Kapitel 32 [Eve]
Mein erster Gedanke war: lauf! So weit du kannst, so schnell du kannst!
Doch dann erinnerte ich mich daran, dass die Anderen auch noch da waren und dass Noah auf einem der Sofas lag, verletzt und unfähig, sich selbst zu bewegen.
Also blieb ich und atmete tief durch, versuchte ruhig zu bleiben, doch mein Blick huschte hin und her und Cuinns verängstigter Ausdruck war nicht besonders hilfreich.
„W...was machen wir?", fragte Juna, die mit weit aufgerissenen Augen neben Noah stand. Bei ihm war das glühende Fieber selbst von Weitem zu erkennen.
Ich biss mir auf die Unterlippe, versuchte klar zu denken, denn das war, was ich immer tat, was ich auch jetzt tun musste, doch meine Gedanken schienen sich aufgelöst zu haben.
Ich konnte nicht mehr denken, konnte nicht mehr rational handeln. Konnte die Fakten nicht mehr zusammenzählen, keine Lösung mehr ausarbeiten. Eine Stoppuhr tickte in meinem Kopf. Unaufhörlich.
„Fünf Minuten Weglaufzeit", flüsterte ich, immer noch nicht in der Lage mich von der Stelle zu bewegen. Die Anderen waren inzwischen aufgesprungen.
„Wir müssen etwas machen", rief Juna schluchzend.
„Ich will hier weg!", sagte Kai mit geweiteten, roten Augen und zitternden Händen.
„Wir werden sterben", flüsterte Seraya voller Panik und raufte sich die Haare, ihr Blick schweifte hilfesuchend umher, als würde sich eine Tür öffnen.
Cuinn stand starrend da und ich schüttelte ihn an der Schulter, rief ihm verzweifelt zu, dass er etwas sagen sollte, doch er war wie benommen, wie gelähmt.
Er blickte abwesend ins Leere, doch dann schüttelte er den Kopf und blinzelte, ehe er mich ansah.
„Wir... müssen weglaufen", sagte er, ganz langsam, als müsste er seine Worte selber verstehen.
„Aber wohin?", wollte Daisy wissen. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen huschten umher. „Sollen wir uns in einem Zimmer verbarrikadieren? Im Keller?"
Ich nickte einfach, erleichtert darüber, irgendeinen Vorschlag zu hören. „Los, wir müssen Noah mitnehmen!"
Paul und Seraya packten Noah jeweils an Armen und Beinen und begannen ihn in Richtung Kellertür zu tragen.
Ich hörte es, noch bevor Kai panisch aufschrie und uns befahl zu schweigen und zu lauschen.
Die Schritte.
Sie waren schnell und entschlossen und sie erklangen über uns.
„Jemand kommt die Treppe zu uns runter", sprach Daisy entgeistert das Offensichtliche aus und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde gesprengt werden, so heftig und rasend tönte mein Herzschlag in meinem Kopf.
Denken, Eve, denken!
„Beeilt euch, verdammte Scheiße!", schrie Kai Paul und Seraya zu, die ächzend versuchten, Noah zur Kellertür zu schleppen. Die Schritte näherten sich, sie schienen bereits die Treppe hinab zu rennen. Trapp. Trapp.
Ich griff an meine Brust, denn mir war schwindelig. Ich schien verlernt zu haben, wie man dachte, wie man anständig über Problemen brütete und wie man sie löste.
Juna griff nach dem Verbandskasten, nach den Handtüchern und nach einer Flasche Wasser und versuchte alles gleichzeitig zur Kellertür zu stemmen.
„Worauf wartest du noch, Eve?", rief Cuinn mir zu, der sich inzwischen wieder gefasst hatte und ebenfalls alles Mögliche ergriff, was ihm nützlich erschien.
Die Schritte. Sie waren so nah. Gleich würde jemand aus dem Treppenhaus gerannt kommen. Vermutlich bewaffnet.
„Ich..." Meine Stimme versagte und ich machte ein paar wackelige Schritte in Richtung Kellertür.
Kai und Daisy stürmten zur Kellertür, doch sie konnten sie noch nicht betreten, da Paul und Seraya Noah schwerfällig die ersten Treppenstufen hinabtrugen.
Zu langsam. Wir werden nicht alle durchpassen.
Unbewusst griff ich nach meiner Jacke, die neben mir auf dem Sofa gelegen hatte.
Cuinns Augen weiteten sich und er blickte entgeistert in Richtung des Treppenhauses, in dem klar und deutlich die dumpfen Schritte zu hören waren.
Wir schaffen es nicht alle in den Keller.
Juna zwängte sich durch die Kellertür, doch die Stufen konnte sie nur langsam hinabsteigen, da die Treppe schmal und steil war. Ich warf Cuinn einen raschen, gehetzten Blick zu und drehte mich um, um mich vom Keller zu entfernen.
Ich musste weg. Raus hier.
Im Laufen schlüpfte ich in meinen Mantel und schickte ein dankendes Gebet in Richtung Himmel, dass ich die Schuhe angelassen hatte. Ich hörte Schritte hinter mir und warf einen Blick zurück. Cuinn folgte mir. Und hinter ihm meinte ich, Daisy und Kai zu erkennen, die ebenfalls nach draußen liefen.
Sie schienen auch begriffen zu haben, dass wir nicht mehr alle rechtzeitig in den Keller gelangen würden.
Die Sonne blendete mich, als ich die Haustür aufriss. Kalter Wind schlug mir entgegen und der Schnee war feucht und rutschig, sodass ich meine Geschwindigkeit ein wenig drosseln musste.
Hilflos sah ich mich um, unentschlossen, wo wir hin konnten.
Nirgendwohin. Hier gibt es keinen einzigen Ort, an dem wir in Sicherheit sind.
Tränen wallten in mir auf, doch ich schluckte sie runter, begann wieder zu rennen und hielt mich an der Hauswand, duckte mich unter jedem Fenster.
Mein Atem war hektisch und unregelmäßig, während meine rechte Hand leicht die Hauswand streifte, als könnte sie mich leiten.
Meine Hände froren und zitterten und mein Dutt hatte sich gelöst, weshalb mir mein Haar immer wieder die Sicht versperrte. Ich wusste nicht, wie lange wir rannten, nur, dass ich irgendwann abrupt stehenblieb, da ich den Abgrund, der sich direkt an der Nordseite des Rubinpalasts erstreckte, erreicht hatte. Ich klammerte mich instinktiv an die raue Hauswand, die meine Vollbremsung jedoch kaum aufhielt.
Ich hörte, wie Cuinn hinter mir ebenfalls scharf bremste und leicht über den Boden an mir vorbei schlitterte, doch er schaffte es noch rechtzeitig, bevor der Berg steil in die Tiefe fiel, stehen zu bleiben.
Er warf sich die Kapuze seines Pullis über sein dunkelblondes, zerzaustes Haar und starrte mich einen Moment schwer atmend an, ehe er sich rasch, als würde er sich wieder erinnern, dass er so nah am Abgrund stand, ein paar Schritte von der tödlichen Tiefe entfernte.
Kai und Daisy erreichten uns bereits kurz darauf und blickten sich verängstigt um.
Ich zitterte, als ich zurück zur Haustür des Rubinpalasts sah. „Hoffentlich denkt er, dass wir alle im Keller sind", flüsterte ich und verfluchte mich noch im selben Moment für diese Worte.
Wie sollen die Anderen im Keller klarkommen? Sie können sich dort nicht ewig verstecken, denn sie haben kein Essen und nur eine Wasserflasche...
„Wann endet das Spiel?", hörte ich Daisy atemlos fragen. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre dunkelbraunen Augen wirkten panisch.
„Ich schätze, wenn der Täter jemanden gefunden hat. Wie der Name schon sagt. Verstecken ", erwiderte Cuinn gereizt, doch ich wusste, dass er nicht wirklich genervt war, denn sein Blick war rastlos, huschte umher, als würde er hinter jeder Ecke etwas vermuten.
Unschlüssig blickte ich nach rechts, um die Ecke des Rubinpalasts. Hier war der schmale Pfad zwischen Haus und Abgrund, der kaum einen halben Meter breit war.
„Hey, Leute, hier ist das Seil an dem ich schon einmal hochgeklettert bin", flüsterte ich, als hätte ich tatsächlich Angst, dass man uns hörte.
Drei weitere Augenpaare folgten meinem Blick und musterten skeptisch den schmalen, eisbedeckten Pfad.
„Der ist rutschig", bemerkte Kai, und dennoch schob er sich, ohne zu zögern, an mir vorbei.
Cuinn, der hinter mir stand, beugte sich leicht über meine Schulter. „Das ist also das berühmte Seil, an dem du hochgeklettert bist, als du mich vor der Bombe gerettet hast?", fragte er leise mit einem belustigten Grinsen und ich wusste, dass er sich wirklich bemühte, locker und selbstsicher zu klingen, um uns allen und vor allem sich selbst die Angst zu nehmen.
Ich nickte leicht, ehe ich meinen Blick kurz zu ihm wandte und ihn von der Seite betrachtete. Seine hohen Wangen waren angespannt und sein Gesicht lag im Schatten seiner Kapuze, und doch fiel mir auf, wie schön er war. Auf seine eigentümliche Art und Weise. Es gab viele hübsche Menschen, doch er war nicht nur hübsch, sondern... schön. Falls es da überhaupt einen Unterschied gab.
„Wir könnten doch hochklettern und uns oben in einem der Zimmer verstecken. Dort erwartet uns der Täter bestimmt nicht, oder was meint ihr?", schlug Cuinn nun vor und drehte seinen Kopf nun, sodass er meinen Blick bemerkte.
„Oder?", wiederholte er seine Worte, als ich nicht antwortete und warf mir ein kleines, amüsiertes Lächeln zu, das unter weniger lebensgefährlichen Umständen bestimmt noch breiter gewesen wäre. Er sprach das Wort so langsam aus, als wäre ich schwer von Begriff. Was ich vermutlich auch war.
Ich straffte die Schultern und zwang mich, wieder ich selbst zu sein.
Ich habe in Filmen immer über die Charaktere gelacht, die zu dumm waren, in Krisensituationen oder in Gegenwart eines Mannes logisch nachzudenken und deren Gehirne wortwörtlich zu Matsch geworden sind, wenn sie sich auch nur fünf Meter jemandem genähert haben... Und hier bin ich. Falls das alles hier gefilmt wird, gebe ich bestimmt eine tolle Hauptrolle ab.
„Ja", sagte ich entschlossen, doch es war ohnehin schon entschieden, denn Kai befand sich bereits bei der Hälfte des schmalen Pfades und griff nach dem Seil. Er reichte Daisy die Hand, die ebenfalls an mir vorbei geschlüpft und dicht an der Hauswand zum Seil balanciert war. Während ich Cuinn so angesehen habe, als würde ich gleich sabbern, stellte ich, besorgt über meine äußerst beunruhigende Entwicklung, fest.
Mit einem ängstlichen Blick zurück, machte auch ich mich daran, dicht am Abgrund entlang zu treten, immer darauf bedacht, nicht auf dem leicht schmelzenden Schnee auszurutschen.
Ich hörte Cuinns leises Fluchen hinter mir und konnte mir lebhaft vorstellen, wie verzweifelt er gerade versuchte, nicht nach links in die Tiefe zu blicken. Wie sich seine Augen gehetzt überall hin blickten, nur nicht dorthin, wo Kälte und Schmerz und Tod auf ihn warteten, wo die Zähne des Abgrunds darauf warteten, ihn zu verschlingen. Höhenangst. Ich konnte mich glücklich schätzen, das ich sie nicht hatte.
Immer wieder sah ich hinter mich, als würde ich erwarten, dass an der Hausecke plötzlich jemand auftauchen, leise „gefunden" flüstern und langsam, wie in Zeitlupe die Waffe heben würde.
„Schneller", flüsterte ich Cuinn zu, ehe ich mich wieder nach vorne drehte, doch ich fing seinen verstörten Blick auf, seine entsetzten Augen.
Kai zog sich bereits mit fest aufeinander gepressten Zähnen an dem festen, kalten Seil hoch, möglichst geräuschlos hievte er sich auf die Fensterbank.
Ich kniff die Augen zusammen, um besser im goldenen Licht sehen zu können und beobachtete, wie Kai am Fenster im zweiten Stock hantierte und versuchte, es zu öffnen, während Daisy mit zitternden Händen und entschlossenem Blick das Seil umschloss und ächzend nach oben kletterte.
Nervös trommelte ich mit meinen Fingerspitzen gegen die Hauswand, an die ich mich presste, mein Blick schweifte immer wieder zurück, über Cuinn, der sich schwer atmend gegen die Wand presste, und zur Hausecke, hinter der ich jeden Moment jemand vermutete.
„Du bist dran, Eve", sagte Cuinn mit gepresster Stimme und deutete auf das Seil, welches inzwischen wieder frei geworden war, da Daisy das Fensterbrett erreicht hatte, wo sie sich von Kai in den Korridor helfen ließ.
Ich atmete tief durch und meine Finger umschlossen das raue Material. Ein kalter Windstoß fuhr mir in den Rücken und ein leichter Schneefall setzte ein, es waren kaum sichtbare, sanfte Schneeflocken, die sich federleicht auf meine Wange legten und meine Sicht verschwimmen ließen.
Ich beeilte mich, zog mich so schnell nach oben, dass sich rote Spuren in meinen Handflächen bildeten und mein Atem laut in meinen Ohren rauschte. Ich erinnerte mich an den Abend, wie als wäre er gestern gewesen.
„Eve, pass auf deinen Bruder auf. Wir sind jetzt weg. Falls Suzanne anruft, sag ihr, dass ich sie morgen zurückrufe." Ich hatte genickt, hatte aus dem Fenster geblickt, und sobald sie im Auto verschwunden waren, war ich aufgesprungen. „Komm, Stevie. Sonst kommen wir noch zu spät zum Ballett." Und dann hatte ich mein schönstes Kleid angezogen, hatte mir einen Zopf geflochten und Stevie ein gebügeltes Hemd gegeben, das er anziehen sollte. „Das wird ein schöner Abend", hatte ich gesagt, nicht wissend, dass dieser Abend grauenhaft und schrecklich werden würde, dass mich die Erinnerung an diesen Abend noch mein restliches Leben heimsuchen würde.
Jemand streckte mir von oben eine Hand entgegen und ich ergriff sie dankbar, denn meine Finger zitterten bereits und rutschten an der kratzigen Oberfläche ab.
Schwer atmend, wurde ich von Kai auf das Fensterbrett gezogen. Daisy stand im halbdunklen Korridor des zweiten Stockwerks, der immer noch nach verbranntem Holz und Qualm stank. Nervös blickte sie sich um, wagte es nicht, zu sprechen.
Ich beugte mich noch einmal aus dem Fenster, vor dem Cuinn damals gestanden war, um zu lüften. Es kam mir vor, als wären seitdem bereits Monate vergangen.
Ich blickte nach unten und sah, wie Cuinn noch immer vor dem Seil stand, sich an die Wand presste und zu mir nach oben starrte, seine Augen schienen mir sagen zu wollen, dass er es nicht konnte.
Komm, formten meine Lippen stumm, da ich noch immer Angst hatte, dass man uns hören konnte.
Zögernd umklammerten Cuinns Finger das Seil und er begann, daran hochzuklettern. Immer wieder huschte sein Blick in die Tiefe, panische Blässe trat ihm auf die Wangen, doch sein Griff war verbissen, seine weit aufgerissenen Augen eine Mischung aus Todesangst und wilder Entschlossenheit.
Kai streckte ihm eine Hand entgegen und half auch ihm, sich über das Fensterbrett zu hieven, während ich mit klopfendem Herzen in den düsteren Korridor blickte, wo ich in jedem Schatten, den Täter zu sehen schien.
Daisy hatte sich ein paar Meter von uns entfernt und öffnete geräuschlos die Tür zu einem Zimmer, in dem nie jemand von uns geschlafen hatte.
Wir Anderen folgten ihr auf Zehenspitzen, doch nicht bevor Cuinn das Seil, welches an der Außenwand an einem Haken fest geknotet war, vorsichtig löste und hochzog. Dann schlüpften wir ebenfalls in den Raum, in dem Daisy verschwunden war.
Das unbewohnte Bett war ordentlich gemacht, der Schrank und der Nachttisch waren leer.
Während Kai den Nachttisch vor die Tür schob, trat Cuinn zum Fenster und band dort an einem Haken, der vermutlich ursprünglich für Wäsche gedacht war, das Seil fest, um uns einen potenziellen Fluchtweg zu sichern. Er atmete schwer und seine Augen waren immer noch benommen und starrten unergründlich ins Leere.
„Und wie lang bleiben wir hier?", flüsterte Daisy hinter mir und ich lehnte mich erschöpft gegen eine der Wände.
„Bis das Spiel zu Ende ist. Was hoffentlich bald ist", erwiderte ich mit glänzenden Augen.
„Ich weiß nicht, was ich hoffen soll", sagte Cuinn, der sich nun vom Fenster abgewandt hatte und sich neben Kai an die Tür lehnte. „Das Spiel ist dann zu Ende, wenn jemand von uns gefunden wurde. Was wahrscheinlich so viel wie umgebracht bedeutet. Also muss jemand sterben, damit dieses Spiel endet." Die Worte ließen mich erzittern und ich schloss die Augen. Nachdenken. Nachdenken.
„Wir müssen den Spieß umdrehen", sagte ich schließlich leise.
„Ach ja? Und wie?", wollte Cuinn mit einem bitteren Lächeln wissen, während seine Augen mich hoffnungslos durchbohrten. „Darf ich dich daran erinnern, dass der Täter eine Schusswaffe hat?"
Ich zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Und darf ich dich daran erinnern, dass wir, wenn wir nichts tun, sowieso sterben werden? Wir haben nichts zu verlieren."
Cuinn erwiderte darauf nichts, doch Kai schnaubte und Daisy seufzte leise, ehe sie sich auf dem unbenutzten Bett niederließ.
„Wir können nicht warten, bis jemand gefangen wird", fügte ich hinzu, als ein Schweigen eintrat. „Diejenigen von uns, die sich im Keller verstecken, können dort nicht ewig bleiben. Noah wird sonst verbluten. Und die Anderen werden verdursten oder verhungern."
Mein Blick schweifte beunruhigt im Raum umher, denn auch wenn dieser zwar unbewohnt war, wussten wir nicht, ob nicht auch hier Kameras und Abhörgeräte waren.
Letztendlich entschloss ich mich, jedem der drei Anderen, meine Idee ins Ohr zu flüstern.
Es war nicht wirklich ein Plan. Eher eine verzweifelte Idee, die sehr wahrscheinlich schief laufen würde.
„Und wer macht es?", wollte Kai mit verschränkten Armen wissen. „Wer wird der Köder sein?"
Nervös meine Hände knetend, zuckte ich mit den Schultern. „Es ist unsere letzte Chance. Wir werden hier früher oder später sowieso gefunden werden."
„Und deshalb tun wir das Unberechenbare und lassen uns finden", beendete Cuinn meinen Gedankengang und strich sich langsam nickend über die Haare. Er lächelte matt. „Klingt, wenn du mich fragst, einfach nur lebensmüde. Aber vielleicht funktioniert es."
Es brauchte nicht lange, bis wir einen halbwegs strukturierten Plan ausgeklügelt hatten. Er war holprig und alles andere als durchdacht, aber er war alles, was wir hatten.
Ich wischte mir den Schweiß von den Händen an meiner Jeans ab und atmete tief durch, ehe ich den Anderen einen raschen Blick zuwarf.
Cuinns Gesicht war aschfahl, doch er nickte steif, als ich ihn erneut leise fragte, ob er sich sicher war, dass er das durchziehen wollte.
Ob er wirklich den Köder spielen wollte.
Er zwang sich zu lächeln und sein Blick verharrte einen Moment auf mir. „Das wird schon", sagte ich leise und lächelte ebenfalls, wobei mir eher zum Weinen zumute war.
Ich erinnerte mich daran, wie ich in der Pause der Ballettaufführung aufgestanden war. „Ich gehe kurz auf Toilette, Steve, ok?", hatte ich meinem kleinen Bruder zugeflüstert und er hatte mich mit großen Augen angesehen. Es war laut und voll und überall waren fein gekleidete Menschen, mit schicken Pelzkragen, bunten Satinkleidern und eleganten Anzügen. „Darf ich mich ein bisschen umschauen?", hatte Steve gefragt und ich hatte geseufzt. „Nein, warte hier einfach auf mich, ja? Ich bin gleich zurück." Wer hätte gedacht, dass die letzten Worte, die ich je an ihn richten würde eine Lüge werden würden. Denn ich war nicht gleich zurückgekommen. Ich hatte mich auf der Toilette versteckt, da ich Liam, einen alten Klassenkameraden, den ich immer heimlich gomocht hatte, im Korridor gesehen hatte. Und ich war feige und ängstlich und hatte lieber meinen kleinen Bruder alleingelassen, als es zu riskieren, Liam über den Weg zu laufen.
„Ich bin gleich zurück" war eine Lüge gewesen.
Ich wollte nicht, dass meine möglicherweise letzten Worte an Cuinn auch eine Lüge sein würden.
Und „das wird schon" war vermutlich eine Lüge.
„Ich...", begann ich, doch meine Stimme versagte, ich schaffte es nicht, die Worte zu sagen, die ich Cuinn gerne gesagt hätte.
Seine Augen schimmerten und auch er schien etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und schluckte. Seine Schulter streifte mich, als er an mir vorbei trat und alles in mir wollte ihn am Arm packen, um ihn aufzuhalten.
Wieso habe ich diesen Plan vorgeschlagen? Ich schicke Cuinn in den sicheren Tod!
Mein Herzschlag raste und ich spürte, wie sich alles in meinem Kopf zu drehen begann, doch ich blieb starr stehen, zwang mich selber ruhig zu bleiben, während ich Cuinn dabei beobachtete, wie er die Tür geräuschlos öffnete und in den düsteren Korridor verschwand.
Daisy legte ihren Kopf gegen die Tür und lauschte Cuinns Schritten, die sich laut und dumpf von uns entfernten.
Ich presste die Lippen fest aufeinander, wagte es nicht, zu atmen, während meine Hände sich um den Kerzenhalter aus bronzefarbenen Metall, den wir im anliegenden Badezimmer gefunden hatten, schlossen.
Cuinns Schritte waren noch immer zu hören, was natürlich Teil des Köder-Plans war, mich jedoch dennoch panischer machte.
In meinem Kopf flackerten alle möglichen Szenarien auf, bei denen wir scheiterten und jede von ihnen beinhaltete Cuinns Tod.
Was, wenn der Täter so gut zielen kann, dass er sich gar nicht unserer Tür nähert, sondern vom anderen Ende des Korridors auf Cuinn schießt? Was, wenn wir trotz des Überraschungseffekts nicht schnell genug handeln können, um Cuinn zu schützen? Was, wenn einer von uns bei dem Versuch...
„Er ist am Ende des Korridors angekommen", rissen mich Daisys Worte zurück in die Realität und ich bemerkte, dass sich meine Fingernägel so fest in meine Handflächen gebohrt hatten, dass ich leicht blutete. Ich spürte es kaum.
Daisys dunkle Augen schweiften zu mir und nickten leicht. Ich hörte ihren hektischen Atem bis hierhin.
„Und ich höre Schritte von der anderen Seite des Korridors", fügte sie hinzu. „Der Täter hat am Köder angebissen."
Ein Teil von mir hatte gehofft, dass mein Plan nicht funktionieren würde. Dass Cuinn völlig umsonst unser Versteck verlassen hatte, weil der Täter seine Schritte nicht hören würde.
Doch Daisys Worte entrissen mich gewaltsam diesem Wunschdenken, trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sog die Luft ein und näherte mich leise der Tür, wo Daisy stand.
Nun hörte auch ich sie. Die Schritte aus der Richtung des Treppenhauses, dass irgendwo rechts von unserem Zimmer lag. Sie waren schnell.
Cuinn war inzwischen links von uns im Korridor stehengeblieben und ich meinte, seinen rasenden Herzschlag zu hören, bis ich realisierte, dass das auf die Entfernung nicht möglich war, und dass es mein pulsierendes Herz war, das ich da hörte.
Jeden Moment könnte ein Schuss erklingen. Jeden Moment könnte Cuinns Schrei durch den Gang hallen.
Ich drückte mich gegen die Wand neben der Tür, nicht in der Lage gerade und stabil zu stehen. Panische Menschen. Überall Schreie. „Was ist passiert?", hatte ich damals eine ältere Dame mit blauem Seidenkleid gefragt, als die Menge in Richtung Ausgang stürmte. „Was ist passiert?!" Und dann hatte ich mich an Stevie erinnert, der irgendwo im Saal auf mich wartete, in dem Saal, aus dem gerade die Menschen flohen, voller Angst. Ich hatte mir vorgestellt, wie er zertrampelt, erstickt wurde. Hatte nach ihm geschrien, mich gegen den Strom der Menschen gepresst, doch alle Versuche waren vergeblich. Ich war auf den Boden gefallen, überall waren Füße und Schreie und Menschen, die nach mir traten, versuchten nach außen zu gelangen. Ich hatte keine Luft bekommen, ich hatte das Gefühl zu ersticken, überrannt zu werden.
„Eve, konzentrier dich!", sagte Kai neben mir und stieß mir nicht unsanft in die Seite.
Mein Blick huschte desorientiert umher und verharrte kurz darauf auf Kais angespannten Gesichtszügen. Er schien bemerkt zu haben, dass ich nicht ich selbst war, dass ich kraftlos an der Wand gelehnt hatte und mit den Gedanken an einem dunklen, grausamen Ort war.
Mit einem vorwurfsvollen Blick nickte er in Richtung Tür, wo Daisy stand. „Auf Daisys Zeichen", flüsterte er und ich nickte wie benommen, bereit alles zu tun, was man mir sagte, solange ich nicht nachdenken musste, solange ich keine Verantwortung für irgendetwas übernehmen musste.
„Der Täter hat noch nicht geschossen!", informierte uns Daisy. „Und er geht immer noch in Cuinns Richtung."
„Ist er schon an unserer Tür vorbei?", fragte ich, woraufhin Daisy angespannt den Kopf schüttelte. „Aber gleich. Seine Schritte sind schon sehr nah. In zehn Sekunden öffnen wir die Tür. Wir dürfen Cuinn nicht zu lange mit ihm alleine lassen. Wer weiß, wann er sich entschließt zu schießen."
Ich schluckte und zwang mich ruhig zu atmen. Cuinn würde nicht sterben. Heute noch nicht. Dafür mussten wir sorgen.
Doch ich wusste natürlich, dass der Tod so unberechenbar wie sonst nichts auf der Welt war.
Er kam angeschlichen. Leise und unscheinbar. Und dann packte er zu, riss unschuldige oder auch schuldige, todkranke oder auch völlig gesunde, junge und alte Menschen mit sich.
Wie Stevie, dachte ich benommen. Wie meinen kleinen unschuldigen Bruder.
Aber nicht Cuinn, bitte nicht Cuinn.
Meine Hände zitterten und griffen bereits eine Sekunde bevor Daisy das Zeichen gab, nach der Türklinke, um sie aufzureißen.
Sei vernünftig, Cuinn, betete ich stumm. Halte dich an den Plan und wirf dich auf den Boden, sobald wir den Täter angreifen, solange du noch in der Schussbahn bist.
Meine Augen huschten noch in der ersten Sekunde zu unserem Ziel. Die dunkel gekleidete Gestalt stand mit dem Rücken zu uns nur ein bis zwei Meter von unserer Tür entfernt und auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie überrascht war. Mit einem Satz warf ich mich auf den Rücken der Gestalt, schmiss sie zu Boden.
Kai und Daisy waren augenblicklich da und griffen nach den Händen des schwer atmenden Maskierten, versuchten ihm die Waffe aus den Fingern zu reißen.
Und dennoch erklang ein Schuss.
Ich blinzelte und mein Blick schoss mit einer hohlen Angst in die Richtung des Korridors, wo Cuinn stand, dorthin, wo die Waffe hingezeigt hatte. Mein Herz setzte aus, als ich Cuinns dunkle Silhouette sah.
Er schwankte.
Ich löste meinen Griff um den Maskierten und verließ mich darauf, dass Daisy und Kai ihn unter Kontrolle hatten.
Die Pistole fiel klappernd zu Boden, vermutlich hatte Kai sie dem sich wehrenden Täter aus der Hand geschlagen, doch das war mir alles völlig egal.
Wie eine Schlafwandlerin trat ich auf Cuinn zu, der immer noch leicht schwankend im Schatten der Wände stand. Sein schwarzer Kapuzenpulli verschwamm fast komplett in der düsteren Finsternis.
„Der Plan war, dass du dich auf den Boden wirfst, verdammte Scheiße!", brach es plötzlich aus mir heraus, als ich die letzten Meter zu Cuinn überbrückte und seine leicht benommenen Augen erblickte.
Ich packte ihn an der Schulter und schüttelte so fest ich konnte, suchte währenddessen seinen Körper nach einer Schusswunde ab.
„Was hast du bei wirf dich auf den Boden, sobald wir rauskommen nicht verstanden?!" Ich war völlig außer mir, meine Stimme war glühend und gleichzeitig unbarmherzig kalt. „Warum zur Hölle stehst du hier so..."
„Mir ist nichts passiert", unterbrach mich Cuinn und deutete hinter sich. Wir standen am Ende des Korridors, das einfach eine nackten Wand darstellte.
In der Wand klaffte ein kleines Schussloch.
„Es ist nur zehn Zentimeter neben deinem Kopf gelandet", stellte ich fest und war so schockiert, dass ich nicht einmal zornig klingen konnte.
Ungläubig starrte ich zwischen der Wand und Cuinns Augen hin und her und ließ seine Schulter los.
„Du bist der dümmste Vollidiot, dem ich je begegnet bin", flüsterte ich und schaffte es, ein mattes Lächeln auf Cuinns Lippen hervorzuzaubern.
„Das ist kein Kompliment, verdammt! Ich habe dir gerade gesagt, dass du ein dummer Idiot bist!" Meine Hände zitterten, als Cuinn sie umgriff und laut hörbar durchatmete.
Sein gerade noch völlig abwesender Blick wurde wieder wachsamer und er lächelte schief. „Ich habe überlebt. Kein Grund also..."
„Kein Grund auszurasten?", unterbrach ich ihn und meine Stimme war wieder gefasst. Eiskalt. „Wenn die Kugel auch nur ein wenig weiter nach links geflogen wäre, wärst du jetzt tot!", sagte ich, ohne meinen wütenden Blick von Cuinn zu nehmen. „Verstehst du mich? Soll ich es dir buchstabieren? Soll ich es dir tätowieren? TOT!" Meine kalte Stimme zitterte kaum hörbar. Ich sah, wie Cuinn schluckte, seine Hände hielten mich noch immer umklammert.
„Ich weiß", sagte er schließlich, nachdem er seine Lippen befeuchtet hatte. „Ich bin nicht stehengeblieben, weil ich irgendwem etwas beweisen wollte oder um zu zeigen, dass ich hart im Nehmen bin. Ich weiß", er sah mich eindringlich an, „ich weiß, dass es nicht mutig sondern dumm war."
„Und wieso bist du dann stehengeblieben?"
Cuinns Lippen formten bereits die Antwort, doch Daisys Stimme ließ mich herumfahren. Cuinn ließ meine Hände los und wir eilten zu Kai und Daisy, die mit allen Kräften, die Gestalt auf den Boden pressten.
„Wer bist du?", zischte Daisy und griff nach der schwarzen Maske, die das gesamte Gesicht des Täters verhüllte, doch dieser wehrte sich mit allen Mitteln, zog und zerrte, sodass Daisy fast beiseite gestoßen wurde.
Cuinns Augen funkelten wutentbrannt, je weiter er sich dem Täter näherte. Voller Abscheu sah er auf die liegende und zerrende Person hinab.
„Wenn ich so wäre wie du, würde ich dir jetzt eine Kugel in den Bauch jagen", sagte er mit einer gefährlich leisen Stimme, wobei er in Richtung der Pistole nickte, die noch immer auf dem Kachelboden lag und ich erschrak beinahe über den gnadenlosen Klang seiner Worte. Ich trat neben ihn.
„Wie kommen wir hier raus?", fragte ich und zwang mich nicht hasserfüllt, sondern kooperativ zu klingen. Die maskierte Gestalt sah ich mich für einen kurzen Moment an und dann lachte sie lauthals los.
Die Stimme war metallisch und verzerrt. Ein Stimmverzerrer, stellte ich fest.
Fast schon verstört kniete ich mich neben die Gestalt, dieses wahnsinnige Lachen hallte in meinem Kopf so laut und grauenhaft, dass ich meine Faust am liebsten in dieses verfluchte, maskierte Gesicht gerammt hätte.
„Wo. Ist. Der. Ausgang?", wiederholte ich, wobei mir scheißegal war, dass ich meine Stimme nur so vor Hass triefte.
„Das wüsstest du wohl gerne, was Evelyn?", sagte die mechanische Stimme und irgendetwas an der Art, wie der Täter meinen Namen aussprach, machte mich rasend.
Kai startete einen erneuten Versuch, der Gestalt die Maske abzunehmen, doch diese begann erneut sich aus unserem Griff zu winden. „Wenn ihr mir jetzt diese Maske abnehmt oder mir etwas tut, werdet ihr das bitter bereuen."
Ich hielt inne. Das amüsierte, wahnsinnige Lachen war verstummt, stattdessen war die Stimme todernst, warnend, lauernd. Wie ein Raubtier, das seine Beute auflauerte, auch wenn wir in diesem Fall eigentlich die Jäger sein sollten, denn wir waren nicht nur zahlenmäßig überlegen, sondern hatten auch theoretisch eine Schusswaffe zur Verfügung.
Wieso hat der Täter keine Angst? Wieso redet er so arrogant und selbstsicher, als hätte er noch ein Ass im Ärmel?
Ich warf Cuinn einen beunruhigten, alarmierten Blick zu, den er jedoch nicht erwiderte, da seine Augen starr auf der Gestalt ruhten.
„Na los, nehmt mir die Maske ab", forderte uns der Täter auf und klang dabei schon fast ermutigend. „Ich bitte darum. Ihr müsst dann bloß mit den Konsequenzen leben."
„Und wie sehen diese Konsequenzen aus?", wollte Cuinn mit gepresster Stimme wissen. „Ich würde nämlich behaupten, dass du derjenige bist, der mit den Konsequenzen leben muss."
„Habt ihr keine Angst um eure Freunde im Keller?", fragte der Täter. Ich erstarrte und ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es den Anderen ähnlich erging.
„Was hast du mit ihnen getan?", zischte Daisy und bohrte ihre Fingernägel in den Arm des Täters.
„Ich?", der Maskierte lachte. „Gar nichts. Aber das wird für mich jemand anderes erledigen."
„Wer?", knurrte Kai und sein wutverzerrtes Gesicht schien förmlich zu glühen. „Ist hier noch jemand?"
„Nein", erwiderte die Gestalt mit ruhiger, klarer Stimme, die nun fast schon menschlich klang, wenn sie nicht diesen seltsamen, Roboter-ähnlichen Unterton hätte. „Hier gibt es nur noch uns neun. Wenn man meinen toten Gehilfen, der die Bombe gelegt hat, nicht mitzählt."
Cuinns Gesichtszüge verhärteten sich bei der Erwähnung der Bombe. „Was du mit deinem ganzen Gerede also sagen willst, ist, dass einer der vier Leute im Keller für dich arbeitet? Dass einer von ihnen die Anderen ausschalten wird?" Seine Stimme klang gereizt.
Der Maskierte lachte wieder, doch dieses Mal wirkte es fast schon mitleidig. „Genau das will ich sagen."
Cuinn verharrte einige Momente, ehe er sich losriss und sich ein paar Schritte entfernte. „Und wir sollen dir diese Lüge jetzt wirklich abkaufen?" Nun lachte auch er. „Denk dir mal etwas Anderes aus. Das mit dem angeblichen Verräter wird langsam langweilig."
Doch der Täter ignorierte Cuinns verächtliche Worte. „Ihr werdet es bereuen. Euch wird es noch leid tun, dass ihr es gewagt habt, mich zu besiegen. Ich bin euch immer einen Schritt voraus, versteht ihr? Ich weiß alles über euch. Ich habe jedes Gespräch hier gehört, jede Idee, jeden Verdacht. Und ich habe immer noch einen Trumpf im Ärmel."
Kai schnaubte wütend und drückte seinen Ellenbogen gegen die Luftröhre des Täters. Ein röchelndes, verstörendes Lachen erklang.
„Sieben auf einen Streich", presste der Täter hervor und auf einmal vernahmen meine Augen eine Bewegung am anderen Ende des Ganges.
Ein Schatten, eine dunkle Silhouette.
Doch meine Augen richteten sich nur auf den Gegenstand in ihrer Hand. Eine Waffe.
„Das kann nicht sein", flüsterte ich, während meine Gedanken versuchten, das Geschehene zu verarbeiten.
Der Täter sagt, wir sind nur zu neunt hier. Wir acht und der Täter. Also entweder der Täter lügt und es gibt noch jemanden hier, der für ihn arbeitet. Oder aber die sich uns nähernde Gestalt ist einer von uns. Einer derjenigen, die in den Keller geflohen sind. Ein Verräter.
Ohne nachzudenken richtete ich mich auf und machte einen Satz in Richtung der Pistole, die noch immer unbenutzt auf dem Boden lag.
Doch ich war nicht schnell genug.
Ein Warnschuss traf direkt neben der Waffe ein und ließ mich zurückschrecken.
Ich konnte im Augenwinkel sehen, wie Cuinn schockiert die Augen aufriss und Daisy und Kai zur Seite wichen.
Meine Augen begannen zu tränen und das hässliche Lachen erfüllte die schreckliche Stille.
Die am Boden liegende Gestalt erhob sich, jetzt wo sie niemand mehr festhielt, und griff nach der Waffe.
So standen sie also nun da.
Zu zweit.
In identischen schwarzen Mänteln und Masken und richteten die Pistolenläufe auf uns.
Noch nie zuvor hatte jemand eine Waffe auf mich gerichtet.
Ich machte einen unbedachten, taumelnden Schritt zurück. Eine der beiden schattenartigen Personen trat zu mir und packte mich fest am Arm, ohne mich aus dem Zielradar zu lassen.
„Mitkommen", säuselte sie mit der metallenen Stimme. Mit einem knappen Nicken bedeutete die Gestalt Cuinn sich uns zu nähern. Als er wie erstarrt stehenblieb, wurde mir der Pistolenlauf gewaltsam gegen die Schläfe gedrückt.
Ein panischer Schrei entwich meinen Lippen und Cuinns weit aufgerissene Augen durchbohrten mich, während er rasch die Anweisungen befolgte und sich dem Täter und mir näherte.
„Folgt mir", zischte die Gestalt. Ich warf einen kurzen Blick zurück zu Kai und Daisy. Sie wurden von der anderen dunklen Gestalt weggeführt und ich meinte, Daisy weinen zu hören.
Alles ist verloren.
Meine Beine begannen zu zittern, und ich spürte Tränen an meiner Wange hinablaufen. Der Pistolenlauf fühlte sich brennend heiß an meiner Schläfe an.
Auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte – ich hatte in letzter Zeit Hoffnung geschöpft.
Mit jedem Menschen, den wir gerade noch gerettet hatten, mit jedem Abend, den wir alle miteinander verbracht hatten, mit jedem verdammten Moment, hatte ich mehr und mehr Hoffnung geschöpft.
Ich war trotz all der Angst tatsächlich noch so naiv gewesen zu glauben, dass wir es alle herausschaffen würden. Dass wir zu acht in ein paar Jahren in einem Café sitzen würden. Jeder einzelne von uns.
Wie naiv von mir. Wie dumm. Wie gutgläubig. So funktioniert die Welt nicht. Es gibt so etwas wie Happyends nicht.
Ich warf Cuinn durch einen Tränenschleier einen kurzen Blick zu. Er ging angespannt neben der dunklen Gestalt her, sein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Ich brauchte seine Augen nicht zu sehen, um zu wissen, dass er in tiefen, dunklen Gedanken versunken war.
An einem Ort, an dem ich ihn nicht erreichen konnte. Nie erreichen würde.
Wie naiv von mir. Wie naiv. Naiv. Naiv.
Momente wie diese waren die schlimmsten. In ihnen wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass ich liegen geblieben wäre. Damals vor zwei Jahren. Als ich versucht hatte, zu Stevie in den Ballettsaal zu gelangen. Als die Menge mich zu überrennen drohte, als ich auf dem Boden lag und die Füße auf mich eintraten, ich keine Luft bekam.
Ich wünschte, ich hätte nicht die Kraft gehabt aufzustehen.
Ich wünschte, ich wäre einfach liegen geblieben.
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