Kapitel 25 [Daisy]

Als Eve mit Cuinn zurückkam, vermied ich es, ihr in die Augen zu blicken. Nicht, weil ich irgendetwas getan oder gesagt hatte, was sie verletzt haben könnte, sondern weil ich eben nichts gesagt hatte.

Ich wusste selber nicht warum, denn dass Eve eine Verräterin war, klang zu absurd, um wahr zu sein.

Aber ich kenne sie nicht. Ich darf ihr nicht einfach so vertrauen, nur weil sie auf mich nicht wie eine Verräterin wirkt. Meine Naivität hat mich schon einmal fast ins Grab gebracht.

Ich straffte die Schultern und hob meinen Kopf, denn mir war klar, dass es feige war, den Blickkontakt zu vermeiden.

Eve trat an mir vorbei und ich versuchte in ihren grauen Augen etwas zu sehen, doch das verletzte und gekränkte Schimmern, das noch vorhin in ihnen zu erkennen war, war nun verschwunden. Nur noch ihre geröteten Wangen wiesen darauf hin, wie sehr sie diese Anschuldigungen getroffen hatten, doch das konnte auch genauso gut von der Kälte, die draußen tobte, stammen.

Eves Blick huschte zu mir und sie kniff ihre Augen zusammen, ehe sie sich auf dem hintersten Sofa niederließ.

Sie schwieg und ich kam nicht umhin, Seraya einen raschen Blick zuzuwerfen, um einzuschätzen, was sie dachte, doch diese saß mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck und übereinander geschlagenen Beinen da und verfolgte jede von Eves Bewegungen.

Ich räusperte mich und strich mir unruhig über meine schwarzen Haare.

„Eve, ich möchte, dass du weißt, dass ich nicht geschwiegen habe, weil ich von deiner Schuld überzeugt bin, sondern weil ich hier von Grund auf einfach niemandem zu viel Vertrauen schenken will", sagte ich und bemühte mich, so gelassen wie möglich zu klingen. Eine lose Haarsträhne kitzelte mich im Gesicht, doch ich hielt meine Hände fest an meinen Körper gepresst.

Eve schien mich kaum zu beachten. „Wir werden nichts tun", fügte Seraya hinzu. „Aber ich behalte dich im Auge. Das sollten wir alle. Nicht weil ich etwas gegen dich habe, sondern einfach aus reiner Vorsicht."

Ich erwartete, dass Eve etwas bissiges erwiderte, doch sie hielt ihre Lippen fest aufeinander gepresst. Im Augenwinkel meinte ich, in Cuinns Gesicht ein kleines Schmunzeln zu sehen.

Etwas verwirrt wandte ich meinen Kopf zu ihm, doch der belustigte Ausdruck war bereits verschwunden, und von einem unlesbaren, scheinbar gelangweilten ersetzt worden.

Wieso findet Cuinn es lustig, dass Eve beschuldigt wird? Von ihm hätte ich eigentlich erwartet, dass er sich für sie einsetzt... es wirkt schließlich so, als würde er Eve mögen.

„Dann behalte mich im Auge", meinte Eve schulterzuckend und lehnte sich gelassen zurück. Es war jedoch kaum zu übersehen, wie viel Überwindung es sie kostete.

Hat Cuinn ihr möglicherweise geraten, ruhig zu bleiben, um nicht verdächtig zu wirken?

„Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Täter auch einfach nur wollen könnte, dass wir uns gegenseitig fertigmachen, damit er es nicht selber tun muss. Vielleicht gibt es überhaupt keinen Verräter", sagte Noah, um die Stimmung ein wenig zu lockern.

„Das habe ich vorhin auch gesagt", bemerkte Eve mit gepresster Stimme. „Aber niemand hat mir geglaubt."

Ihr Blick schweifte scheinbar zufällig zu Cuinn, der die Situation tatsächlich amüsant zu finden schien, denn seine Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als fiele es im schwer, nicht zu grinsen. Eves eisige Miene sprach Bände, doch sie zwang sich zu einem matten Lächeln.

„Und jetzt? Warten wir darauf bis wir alle getötet werden?"

Kai trat unruhig von einem Bein aufs Andere. „Ich wäre dafür, dass jeder wieder auf sein Zimmer geht. Ich will nicht mit einem Verräter im selben Raum schlafen, jetzt mal unabhängig davon, wer es ist", sagte er schließlich und strich sich über den Arm, auf dem ein Drache tätowiert war. „Falls es im zweiten Stock noch zu sehr stinkt, können wir ja in den ersten Stock. Die Türen sind alle offen, uns steht also jedes Zimmer frei."

Cuinn, der neben Kai stand, runzelte die Stirn. „Ich bin dafür, dass wir hierbleiben und alle im Gemeinschaftsraum schlafen", erwiderte er und ließ sich demonstrativ auf einem Sofa nieder, wo er sich zurücklehnte und zufrieden lächelte. „Und wenn einer von uns wirklich ein Verräter ist, wäre es sogar noch klüger hier zu bleiben. Oder wollt ihr wirklich alleine in einem Zimmer sein, wo jederzeit jemand reinkommen kann und ihr ihn alleine ausschalten müsstet? Ich bleibe hier", er machte eine undeutliche Handbewegung, „wo ich jeden im Auge behalten kann. Denn was hat Al Pacino in der Pate so schön gesagt: „Halte deine Freunde nah, aber deine Feinde noch näher."

Cuinns Lächeln war aufrichtig und verschmitzt, doch ich konnte die Warnung in seinen funkelnden Augen klar und deutlich erkennen.

„Also gut. Wir bleiben hier. Wo niemand irgendjemandem etwas tun kann, ohne dass es die Anderen bemerken", pflichtete Noah Cuinn bei und nickte zuversichtlich.

Und so verbrachten wir den gesamten Tag und die zwei darauffolgenden Tage ebenfalls, im Gemeinschaftsraum, auf irgendetwas wartend.

Vermutlich darauf, dass unser Verschwinden bemerkbar wurde und jemand nach uns suchte, denn das schien unsere letzte Hoffnung zu sein.

Die Angst lag wie ein grauer Schleier über uns, denn wir erwarteten, dass jeden Moment etwas grauenhaftes passieren würde. Wann würde der Täter genug davon haben, abzuwarten? Wann würde er wieder zuschlagen?

Über das Wieso redete niemand, denn wenn man tot war, war das sowieso egal. Die Motive des Täters schienen niemanden zu interessieren.

Ich verbrachte einige Zeit mit Eve und auch wenn sie nicht sonderlich gesprächig war, schien sie mir meine Tatenlosigkeit nicht mehr übelzunehmen.

„Es ist wirklich egal. Ich bin dir nicht mehr böse", sagte sie mir am letzten Abend der zweiten Woche, als wir in Grüppchen vor dem knisternden Kamin saßen und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing oder leise mit dem Nachbarn redete.

„Ich weiß, wie schwer vergeben und vergessen ist", flüsterte ich und spürte Eves stechenden Blick auf mir.

„Ich bin schlecht darin, so etwas zu vergessen", sagte Eve und lehnte sich zurück. „Aber ich vergebe gerne."

Cuinn, der uns gegenüber saß und gedankenverloren aus dem Fenster blickte, legte den Kopf schief. „Allen, außer dir selbst", murmelte er, so leise, dass vermutlich nur Eve und ich es hören konnten, woraufhin Eve ihn schweigend ansah.

„Mehr als zwei Wochen sind wir jetzt schon hier", sagte ich leise. „Langsam müssen sich die Leute doch wundern, wieso wir nicht zurückkommen."

„Hat denn jemand einem Freund oder irgendjemandem erzählt, wo genau er hinfährt?", fragte Juna in die Runde, doch ehe irgendjemand etwas sagen konnte, räusperte Eve sich und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Cuinns Kiefer pressten sich aufeinander und auch ich hielt die Luft an.

Die Kameras und Abhörgeräte, schoss es mir durch den Kopf. Wenn jetzt jemand davon erzählt, wer in seinem Bekanntenkreis von der Reise weiß, ist diese Person in Gefahr... Denn der Täter wird vermutlich alles dafür tun, damit keine Hilfe kommt und jeden Menschen beseitigen, der uns vermisst melden könnte und weiß, wo wir sind.

Glücklicherweise schien jeder verstanden zu haben, was Eve meinte, weshalb die Meisten nur mit den Schultern zuckten und irgendetwas unverständliches murmelten.

Die Ersten gähnten bereits, doch Juna bestand darauf, dass Noah noch ein Lied auf der Gitarre spielte. Selbst Seraya, die meist ziemlich kraftlos auf ihrem Sofa saß und einzig und allein mit Juna und Kai redete, summte leise die heimelige Melodie mit. Der Apfel-Zimt-Tee erinnerte mich an Weihnachten, an kuschelige Tage bei meinen Eltern und auf einmal spürte ich ein solches Heimweh, dass ich mich gerne unter meiner Bettdecke vergraben und geweint hätte.

Noahs Blick ruhte in der Leere, während seine Finger geschickt an den Saiten zupften und sein Fuß im Takt wippte. Ich ließ die Musik mich einlullen, sich wie eine schützende Decke über mich legen und auch wenn ich müde war, ließ ich meine Augen offen, denn ich wollte diesen friedlichen Moment zu einer Zeit, in der es um Leben und Tod ging, in vollen Zügen genießen.

Kai hatte die Augen geschlossen, während Junas Hand fest die von Paul umschlossen hatte. Meine Augenlider flatterten erschöpft und ich schlang die Wolldecke enger um meinen Körper.

Wir ließen uns alle berauschen, genossen die vollen Klänge, und sogar Cuinn, dessen Gesicht die ganze Zeit über desinteressiert war, hellte sich ein wenig auf und er lehnte sich entspannt zurück.

Die Atmosphäre war fast schon... schön. Kaum zu glauben.

„Es fühlt sich an, als würde ich euch alle schon ewig kennen", sagte Juna, als Noah den letzten Ton ausklingen ließ und die Gitarre beiseite legte.

Ich nickte zustimmend. Tatsächlich glaubte ich in Eve etwas wie eine Freundin gefunden habe, denn sie fragte nie aus Höflichkeit, sondern immer nur dann, wenn sie etwas wirklich interessierte. Und auch, wenn ich geschwiegen hatte, als sie von Seraya beschuldigt wurde, auch, wenn ich ihr nicht vertrauen durfte und sollte, hatte ich in ihr eine Verbündete gefunden.

„Ich wünschte, es gäbe hier einen Fernseher", seufzte Noah. „Ich vermisse meine Serien."

„Jap. Für eine Folge Prison Break würde ich töten", meinte auch Cuinn und kassierte dafür einige vorwurfsvolle und zugleich amüsierte Blicke, woraufhin sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen. „Nicht im buchstäblichen Sinn, natürlich."

„Ich wäre dafür, dass wir uns irgendwie die Zeit vertreiben", schlug Juna vor. „Pantomime oder Wahrheit oder Pflicht oder so etwas."

Ich nickte, begeistert über etwas Neues, denn tagelang nur auf dem Sofa zu sitzen und dasselbe zu machen, war pure Langweile gewesen.

Wahrheit oder Pflicht hätte ich zu jedem anderen Zeitpunkt meines Lebens abgelehnt, denn so etwas spielte man vielleicht mit zwölf und kicherte dann darüber, dass man jemanden küssen musste, und aus diesem Alter war ich beim besten Willen raus, doch gerade war mir jede verdammte Abwechslung willkommen, die davon ablenkte, dass ich vielleicht nie wieder meine Eltern sehen würde, nie wieder einen Ort betreten würde, der nicht voller Schnee und Kälte und Berge war.

Wir einigten uns also auf Wahrheit oder Pflicht und auch, wenn Leute wie Eve oder Kai keinesfalls begeistert zu sein schienen, willigten selbst sie irgendwann ein.

Eve stellte jedoch die Bedingung, dass keine kindischen Aufgaben gestellt werden durften.

„Was heißt denn kindisch?", wollte Cuinn interessiert wissen, woraufhin Eve irgendetwas mürrisches vor sich hin murmelte, aber nicht näher darauf einging. Cuinns Lippen bildeten ein belustigtes, wissendes Lächeln, ehe Juna sich entschied die erste Frage zu stellen.

„Seraya. Wahrheit oder Pflicht?", fragte sie und Seraya hob den Kopf. „Wahrheit", murmelte sie mit dumpfer Stimme, die keine Zweifel ließ, was sie von diesem Spiel hielt. „Gut...äh, was ist dein Lieblingsfilm?"

„Wie langweilig", murrte Noah, der mit seinen Fingern am Gitarrenhals herum trommelte. Juna zuckte mit den Schultern. „Wir können ja erst einmal leicht anfangen."

„Mission Impossible", antwortete Seraya mit gleichgültiger Miene. „Darf ich jetzt die nächste Frage stellen?" Ohne darauf zu warten, dass jemand etwas erwiderte, wandte sie sich an Eve. Auch sie wählte Wahrheit.

„Bist du die Verräterin unter uns?", wollte Seraya mit einem kleinen Schmunzeln wissen, und auch, wenn sich Eves Gesicht für einen Moment versteifte, grinste sie.

„Nein", erwiderte sie mit einem süffisanten Lächeln, ohne den Blick von Seraya zu nehmen. „Das würde ich aber zugegebenermaßen auch antworten, wenn ich die Verräterin wäre." Seraya zuckte belustigt mit den Schultern.

„Kai. Wahrheit oder Pflicht", fuhr Eve nun fort und lehnte sich zurück.

„Pflicht", murrte Kai, der sich mit verschränkten Armen und genervtem Gesicht auf einem der Sofas ausgestreckt hatte und an die Decke starrte.

„Mach einen Handstand und trink währenddessen was", sagte Eve und ihre grauen Augen funkelten amüsiert auf. Kai stöhnte genervt und hievte sich selbst vom Sofa. „Das geht doch gar nicht", murmelte er, doch Eve nickte.

„Natürlich geht das", widersprach sie und verdrehte die Augen. Es war ein lustiges Bild, das Kai abgab, als er mit seinem tiefroten Gesicht im Handstand stand und währenddessen kalten Tee aus einem Strohhalm schlürfte. Als er zurück zu seinem Platz trat, warf er Eve einen Todesblick zu, den sie mit einem Zufriedenen erwiderte.

„Noah", sagte er und ließ sich wieder auf seinen Kissen nieder. „Pflicht", meinte dieser mit selbstbewusstem Gesicht, denn er schien ähnlich wie ich genug davon zu haben, nur herumzusitzen. Kai überlegte nicht lange.

„Führ uns einen Balletttanz auf." Er versuchte so gut wie möglich immer noch genervt und sauer auf Eve zu sein, doch seine Mundwinkel zuckten.

Ich wurde blass um die Nase, während Noah sich im selben Moment seufzend erhob, bereit, sich vor allen bloßzustellen. Ich versuchte genauso breit grinsend wie alle Anderen die Aufführung zu verfolgen, doch mein Lächeln war matt und gezwungen.

Ich sollte langsam lernen, Ballett nicht gleich mit dem Vorfall zu assoziieren.

Ich kniff die Augen zusammen, denn Eves Lippen waren fest aufeinander gepresst und ihre Augen huschten hin und her, vermieden es jedoch, Noahs Ballettkünsten einen Blick zu widmen.

Was hat sie? Wieso wird auch sie so blass?

Noahs abgehackte, unelegante Bewegungen schafften es jedoch trotzdem irgendwann mir ein ehrliches Lächeln zu entlocken.

„Reicht das?", fragte Noah in die lachende Runde hinein, und Kai nickte grinsend, woraufhin Noah sichtlich erleichtert zu seinem Platz zurückschlenderte und neben Cuinn Platz nahm, dem er sogleich die nächste Aufgabe gab.

„Eigentlich hätte ich ja Pflicht genommen, aber wenn ich es mir zweimal überlege, habe ich nicht wirklich Lust vor allen zu tanzen", sagte Cuinn und lehnte sich zurück. „Also Wahrheit."

„Verrate uns ein Geheimnis aus deinem Leben", verlangte Noah und auch, wenn er breit lächelte und wir Anderen ausgelassen und entspannt waren, hatten seine Worte einen bitteren Beigeschmack.

Cuinn ließ sich nicht verunsichern. „Ich habe keine Geheimnisse", sagte er mit seinem typischen Lächeln, bei dem man sich fragte, ob man von ihm gerade ernst genommen oder verspottet wurde. „Mein Leben ist so gewöhnlich wie das von jedem Anderen. Jetzt mal ganz davon abgesehen, das wir hier einen verdammten Horrorfilm durchleben."

Mein blasses Gesicht fand langsam wieder seine Farbe und meine zitternden Hände beruhigten sich. Ich bemerkte Eves seltsamen Blick, den sie Cuinn zuwarf, der voller Selbstsicherheit auf dem Sofa saß.

„Komm schon, jeder hat doch ein Geheimnis", beharrte Noah darauf und rieb sich die Schläfen, denn er schien enttäuscht zu sein, dass er Ballett tanzen musste, während Cuinn seiner Aufgabe ganz einfach entgehen konnte.

Einzig und allein Cuinns fest aufeinander gepressten Lippen, ließen mich erahnen, dass er angespannt war.

„Können wir einfach schnell weitermachen, damit noch Juna, Paul und Daisy drankommen?", mischte sich Eve ein und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Ich habe keine Lust mehr auf das Spiel. Also bringen wir es schnell zu Ende."

Meine Augen schweiften für einen Moment zu Cuinn, dessen angespanntes Gesicht sich nun lockerte. Er nickte Eve kaum merklich zu und ein dankbares Lächeln huschte über seine Lippen.

Juna bekam von Cuinn die Aufgabe innerhalb einer Minute, so viele Runden wie möglich durch den Gemeinschaftsraum zu drehen, wobei sie beeindruckende zwanzig Runden schaffte. Etwas wackelig auf den Beinen, aber laut lachend, fragte sie Paul nach seinem peinlichsten Erlebnis, was allem Anschein nach, der Moment war, in dem er seinem Bruder laut rufend durch das halbe Einkaufszentrum gefolgt war, der, wie sich am Ende herausstellte, ein völlig Fremder war und Paul angesehen hatte, als wäre dieser gestört.

Nach dem Spiel gingen Cuinn und Eve nach draußen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, und nach geschlagenen zehn Minuten, die ich damit verbrachte, ein Buch, das Eve mir gegeben hatte, zu lesen, erhob auch Kai sich und meinte, er müsste noch schnell ins Bad.

Doch er kam nicht weit, denn mitten in seiner Bewegung hielt er inne.

Ein ohrenbetäubender Schrei, der mir bis tief in die Knochen drang, durchschnitt die heimelige Stille.

Sechs Köpfe schossen nach oben, sechs Augenpaare starrten schockiert in Richtung der Treppe, die in den Keller führte.

Die Schreie verstummten nicht, sie waren so herzzerreißend, so schmerzverzerrt, dass ich meine Hand über die Lippen legte, um zu verhindern, dass auch ich aufschrie.

Immer wieder erklangen die Rufe, das flehende Schreien und auf einmal, meinte ich, einzelne Worte zu verstehen.

„Daisy!", schrie die Stimme gequält, aus Leibeskräften. „Daisy!"

Schreie und Weinen tönten in meinen Ohren. Wie betäubt saß ich aufrecht da, spürte die Blicke der Anderen auf mir, als erwarteten sie eine Erklärung von mir, warum die Person nach mir rief.

Ich versuchte zu schlucken, versuchte irgendetwas außer einem verzweifelten Krächzen hervorzubringen, doch es kam nichts.

„Daisy! Komm nicht runter! Komm nicht, es ist eine Fal..."

Die Stimme der Person wurde in dem Moment erstickt, als ich realisierte, wer das war. Wer da nach mir rief.

„Nein", flüsterte ich, kaum hörbar, und richtete mich fast wie in Zeitlupe auf. Machte ein paar zögernde Schritte in Richtung Keller.

Juna griff nach meiner Hand, um mich festzuhalten, doch ich riss mich grob aus ihrem Klammergriff.

Diese Stimme.

Sie gehörte Celine. Celine, meiner besten Freundin, die nie angekommen war.

Meine Beine trugen mich, ohne dass ich darüber nachdachte, zu den Treppen. Ich riss die Kellertür auf, ignorierte das Foto, auf dem er zu sehen war, nahm immer mehrere Stufen auf einmal.

Celine. Der Täter hatte Celine. Er quälte sie. Er tat ihr weh. Der Person, die mir neben meinen Eltern am meisten bedeutete. Die mich immer getröstet hatte, besonders nach dem grauenhaften Vorfall. Mir war egal, ob Celine mich anflehte, nicht zu kommen. Ob sie mich vor einer Falle warnte. Ich musste ihr helfen.

Ich stürzte in den dunklen Keller, getrieben von einer wilden Entschlossenheit. Ich hörte Rufe hinter mir, Schritte, die mir nachliefen.

„Bleib hier verdammt!", schrie Noah hinter mir, doch ich hörte nicht auf ihn, rannte blind durch den langen Kellergang, dessen kalte, leere Wände wie unheilvolle Schatten über mir hingen.

Meine Absätze hallten ohrenbetäubend wieder. Celines Schreie waren verstummt. War sie...?

Ich wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, sondern griff energisch nach der Türklinke der ersten Tür des Ganges. Ehe ich sie jedoch aufreißen konnte, riss mich jemand von ihr weg und lediglich das Wissen, dass, wenn ich jetzt zu laut war, der Täter wissen würde, dass ich hier war, hielt mich davon ab, zornig aufzuschreien.

„Du hast es doch gehört, Daisy!", zischte Noah, der mich am Handgelenk gepackt hatte und in der Dunkelheit, in der ich nur seine Umrisse sehen konnte, eindringlich anstarrte. „Das ist eine Falle! Wer auch immer da gerufen hat..."

„Das ist meine Freundin", zischte ich zurück, ohne Noah weiterreden zu lassen, und der kurze Moment der Überraschung, der Noah seinen Griff lockern ließ, reichte, um mich loszureißen und zurück zur Tür zu stürmen.

Noahs unregelmäßiger Atem hallte in meinen Ohren, als er sich ebenfalls der Tür näherte. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen, doch ich ahnte, dass er hin und hergerissen war.

„Bitte", flüsterte ich fast schon flehend. „Ich muss zu ihr. Ich muss ihr helfen."

Noah schwieg, doch er versuchte nicht noch einmal, mich von der Tür wegzuziehen. Er ging jedoch auch nicht, sondern blieb an Ort und Stelle. „Also gut", meinte er leise. „Ich komme aber mit."

Ohne darauf zu antworten, drückte ich die Klinke nach unten und schlüpfte in den dunklen Raum, wobei ich mich dafür verfluchte, mein Handy nicht mitgenommen zu haben, um mir zu leuchten. Ich wagte es nicht, nach Daisy zu rufen, denn hier war noch jemand außer ihr.

Zweifellos.

Dieser Raum war deutlich kleiner als der zweite Kellerraum, weshalb wir schnell feststellten, dass Celine nicht hier war.

Hastig eilten wir zum zweiten Raum, den ich mit rasendem Herzen betrat. Schweißperlen bildeten sich an meiner Stirn, als ich mich mit vorsichtigen Schritten hineinwagte. Ich spürte Noahs Atem direkt hinter mir, was mich ein wenig beruhigte, denn ich war immerhin nicht alleine.

Auf zittrigen Beinen, aber mit entschlossenem Blick durchkämmte ich das große, längliche Kellergewölbe. Jeden Moment würden wir auf Celine und einen Unbekannten stoßen. Jeden Moment würde die Konfrontation kommen.

Erstickte Rufe durchbrachen die Stille und Noah und ich fuhren gleichzeitig herum, denn der schmerzerfüllte Schrei kam von hinten. Aus dem Korridor des Kellers. Von dort, wo wir herkamen.

„Da war doch niemand", flüsterte ich. Und im selben Moment, als ich wieder aus dem Kellerraum stürmen wollte, schlug die Tür zu. Wie erstarrt blieb ich stehen, riss die Augen auf, stammelte ein paar Worte, doch ich konnte nichts sehen.

Die letzte Lichtquelle dieses Zimmers war das Licht aus dem Korridor gewesen.

Noah, der nicht weit von der Tür gestanden hatte, war mit einem Satz bei ihr. Ich konnte ihn nicht sehen, doch sein hektischer Atem, der in der Stille hallte, sagte genug.

Ich taumelte zurück und langsam wurde mir klar, was geschehen war.

Wir waren eingesperrt. 

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