Kapitel 23 [Daisy]

Die Kellertür war offen und obwohl dieser Fakt mich ein wenig beruhigte, schlug mein Herz immer noch deutlich zu schnell, als ich mit hastigen Schritten über die Kellertreppe nach oben rannte.

Juna und Paul standen im Gemeinschaftsraum und ihre Mienen erhellten sich, als sie mich erblickten, doch sobald sie meinen Gesichtsausdruck bemerkten, erstarb ihr Lächeln.

Wortlos ging ich zu ihnen und schloss einen Moment die Augen. Ich war erleichtert. Das war keine Frage.

Doch das änderte nichts an unserer Lage, dass wir hier immer noch festsaßen und keinen Ausweg im Keller gefunden hatten. Die toten, glasigen Augen des Mannes leuchteten in meinen Gedanken auf und ich ließ mich kraftlos auf einem Sofa nieder, sah aus dem Fenster, durch das man inzwischen nichts mehr außer tiefster Dunkelheit erkennen konnte. Was jetzt?

„Euch ist nichts passiert!", rief Seraya erleichtert, als die Anderen nacheinander aus dem Keller herausgetreten waren und als Allererstes nach Juna und Paul gesucht hatten.

„Klar, wieso sollte auch etwas passiert sein?", fragte Juna und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sie Seraya mit einem vorwurfsvollen Blick betrachtete. „Du hast doch vorhin selber gesagt, dass uns nichts passieren kann und dass Paul ein Feigling ist, oder?"

Seraya musste sich redlich viel Mühe geben, ruhig zu bleiben, doch sie verkniff sich jeglichen Kommentar und biss sich auf die Lippe, ehe sie sich neben mir auf dem Sofa niederließ. Eve und Cuinn waren die Letzten, die den Gemeinschaftsraum betraten, und sich neben Noah und Kai stellten, die wie gebannt aus dem Fenster blickten und die Finsternis zu bewundern schienen.

Lediglich das Knistern des Kamins erfüllte die Stille, denn niemand wagte es, zu fragen, wie es nun weitergehen sollte.

„Wir bleiben beim alten Plan, oder?", durchbrach Seraya schließlich die Stille. „Dass Eve oder ich morgen den Abhang herunterklettern." Murmelnde Zusprüche, flüchtige Seitenblicke, doch niemand sagte etwas konkretes.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist", sagte Cuinn schließlich, der auf der mir gegenüber liegenden Couch Platz neben Kai Platz genommen hatte. Seraya kniff die Augen zusammen und bedeutete ihm, weiterzureden. Auch Eve legte die Stirn in Falten.

„Und wieso, wenn ich fragen darf?", wollte Seraya mit einem seltsam stechenden Ton wissen. „Du hast es doch heute schon festgestellt: wir werden alle sterben, wenn wir nichts tun. Der Täter scheint nämlich alles daran zu setzen, uns in den Wahnsinn zu treiben und am Ende zu töten!"

Ihre Stimme zitterte, woraufhin Cuinn sich die Augen rieb. „Es ist der sichere Tod", sagte er mit fast schon genervter Stimme, was Serayas Augen noch mehr zum Glühen brachte.

„Hierbleiben ist auch der sichere Tod", erwiderte sie kühl. „Und gerade du solltest das doch wissen, wo du dich heute morgen noch so sehr darüber aufgeregt hast, dass dein Zimmer in die Luft gesprengt wurde!"

Seufzend lehnte ich mich nach vorne. „Hast du denn einen besseren Vorschlag, Cuinn?", fragte ich möglichst ruhig, damit Seraya und Cuinn sich abreagierten, doch es bewirkte das komplette Gegenteil.

„Seid ihr alle wirklich so schwer von Begriff?", fragte Cuinn und sein Blick war seltsam drängend, als wollte er, dass wir etwas verstanden, was er nicht aussprechen konnte. Eve legte den Kopf schief und richtete ihre grauen Augen aufmerksam auf Cuinn.

„Es ist ja wirklich rührend, dass du dich so sehr sorgst, Cuinn", fuhr Seraya fort und strich sich über ihre Jeans, um ein paar Flusen zu entfernen. „Aber ich würde sagen, dass du als derjenige, der am Rand steht und nicht klettert, nicht das Recht darüber hast, zu entscheiden, ob wir klettern." Sie wirkte entschieden und ich kam nicht umhin, sie bewundernd anzusehen. Sie hat keine Angst. Sie ist bereit alles dafür zu tun, diesen Ort zu verlassen.

Cuinns Augen funkelten und er verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. „Nichts für ungut, aber es geht nicht darum, ob ich mir Sorgen mache", sagte er ruhig. „Es geht darum, dass ich weiß, dass es nicht funktionieren wird. Dass du oder Eve unnötig sterbt und wir hier immer noch festsitzen werden."

„Und wieso zur Hölle bist du dir so sicher, dass es nicht funktioniert?", fauchte Seraya, die sich ruckartig erhoben hatte. „Du weißt doch noch gar nicht, ob es im Abgrund einen Weg gibt."

„Das ist auch völlig irrelevant", erwiderte Cuinn, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Fakt ist, dass der Täter nicht zulassen wird, dass ihr dort unten überhaupt ankommt."

„Und woher...", begann Seraya, doch Eve richtete sich plötzlich auf und lächelte so ungewöhnlich breit, dass ich sie mit seltsamem Blick forschend musterte.

„Wie wäre es, wenn wir alle einen Nachtspaziergang machen?", fragte sie. „Ich glaube, dass es uns allen guttun würde, ein wenig an der frischen Luft zu sein, und uns die Beine zu vertreten. Es ist immerhin ziemlich stickig hier drin."

Sie hatte natürlich Recht und dennoch schwang in ihrer Stimme etwas Eindringliches, etwas, was mehr bedeutete als einfach nur ein so harmloser Vorschlag.

Cuinn nickte entschieden und lächelte ebenfalls. „Sehr gute Idee!", pflichtete er ihr bei und erhob sich. Es ergab ein seltsames Bild, wie sie da nebeneinander standen und so freundlich strahlten, als würde in wenigen Stunden der Weihnachtsmann kommen, um Geschenke vorbeizubringen. Ich versuchte mein verwirrtes Gesicht zu verbergen und zuckte mit den Schultern.

„...ok?", meinte Noah und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, denn er schien ähnlich irritiert zu sein wie ich. Die meisten von uns trugen bereits ihre Jacken trugen und Kai hatte eine Ersatzjacke aus seinem Zimmer geholtel, um sie Cuinn zu geben, dessen Klamotten alle entweder verkohlt in seinem Zimmer lagen oder so höllisch nach Rauch stanken, dass er sie genauso gut wegschmeißen konnte. Irritiert begaben wir uns nach draußen.

Cuinn nahm seine Handytaschenlampe mit, damit wir wenigstens ein kleines bisschen sehen konnten, doch wie sich herausstellte, leuchteten die Sterne an einem Ort wie diesem so unglaublich strahlend hell, dass ich wie verzaubert nach oben blickte, in Richtung Himmel, an dem Abermillionen von Himmelskörpern glühten.

Sie schienen überall zu sein, überall um uns herum, sie hüllten uns in ihr silbernes Licht und als ich kurz zur Seite blickte, sah ich, dass selbst Seraya besänftigt war und wie in Trance in Richtung des Lichts starrte.

„Kommt, noch ein Stück weiter", schlug Eve immer noch mit diesem unbeschwerten Ton vor, sodass wir uns weiter von dem erleuchteten Rubinpalast entfernten und uns dem Abgrund näherten. Obwohl die Sterne, die Lichter des Rubinpalasts und Cuinns Taschenlampe uns den Weg beleuchteten, stapfte ich übervorsichtig durch den Schnee, ängstlich, ich könnte aus Versehen, den Abgrund übersehen.

Irgendwann nicht weit vom Abgrund entfernt, blieben wir stehen. Eve drehte sich so, dass ihr Gesicht zum Abgrund zeigte.

„Cuinn. Was konntest du uns im Rubinpalast nicht sagen?", fragte sie und ich blickte erwartungsvoll zu Cuinn.

„Der Täter weiß immer alles, stimmt's?", begann er, und fuhr fort, ohne eine Antwort zu erwarten. „Der Täter wusste, dass Eve das Wasserrauschen in Serayas Zimmer gehört hat und hat sie deshalb eingesperrt, damit sie nichts unternehmen konnte. Der Täter wusste, dass wir in den Keller gehen würden. Der Täter wusste, dass ich in meinem Zimmer war, als die Bombe dorthin gelegt wurde. Und ich könnte jetzt noch einiges aufzählen, aber ich glaube, ihr wisst, was ich meine. Und mit Täter meine ich nicht den toten Mann, der im Keller liegt" Cuinn schluckte hörbar und sein Blick wurde bitter, doch das verflog rasch und seine Augen funkelten selbstbewusst. „Sondern den echten Täter."

„Er beobachtet uns", flüsterte Seraya im selben Moment, in dem auch ich realisierte, was Cuinn mit seinen Worten meinte.

„Und belauscht uns", fügte Eve mit großen Augen hinzu. Ihre kühle Iris, die in dem silbernen Licht noch grauer als sonst wirkte, huschte rastlos umher.

„Und er weiß damit auch, dass Eve oder Seraya planen, dass eine von ihnen den Berg herunterklettern wird", stellte Noah fest, der unruhig von einem Bein auf das Andere trat. Juna stand mit großen Augen da und ihr Blick glitt in die Ferne, in der sie Hoffnung zu finden versuchte, doch ich wusste, dass sie nichts finden würde.

„Und er wird dafür sorgen, dass niemand ankommen wird. Er wird sie stürzen lassen", beendete Kai den Gedankengang und in seinem Gesicht brodelte purer Zorn, doch selbst er schien inzwischen zu erschöpft zu sein, um seine Wut zum Ausdruck zu bringen.

„Aber was sollen wir dann machen?", fragte Seraya, die ratlos herumblickte. „Wir können doch nicht darauf warten, bis wir nacheinander ermordet werden!"

Cuinns Schultern sanken in sich zusammen, und auf seinen Lippen bildete sich ein mattes Lächeln. „Ich weiß es nicht."

Mein Herz krampfte sich zusammen und ich war auf einmal dankbar, dass ein paar Wolken aufgezogen waren und das Licht der Sterne auffingen, denn so konnte man meine glitzernden Augen nicht sehen.

Schneewittchen, jetzt bezahlst du, flüsterte seine Stimme in meinem Kopf und ich ballte die Fäuste hinter meinem Rücken, versuchte möglichst ruhig zu atmen.

Hatte er etwas damit zu tun? Wieso hing auch sonst ein Foto von ihm im Treppenhaus?

Aber er ist tot. Er ist tot. Es kann nichts mit ihm zu tun haben. Und was haben die Anderen hier dann zu suchen? Sie kennen ihn schließlich nicht. Und selbst wenn, er kann sie nicht so gehasst haben wie mich.

Ein leises, kaum hörbares Lachen entschlüpfte meinen Lippen. Ich sprach von ihm, als würde er noch leben, obwohl ich besser als jeder Andere wusste, dass er tot war.

Vergeben und Vergessen. „Alles in Ordnung?", fragte mich Noah und ich nickte wie benommen. „Wenn wir jetzt wieder ins Haus gehen, dann sprechen wir kein Wort darüber, dass wir wissen, dass im Haus Kameras sein müssen", sagte Eve schließlich und ihre Stimme klang so entschlossen, dass ich sie hilfesuchend und hoffnungslos ansah, doch ein Blick in ihre Augen verriet mir, dass auch sie aufgegeben hatte. Dass sie diese Worte nur der Form halber aussprach, dass sie nicht wirklich daran glaubte, dass uns dieser winzige Vorteil irgendwie helfen würde.

„Es muss hier irgendwo einen Weg sein", sagte Kai. „Wie sonst soll der Mann im Keller, hierher gelangt sein? Ich meine, uns wäre doch aufgefallen, wenn er schon die ganze Zeit über hier gewesen wäre."

Niemand antwortete und ich schloss die Augen, und genoss die frierende Kälte, die meinen gesamten Körper erfüllte und unter normalen Umständen unangenehm und fast schon schmerzhaft gewesen wäre, aber jetzt fühlte sie sich wunderschön an.

„Wir sehen morgen weiter", schlug Seraya vor und drehte sich um, ehe sie wortlos in Richtung Haus zurück stapfte. Wir alle kehrten mit erschöpften, kalten Augen zurück in die Wärme und packten alle unsere Sachen, um sie in den Gästeraum zu tragen. Keiner von uns wollte länger in seinem Zimmer bleiben, wenn selbst eine verschlossene Tür keine Sicherheit bot.

Wie naiv von uns zu glauben, dass wir, wenn wir alle im selben Raum sind, sicher sind.

Als wir alle vor einigen Nächten ebenfalls gemeinsam im Gemeinschaftsraum übernachtet hatten, waren wir ausgelassen, fühlten uns geborgen, wie in den Händen eines lang bekannten Freundes. Doch das war, bevor eine Bombe im Haus explodiert war. Dass war, bevor wir im Keller eine Leiche gefunden hatten. Dass war bevor wir realisiert hatten, dass wir hier nirgendwo, in keinem einzigen Winkel dieses Hauses sicher waren. Dass wir überall und immer beobachtet wurden.

An diesem Abend lagen wir alle schweigend da, jeder auf einem Sofa und Noah auf dem Boden, weil es nur sieben davon gab.

Mein Blick war starr auf die Decke gerichtet, während ich müde den leisen Gesprächen lauschte. Der Kamin flackerte und warf Schatten an die Wände und die ganze Zeit über sah ich sein Gesicht vor mir. Sein wutverzerrtes Gesicht, seine hasserfüllten Worte, seine schlimmen Taten.

Schneewittchen, flüsterte er versöhnlich in meinem Kopf, doch drehte mich demonstrativ auf die Seite, kuschelte mich in meine Decke und schloss die Augen.

„Ich kann nicht", hauchte ich. „Ich kann all das nicht vergessen. Und ich kann dir auch nicht vergeben."

Meine Worte klangen beinahe schon bedauernd.

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