ihren Körper versteckt? Außerdem habe ich mich noch gefragt, wie das ganze hier finanziert wurde.“

Niemand sagte etwas.

„Komm zum Punkt, Cuinn“, sagte Daisy und ihre Augen waren so groß und ängstlich, als würde sie jeden Moment im Sitzen umkippen. „Sag uns, wer der zweite Täter ist.“

Cuinn lächelte traurig, während ich mich an Junas Schulter anlehnte.

„Da wir den Körper deiner Freundin nicht gefunden haben, gab es im Grunde nur noch eine einzige Option.“, er befeuchtete seine Lippen. „Der flüchtende Täter und deine Freundin, die gequält nach dir geschrien hat, müssen ein und dieselbe Person sein. Der zweite Täter ist deine Freundin, Daisy. Deine Freundin, von der du erzählt hast, dass sie vor nicht allzu langer Zeit viel Geld geerbt hat, und somit so etwas hier sehr einfach finanzieren konnte. Es ist Celine.“

Cuinns Worte trafen ein wie eine Bombe.

Einen Moment lang herrschte Stille. Tote Stille.

In Daisys Gesicht sah ich eine solche Schockwelle, dass mir Tränen in die Augen traten.

Daisy wurde stets von ihren Freunden verraten, erst Levin und dann Celine.

Es tat weh, sie so zu sehen. Völlig hilflos und alleingelassen.

Ich würde dich nicht verraten, wollte ich ihr zurufen, doch ich musste mich konzentrieren.

Musste das tun, was Cuinn und ich nachts besprochen hatten.

„C...Celine?“, fragte Daisy und ihre Stimme klang wie die eines verängstigten Kindes. Das war sie ja auch. Das waren wir alle.

Die schweigende, dunkle Gestalt machte einen Schritt auf uns zu. Sie nahm nicht ihre Maske ab, wie Levin es getan hatte. Sie sagte auch nicht so viel, wie Levin es getan hatte. Alles, was sie tat, war ein verächtliches, hasserfülltes Fauchen. „Du hast es nie bemerkt, Daisy, aber für mich war Levin so viel mehr als für dich. Ich war für ihn da, als du es nicht warst. Und ich hätte ihn so viel mehr verdient als du, aber du hast dich immer aufgespielt, bist weinend zu mir gekommen, aber am nächsten Tag wieder zu Levin gerannt wie ein einsames Hündchen. Du dachtest, die ganze Welt dreht sich nur um dich!“

Ich sah, wie Daisy etwas sagen wollte, doch sie schien nicht zu wissen, was, ihr fielen keine Worte ein, denn sie wusste nichts, was diesen Schmerz des Verrates ausdrücken könnte.

Fast schon verwirrt, desorientiert, mit leicht geöffneten Lippen blickte Daisy auf ihre beste Freundin, von der sie mir so viel erzählt hatte.

Daisy hatte mir von ihrem Abschlussball, von Übernachtsungspartys bei Celine, von Mädelsabenden und der Reise nach Alaska erzählt. All diese Erinnerungen waren nun zerschollen und etwas in mir zerbrach, als ich Daisys leeren Blick sah, in dem jegliche Lebensfreude verschwunden war.

Es tut mir Leid, wollte ich erneut rufen, doch ich hatte anderes zu tun.

Meine Großmutter hatte mir früher immer erzählt, dass es am klügsten war, die Kekse aus der Küchenschublade meiner Eltern zu klauen, wenn sie sich mit mir im Raum befanden. Man musste bloß den richtigen Augenblick finden. Denn wenn Menschen auf etwas spektakuläres blickten, wenn sich alle Augen auf etwas Anderes richteten, konnte man neben dem Rampenlicht stehen und tun und lassen, was man wollte, ohne dass es jemand bemerkte.

Und diesen Rat befolgte ich.

Denn während alle Anwesenden zwischen Cuinn, Daisy und der dunklen Gestalt hin und her starrten, fuhr meine Hand zu Junas Gürtel, wo sie das fanden, was sie erwarteten.

Meine Finger schlossen sich um das harte Metall und es tat weh in der Seele, es tat weh, dass Cuinn mit dieser Vermutung recht behielt. Dass er Recht behielt, was Juna anging.

Meine Finger zogen die Pistole, die zuvor von ihrem Pulli verborgen gewesen war, hervor.

Alles ging ganz schnell. Ich war sehr schnell.

Ich lud. Zielte. Und schoss.

So wie geplant.

„Es ist unsere letzte Chance“, hatte Cuinn mir zugeflüstert, nachdem er mir erklärt hatte, wen er für den Verräter hielt. „Seit wann weißt du das mit Juna?“, hatte ich wissen wollen, denn ich wollte es nicht glauben, konnte nicht glauben, dass die liebe, fürsorgliche Retterin eine Verräterin war. Cuinn hatte mich gedankenverloren angesehen und mir dabei über die Wange gestrichen. „Ich habe es zum ersten Mal geahnt, als ich den Zorn in ihren Augen gesehen habe, während sie Daisy angeblickt hat. Aber jetzt sag du mir mal: wieso bist du dir so sicher, dass Levin der Täter ist? Er ist doch tot.“

„Reine Spekulation“, hatte ich daraufhin erwidert, woraufhin Cuinn schief gelächelt hatte. „Keine Beweise, keine Fakten? Das ist aber sehr riskant, Eve.“

Und dennoch hatte er mir geglaubt und vertraut.

Wir hatten einen Plan gemacht. Hatten leise geflüstert, damit uns kein Abhörgerät belauschen konnte. Wir hatten uns immer wieder gegenseitig versichert, dass alles gut werden musste.

„Ich habe an Junas Gürtel, unter ihrem Pulli etwas Metallenes gesehen“, hatte Cuinn zuletzt gesagt, während ich bereits fast eingenickt war. Wir hatten nebeneinander auf dem kalten Kachelboden gelegen, erschöpft und kraftlos. „Du wirst gut und schnell zielen müssen.“

Ich hatte darauf nichts erwidert, lediglich schwach genickt.

Wir haben sowieso nichts zu verlieren“, hatte Cuinn geflüstert, woraufhin ich meine Augen noch einmal geöffnet und ihn ernst angesehen hatte. „Doch. Wir haben das hier zu verlieren. Uns.“

Ich hatte das Glitzern in seinen Augen gesehen, als er mich schweigend angeblickt hatte. „Wir werden es nicht verlieren“, lautete schließlich seine Antwort, doch irgendetwas in mir hatte nicht daran geglaubt, dass alles gut ausgehen würde.

Es gab immer etwas, was man verlor.

Und in diesem Moment, als wir so da lagen, fürchtete ich mich vor nichts mehr, als davor, dass Cuinn dieses etwas sein konnte, das ich verlieren würde.

Ich schoss schnell.

Doch natürlich war klar, dass ich nicht alle Täter treffen konnte. Dass unser Plan nicht durchdacht genug war.

Es erklangen genau drei Schüsse.

Doch nur zwei von ihnen wurden von mir abgefeuert.

Meine zwei Schüsse hatten getroffen. Doch der Dritte stammte von Celines Pistole.

Juna war aufgesprungen und rannte panisch fort, denn sie schien bemerkt zu haben, dass es ihre Waffe gewesen war, die ich genutzt hatte, um ihre Komplizen auszuschalten. Sie schien bemerkt zu haben, dass sie aufgeflogen war.

Ich erfuhr ihre Motive nie.

Ob Daisy ihr etwas getan hatte oder Juna einfach ein weiteres Mädchen war, das für Levin bereit war alles zu tun.

Doch es war mir egal. So egal.

Heute werde ich etwas verlieren, schoss es mir durch den Kopf und eine Träne sickerte an meiner Wange hinab.

Heute werde ich etwas kostbares verlieren.

Ich dachte an Cuinns spöttisches Grinsen, aber auch an sein Lächeln, das er mir geschenkt hatte und ich dachte an alles, was ich ihm noch sagen musste.

Und ich dachte an Kais witzige Art und Noahs großes, tapferes Herz und Serayas Mut und an Daisys unglaubliche Stärke, denn sie war so zerbrochen, so zersplittert, das ich mich fragte, wie oft eine immer wieder zerbrechende Porzellanvase zusammengeklebt werden konnte, ehe sie nur noch aus so winzigen Scherben bestand, dass sie nicht mehr reparierbar war.

Heute habe ich etwas verloren, dachte ich weinend, mit starrem Blick auf die reglosen, dunklen Gestalten, denn ich wollte nicht sehen, wen Celines Schuss getroffen hatte. Ich wollte es nicht wissen.

Etwas sehr Kostbares.

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