Kapitel 29 [Daisy]

Ich erreichte das Ende des tunnelartigen Gangs bereits nach wenigen Minuten.

Ich ignorierte den stechenden Schmerz in meinen Händen und Knien, der sich wegen dem harten Boden gebildet hatte.

Meine Augen waren wie verzaubert auf das immer heller werdende Licht gerichtet und mein erwartungsvoller Atem verschnellerte sich immer mehr, bis er dem Hecheln eines Hundes glich.

Die letzten Meter konnten beim besten Willen nicht mehr kriechen genannt werden, denn ich robbte eher über die kalte Oberfläche, nicht in der Lage, meine Freude auszudrücken.

Als ich das Ende des Gangs erreicht hatte, musste ich meine Augen zusammenkneifen, so grell war das blendende Licht, das sich mir offenbarte. Blinzelnd richtete ich mich auf, da die Decke des Gangs an dieser Stelle höher geworden war, und ich nun tatsächlich stehen konnte.

Der Korridor wurde von hellen Seitenlampen, die sich über die gesamte Wand erstreckten, beleuchtet und obwohl die Decke höher geworden war, war der Durchgang selber nun schmaler, sodass ich mit meinen Händen beide Wände des Flurs gleichzeitig streifen konnte.

Ich fröstelte ein wenig und meinte, einen kalten Luftzug zu spüren, woraufhin ich mein Schritttempo noch mehr erhöhte.

Ein Luftzug kann nur eines bedeuten: ich komme gleich nach draußen.

Einen kurzen Moment lang, überlegte ich, nun bereits umzukehren, um Noah zu holen, damit wir gemeinsam rausgehen konnten, doch letztendlich entschied ich mich dazu, selber weiterzugehen und erst, wenn ich mir zu einhundert Prozent sicher war, dass hier ein Ausgang war, zurückzukehren.

Die Luft wurde immer kälter und frischer und der Wind wurde immer stärker, was alles darauf hinwies, dass ich gleich hinausgelangen würde, und dennoch riss ich meine Augen überrascht auf, als der Gang abrupt in einem Felsvorsprung endete.

Rasch wich ich zurück, denn der pfeifende Wind empfing mich so rasant, dass ich fast taumelte.

Meine Arme umschlangen meinen Oberkörper und ich blickte mich Zähne klappernd um, um herauszufinden, wo ich mich befand.

Der Abgrund lag vor mir wie der Schlund eines Monsters und als ich nach oben in Richtung des nächtlichen Himmels blickte, stellte ich fest, dass ich nicht viel tiefer stand als sich das Plateau, auf dem der Rubinpalast stand, befand.

Verwirrt suchte ich nach irgendeinem Hinweis, wie man von diesem schmalen Vorsprung verschwinden konnte, doch in dieser Dunkelheit war es kaum möglich, irgendetwas zu erkennen.

Das Licht, das noch aus dem unterirdischen Gang drang, war zu wenig, um wirklich hilfreich zu sein, weshalb ich wütend auf den Boden stampfte.

Links von dem Vorsprung, auf dem ich stand, fing etwas meine Aufmerksamkeit, woraufhin ich mich mit schmalen Augen diesem Etwas näherte.

„Eine Leiter", flüsterte ich überrascht, als ich mich leicht vorgebeugt und die Leiter aus Metall betastet hatte. Mein Blick versuchte nach unten hin, ausfindig zu machen, wo die Leiter endete, doch es war zu dunkel und zu tief, um das zu erkennen. Unschlüssig blickte ich zurück in den beleuchteten Korridor.

Ich muss zurück zu Noah.

Und auch, wenn ich am liebsten sofort in diesem Augenblick die erste Sprosse betreten und nach unten geklettert wäre, atmete ich tief durch und betrat rasch den Korridor, um zu Noah zurückzueilen.

Die grellen Lampen verschwammen in meiner Sicht und ich stieß mir beinahe meinen Kopf an, als ich wieder bei der Stelle ankam, wo der hohe, schmale Gang in den den tunnelartigen Schacht mündete, durch den ich kriechen musste.

Meine Hände schwitzten und meine Knie schmerzten, während ich gehetzt über den kalten Boden kroch und mich immer wieder umblickte.

Ich bin paranoid. Hier ist niemand.

Meine Beine bewegten sich immer schneller und der Gang verfinsterte sich langsam wieder, ehe ich durch die dunkle Öffnung zurück in den Kellerraum schlüpfte.

Ich tat so, als würde ich gähnen und murmelte scheinbar benommen: „Oh nein, hoffentlich habe ich nicht zu lange geschlafen."

Auch, wenn ich Noah nicht sehen konnte, hörte ich, wie er angespannt, die Luft einsog.

„Hast du gut geschlafen?", fragte er dicht neben mir, was ich mit einem aufgeregten „Ja" beantwortete.

„Dann schlafe ich jetzt auch ein wenig", erwiderte er und schob sich fast geräuschlos durch die Öffnung in den kleinen Schacht.

Ich warf noch einen letzten Blick zurück in die Finsternis und hoffte inständig, dass die Anderen uns nicht allzu oft ansprechen würden, denn dann würde der Täter zweifellos irgendwann feststellen, dass wir nicht mehr da waren, wo er uns erwartete.

„Wir holen euch hier raus", hauchte ich, eher zu mir selber, und folgte Noah in den dunklen Schacht, an dessen Ende Licht zu sehen war.

Mein Atem war rasch und hektisch, doch ich war ruhiger und hoffnungsvoller als zuvor, denn nun war ich nicht mehr alleine.

Noahs Gestalt nahm vor mir langsam Gestalt an und als wir den höheren und beleuchteten Korridor betraten, konnte ich nicht anders als loszurennen. „Wir haben leider keine Jacken", flüsterte ich ihm beunruhigt zu, denn der Gedanke, nun durch die Kälte und Dunkelheit ohne warme Klamotten zu laufen, erfüllte mich nicht gerade mit Freude.

Was, wenn wir erfrieren, bevor wir überhaupt irgendwo ankommen, wo wir Hilfe suchen können?

Noah wirkte ebenfalls beunruhigt, doch er schwieg und beeilte sich, den Ausgang zu erreichen. Als wir auf dem Felsvorsprung anhielten, weitete Noah erleichtert seine Augen.

Sein ungläubiger Blick schweifte über die dunkle Weite und ich hätte auch gerne die frische Luft genossen, doch ich wusste, dass wir uns beeilen mussten.

Die Anderen stecken immer noch fest. Und wir sind auch noch nicht ganz frei.

Ich zeigte Noah die Metalleiter, die neben dem Felsvorsprung angebracht war, und betrat mit zitternden Knien die erste Sprosse, von der ich mich vorsichtig, Schritt für Schritt, hinabließ. Noah folgte mir rasch. Der Wind war unerträglich kalt und meine Zähne klapperten unaufhörlich, während ich fast gar nichts vernahm, außer dem lauten Pfeifen des Windes.

Meine Hände froren so sehr, dass ich beinahe das Gefühl hatte, sie würden gleich loslassen und mich in die Tiefe stürzen lassen.

Ganz ruhig, redete ich mir ein, während meine Füße wackelig und instabil die nächste Sprosse suchten. Ich hatte keine Ahnung wie viele mir noch fehlten, denn mein Blick war starr auf meine Hände gerichtet, die jeden Moment abzurutschen drohten.

Festhalten. Einfach nur festhalten.

Ich wagte es nicht, meinen Mund zu öffnen, um Noah, der direkt über mir kletterte, etwas zuzurufen, denn die Kälte war so unerträglich, dass sie meine Worte vermutlich ersticken würde.

Meine Gelenke fühlten sich steif an und mein ganzer Körper wurde von einem solchen Zittern erfasst, dass ich vor Schmerz aufheulen wollte, doch selbst dafür reichte meine Energie nicht aus.

Ich riskierte einen kurzen Blick nach unten, wo ich jedoch rein gar nichts erkannte.

Wir hätten mit dem Abstieg bis zum nächsten Tag warten sollen, schimpfte ich mich selber aus, doch mir war selber klar, dass Noah und ich am nächsten Tag vermutlich vor lauter Hunger und Durst keine einzige Sprosse geschafft hätten. Mein Magen grummelte jetzt schon, doch dieser Hunger war nichts im Vergleich zu der Kälte, die in jede Faser meines Körpers drang.

Ich hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, als meine steifen Finger von der Sprosse glitten und meine Füße ihren Halt verloren.

Kraftlos und mit weit geöffneten Augen fiel ich, zu erschöpft, um irgendeinen Rettungsversuch zu unternehmen.

Mein Körper zuckte und das grauenhafte Bauch-kribbeln, das sich in mir breit machte, machte mich wahnsinnig.

Als ich bereits kurz darauf dumpf aufprallte, blieb ich einen Moment reglos liegen, in dem Glauben, ich wäre viele Meter tief gestürzt, doch als ich mich langsam im Schnee aufrichtete, erblickte ich Noahs Silhouette nur wenige Meter über mir.

Erleichtert seufzte ich auf und alles in mir wollte sich in den weichen Schnee legen und einfach einschlafen.

Irgendwie ist mir wärmer... vielleicht kann ich ja einfach eine kurze Pause machen, ein kleines Nickerchen...

Ich schüttelte den Kopf und stützte mich auf die Ellbogen, um mich ächzend aufzurichten. Noah landete neben mir im Schnee und hielt mir seine zitternden Hand hin, die ich dankbar ergriff.

Ich sah kaum etwas, weshalb ich dankbarer als je zuvor über das glänzende Licht der Sterne war.

„Wie sollen wir in dieser Dunkelheit einen Weg aus dem Abgrund finden?", fragte ich und wusste selber nicht genau, wieso ich flüsterte. Meine Arme umschlangen meinen Oberkörper, der lediglich von einem Pullover gewärmt wurde, und ich versuchte verzweifelt das Hungergefühl in meinem Magen auszublenden.

„Ich weiß es nicht", murmelte Noah neben mir und deutete auf die eisbedeckte Fläche, die vor uns lag. Der Abgrund bestand praktisch nur aus einer eisigen, schneebedeckten Fläche, die von einzelnen Kiefern und Tannen bedeckt war. Nicht weit von uns, erstreckte sich der kleine Bergsee.

Seine einst eisbedeckte Fläche war noch immer zersplittert und überall lagen Bruchstücke der gestürzten Brücke. Ich stolperte beinahe über rostiges Metall, das vor meinen Füßen lag, als ich meinen Blick über die Umrisse des Wracks schweifen ließ. Der Anblick war erschreckend.

Wir machten ein paar zögernde Schritte auf den See zu und stellten uns an dessen Ufer, um den chaotischen Anblick näher zu betrachten.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, doch ich bückte mich, um ein zähes, eingefrorenes, langes Seil, das vermutlich von der gestürzten Hängebrücke stammte, aus dem eiskalten Wasser des Sees zu fischen. Schwer atmend zog ich es ans Schneeufer und begutachtete es im spärlichen Licht, ehe ich mich an Noah wandte.

„Das könnten wir wahrscheinlich gebrauchen", murmelte ich. Noah nickte kaum merklich, woraufhin ich das Seil mit Mühe und Not und steifen Fingern zusammenrollte.

Noah hatte währenddessen den kleinen, aufgewühlten See umrundet und suchte die andere Seite des Abhangs nach Aufstiegsmöglichkeiten ab, doch ich konnte anhand seinem nervösen Schnauben hören, dass er in der Dunkelheit nicht fündig wurde.

Mit allen Mitteln versuchte ich, mich zu konzentrieren, doch die Kälte schien nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Fähigkeit zu denken, eingefroren zu haben. Auf zittrigen Knien trat auch ich um den kleinen See herum, immer darauf bedacht, nicht zu nah an das eiskalte Wasser zu kommen, bis ich schließlich bei Noah auf der anderen Seite ankam.

Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte zu erkennen, wo man möglicherweise hochklettern könnte, doch ein leises, kaum hörbares Geräusch ließ mich herumfahren.

Dort stand jemand.

Auf der anderen Seite des Bergsees, dort, wo wir gerade noch gestanden hatten, verharrte eine Gestalt.

Nur ihre dunklen Umrisse waren zu erkennen. Ich unterdrückte einen Schrei, doch mein plötzlich unglaublich lauter, hechelnder Atem, schien zu genügen, dass auch Noah sich umdrehte.

Der See lag ruhig und still da, als wäre die Zeit stehengeblieben. Er war das Einzige, was uns noch von der Gestalt trennte. Wenige Meter.

Ich fühlte mich wie betäubt, wie angewurzelt, und auch Noah schien nicht zu wissen, was wir tun sollten.

Sollen wir die Person angreifen? Weglaufen? Stehenbleiben und warten?

„Wer bist du?", hörte ich mich sagen. Laut und mit klarer Stimme, die dem Gegenteil meiner Gefühlswelt entsprach. In meinem Kopf schwirrte alles. Summte und zitterte und weinte. „Was willst du von uns?"

Die Gestalt antwortete nicht, stand immer noch reglos auf der anderen Seite des Sees, als wartete sie auf etwas. Ich spürte ein Zittern durch meinen gesamten Körper sausen, hörte Noahs hastigen, gehetzten Atem dicht neben mir.

„Ich will, dass ihr kaputtgeht", erklang auf einmal die Antwort. Es war dieselbe unbestimmbare Stimme, wie ich sie schon damals gehört hatte, als ich entführt worden und im Keller versteckt worden war.

Die Person, die mich vor angeblichen Verrätern gewarnt und mich bewusstlos im Schnee vergraben hatte.

Wut flammte in mir auf, unbändiger Zorn, doch vor allem Unverständnis.

Wieso?, war alles, was in meinen Gedanken zu hören war. Wieso, wieso, wieso?

„Was haben wir getan?", fragte ich und meine Stimme hatte auf einmal jegliche Sicherheit und Kraft verloren. Sie klang weinerlich, fast schon flehend und ich hasste mich selber für diese Demütigung.

„Was ihr getan habt?", fragte die Stimme, deren Klang ich immer noch nicht richtig einordnen konnte, denn sie erschien mir fast schon mechanisch, wie die Stimme eines Roboters oder einer künstlichen Intelligenz. Die Person benutzt einen Stimmverzerrer.

Ein leises freudloses Lachen hallte zu uns hinüber und es ließ mein Blut in den Adern gefrieren.

„Das solltest du doch wissen, Daisy, oder? Du hast doch das Bild über der Treppe zum Keller gesehen." Mein unkontrolliertes Zittern erstarb plötzlich. Doch nicht, weil es mir besser ging.

Ganz im Gegenteil. Mein Herz schien stehengeblieben zu sein und mir war auf einmal so schummrig, so kalt, dass ich ein wenig taumelte. Mit Mühe und Not hielt ich mich auf den Beinen, hielt meine flatternden Augenlider geöffnet.

Das Bild von ihm. Dem Mann, der mein Leben zerstört hatte. Er musste etwas hiermit zu tun haben. Aber er war tot. Tot.

Ich spürte Noahs Seitenblick natürlich. Ich wusste ganz genau, was ihm soeben durch den Kopf ging. Denn ich hatte geschwiegen, hatte niemandem erzählt, dass ich das Foto von ihm gesehen hatte.

„Aber er ist tot", sagte ich mit einer seltsamen Stimme, die ich selber nicht einschätzen konnte, von der ich selber nicht wusste, wieso sie so klang. „Er ist tot, also kann es nichts mit ihm zu tun haben."

Die Person lachte nun noch lauter, fast schon hysterisch, als hätte ich einen Witz erzählt. Es war kein Witz. Ich hatte es schließlich selber gesehen. Ich hatte alles mit eigenen Augen gesehen. Er war tot. Tot, tot, tot.

Die Person, die ich auf schmerzliche Weise geliebt und gehasst hatte. Die Person, die so viel Schmerz und Leid verursacht hatte.

„Du hast Geheimnisse vor den Anderen, Daisy, oder?", fragte die Person, dessen Lachen nun verklungen war und nur noch von hohlem Spott erfüllt war. „Du hast ihnen nichts von dem Foto erzählt. Aber pass auf, meine Liebe."

Die Worte waren kaum ein Flüstern, doch sie ließen meinen Kopf kreisen, meine Sicht verschwimmen. „Du bist nicht die Einzige, die das Foto erkannt hat. Du bist nicht die Einzige, die eins und eins zusammenzählen kann."

Ich wich instinktiv einen Schritt zurück, als könnte mich das vor den Worten schützen.

Wer außer mir sollte sein Foto erkennen? Bin ich etwa nicht die Einzige, die ihn kennt?

„Wovon spricht er?", fragte Noah leise neben mir. Ich konnte den anklagenden Ton in seinen Worten klar heraushören. Ich antwortete nicht, ignorierte das Stechen in meiner Brust.

„Warte nur ab, bis die Anderen es verstehen, Daisy", flüsterte die Gestalt, immer noch reglos in der Dunkelheit verharrend. „Bis die Anderen realisieren, dass du Schuld daran bist, dass sie alle hier festsitzen und langsam sterben werden. Wegen dir."

Ich bückte mich, krümmte mich. Ich sah kaum etwas, hörte kaum etwas, doch ich spürte so viel, so viel Schmerz und Schuld auf einmal.

„Nein", krächzte ich. „Ich kann nichts dafür, dass wir hier sind. Ich habe nichts damit zu tun."

„Oh doch, das hast du", hauchte die Gestalt und ich konnte ihr Lächeln förmlich hören.

Ich kauerte am Boden, mit klappernden Zähnen und ängstlichem, starrem Blick, der matt in die Finsternis gerichtet war.

Noahs stockende Atemzüge erfüllten das Rauschen in meinen Ohren.

Man konnte die Gestalt kaum erkennen, außer ihren dunklen Umrissen, war nichts zu sehen.

Doch als sie die Hand in ihre Manteltasche steckte und etwas hervorzog, konnte ich seltsam scharf sehen.

Ich schrie.

Kurz und panisch.

So laut, dass man es vermutlich bis nach oben, in den Rubinpalast hören konnte. Vielleicht aber auch nicht.

Der knallende Ton, der daraufhin die Luft erfüllte, betäubte mich, ließ mich verstummen. Ich spürte nichts. Nichts. Doch der dumpfe Aufprall neben mir sagte genug.

Die Kugel hatte ihr Ziel nicht verfehlt.

Ich drehte mein Gesicht langsam zu ihm, zu der dunklen Silhouette, die neben mir auf dem Boden gekauert lag. Reglos. Schweigend. Noah.

Ich presste meine Handfläche auf meine Lippen, doch sie hinderten mein Schluchzen nicht daran, in die Stille hinauszugelangen.

Das rasend schnelle Pochen in meiner Brust schmerzte. „Noah", flüsterte ich. Und dann wieder. „Noah!"

Alles in mir zog sich zusammen. Alles in mir schrie und weinte, doch meine starre, kraftlose Miene wurde lediglich von leisen, fast stummen Schluchzern durchbrochen.

Schritte kamen auf mich zu, doch ich wagte es nicht, aufzublicken, konnte nicht den Blick von Noahs Silhouette reißen. Er war verletzt. Verwundet. Im Schockzustand. Doch das Wort tot wagte ich nicht einmal, zu denken.

Unmöglich. Niemand von uns konnte einfach so sterben. Nicht, nachdem wir so oft dem Tod entrinnt waren, nicht nachdem wir noch vor wenigen Stunden gemeinsam im Gemeinschaftsraum gespielt hatten und Noah uns Ballett vorgetanzt hatte.

Ich spürte eine Hand, die sich sanft auf meine Schulter legte.

Ich wollte sie wegschlagen, wollte sie anschreien, die Finger von mir zu nehmen, doch mein Blick lag wie erstarrt auf Noah.

Er kann wunderschön Gitarre spielen.

„Schh, Daisy. Nicht traurig sein", flüsterte die Stimme neben mir.

Und er ist mutig. Er ist mir in den Keller hinterhergerannt, während alle Anderen geblieben sind. Er ist mir nur gefolgt, um mir zu helfen. Und jetzt...

„Ich habe ihn doch nur getötet, um dir zu helfen. Verstehst du das nicht?"

Langsam hob ich den Kopf, richtete meinen ungläubigen, verschwommenen Blick auf die Gestalt, die neben mir stand. Die eine Hand auf meiner Schulter, die Andere mit einer Waffe.

Mein Schluchzen zerriss erneut die Stille, denn ich konnte nicht glauben, was diese grauenhafte Person gerade sagte. Was sie sagte, nachdem sie Noah erschossen hatte.

Ich legte meine Finger an Noahs Hals, doch ich spürte nichts, keine pochende Wärme, kein pulsierendes Blut. Oder doch?

„Ich habe ihn getötet, damit nie jemand der Anderen erfährt, dass du der Grund bist, wieso sie hier sind. Damit er niemandem davon erzählen kann. Ich habe doch bloß dein Geheimnis bewahrt."

Diese Worte stachen und brannten wie Gift in einer Wunde. Ich wusste nicht, was ich auf so etwas Abscheuliches erwidern sollte. Was man sagte, wenn so widerliche Worte an einen gerichtet waren.

Ich wollte etwas sagen, etwas, in dem all der Hass steckte, den ich in diesem Moment verspürte. Ich wollte die Person erwürgen, selbst, wenn sie mich davor noch erschießen würde. Soll sie halt.

„Das wäre mir egal gewesen", sagte ich weinend, schluchzend. „Mir wäre scheißegal gewesen, dass jeder davon erfährt, solange niemand stirbt."

„Aber das ist doch der Sinn unseres Spiels, Daisy", flüsterte der Schatten, dessen kalte Fingerspitzen sich in meine Schulter gekrallt hatte.

„Und außerdem ist dein Geheimnis noch lange nichts sicher. Du bist schließlich nicht die Einzige, die von ihm weiß. Die das Foto beim Kellereingang gesehen hat. Möchtest du wissen, wer davon weiß? Wer bald wissen wird, dass du Schuld bist?"

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, während die Tränen an meiner Wange hinabflossen. Meine Hand ruhte auf Noahs Hals, als würde er mir noch immer Gesellschaft leisten.

„Das war auch nur eine rhetorische Frage. Ich sag es dir sowieso. Cuinn und Eve kennen ihn, weißt du? Sie haben das Foto gesehen. Sie haben es erkannt. Und sie werden schon bald dahinterkommen, dass sie wegen dir hier sind."

Wieso wegen mir?, wollte ich fragen, doch die Worte blieben in meinem Hals stecken. Die Kälte war unerträglich, doch auf einmal war sie beruhigend und angenehm.

„Wenn du also willst, dass sie schweigen, wirst du sie zum Schweigen bringen müssen."

Diese Worte ließen mich erschaudern, doch ich schwieg, während die Tränen still weiterflossen.

„Ich werde niemanden töten", flüsterte ich. „Niemals würde ich das tun, nur, damit niemand davon erfährt. Das wäre es mir nicht wert."

Ein leises Lachen erfüllte die Stille.

„Los. Geh zurück zu den Anderen", sagte die Stimme neben mir, mit einem zischenden, säuselnden Ton.

Ich regte mich nicht, kraftlos kauerte ich auf dem eiskalten Boden, der meinen ganzen Körper einlullte.

„Wieso tust du so, als würdest du mir helfen wollen?", fragte ich. „Wieso tust du so, als würde es dir am Herzen liegen, dass meine Vergangenheit ein Geheimnis bleibt? Wieso erschießt du mich nicht einfach hier und jetzt, so wie Noah?" Meine Worte waren kaum mehr ein Flüstern, doch sie ließen die Gestalt neben mir mitten in der Bewegung innehalten.

Ich spürte etwas Metallenes und Kaltes an meinem Hals, doch mir war egal, dass der Lauf der Pistole auf mich gerichtet war.

Reglos blieb ich sitzen. Ich erinnerte mich an die Melodie, die Noah noch gestern Abend auf der Gitarre gespielt hatte.

„Weil ich mit dir noch ganz andere Pläne habe, Daisy. Das hier wäre doch viel zu undramatisch. Ich will, dass dein Auftritt wunderschön wird, wenn du untergehst", erwiderte der Schatten mit seiner seltsam sanften Stimme. „Weil ich will, dass du das Märchen noch bis zum Ende miterlebst."

Das bittere Lächeln war kaum zu überhören.

„Denn ich habe dieses Märchen für dich geschrieben. Nur für dich."

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