Epilog [Eve]

Es war der 29. April.

Ich mochte den Tag.

Der Himmel war blau und wurde von weißen Wolken geziert, die wie Pferde mit wehenden Mähnen aussahen. Die kühle Brise streichelte sanft über meine Haut, während ich die breite Straße überquerte.

Ich entdeckte kleine Kinder, die lachend in dem Sandkasten eines Gartens spielten und ältere Damen, die langsam über den Bürgersteig spazierten und mich freundlich grüßten.

Ich schaffte es matt zu lächeln, doch meine Augen waren müde, als sie über die Einfamilienhäuser mit den großen Gärten schweiften, in denen bunte Blumen wuchsen. Schöne, alte Bäume schmückten die Allee und Efeu schlängelte sich an den Hausfassaden entlang.

Meine Füße trugen mich bis zu einem Gartentor, wobei ein kleiner Junge mit einem Fußball fast in mich hinein rannte.

Seine großen Augen blickten mich entschuldigend an. „‘Tschuldigung“, murmelte er und ich wich kaum merklich zurück, stammelte nur etwas von „nichts passiert“, denn ich konnte diesen kleinen Jungen nicht anblicken, konnte dieses unschuldige Gesicht nicht ertragen. Er sah ein wenig aus wie Stevie.

Er stand immer noch vor dem Gartentor. „Bist du auch bei Noah eingeladen?“, fragte er und ich wagte es, ihn genauer zu mustern. Ich nickte nach einigen Sekunden des Schweigens.

„Bist du Noahs kleiner Bruder?“, fragte ich schließlich zögernd und der kleine Junge nickte breit lächelnd. „Ja. Noah wartet schon auf euch alle“, sagte er und zeigte mit seinen winzigen Händen auf das Gartentor, welches er versperrte.

Wie mechanisch schob ich mich an ihm vorbei, ehe ich jedoch innehielt und mich noch einmal zu ihm umdrehte. Er stand noch immer mitten auf dem Bürgersteig, mit seinem Fußball in der Hand.

„Ich wusste gar nicht, dass Noah einen kleinen Bruder hat. Wie heißt du denn?“, fragte ich.

„David“, erwiderte der Junge und ich lächelte leicht.

„Hallo, David. Ich bin Eve.“

„Ich weiß“, sagte der Junge. „Du hast die bösen Menschen getötet.“

Ich zuckte bei diesen Worten zusammen, in meine Augen schlich sich eine fürchterliche Angst, doch ich schaffte es, sie rasch zu verbannen. Schwach nickend drehte ich mich um und trat in den Vorgarten.

Meine Fingernägel bohrten sich in mein hellblaues Frühlingskleid, während ich die Stufen hoch eilte und nach kurzem Zögern die Türklingel drückte.

Es war das erste Mal, dass wir uns alle wiedersehen würden. Nach mehreren Monaten. Einzig und allein bei Polizeibefragungen und dem Gerichtstermin hatte ich die Anderen getroffen, doch wir hatten kaum Worte ausgetauscht.

Etwas in meinem Bauch schmerzte, als ich daran zurückdachte, wie ich dort auf dem Zeugenstuhl gesessen hatte.

„Evelyn Rowan. Sie haben während ihrer Gefangenschaft zwei Menschen erschossen. Ihre Tat war nicht rechtswidrig, da Sie in Notwehr gehandelt haben. Jedoch werden noch ein paar Zeugen befragt werden müssen, um einschätzen zu können, ob Ihre Notwehr in diesem Maße angebracht und notwendig war.“

Ich hatte nur matt genickt. Mörderin, hatte mein Gewissen mir zugeflüstert und als ich nach hinten geblickt hatte, um die Mienen meiner Eltern zu sehen, hatte ich ihre Enttäuschung, ihren Scham gesehen. Denn ihre Tochter hatte nun nicht nur ihren eigenen Bruder auf dem Gewissen, sondern zwei weitere Menschen.

Ich hatte sie nach dem Gerichtsprozess überall gesucht, doch sie schienen ihn bereits verlassen zu haben, und meine Anrufe nahmen sie auch nicht an. Mörderin, dachten sie vermutlich. Unsere Sohn ist tot und unsere Tochter ist eine Mörderin. Nun bleibt uns nichts mehr.

„Hallo, Eve!“, erklang eine Stimme und ich blinzelte mehrmals, ehe ich realisierte, dass Noah die Tür geöffnet hatte. Seine warmen, braunen Augen blickten mir entgegen und er schloss mich fest in die Arme.

Etwas steif erwiderte ich die Umarmung, atmete tief durch und zwang mich zu lächeln. „Es ist schön, dich zu sehen, Noah“, sagte ich leise. „Wie geht’s deiner Wunde?“

„Mir geht’s gut. Die im Krankenhaus haben die Kugel entfernt und auch wenn ich noch ein bisschen Schwierigkeiten habe, zu rennen, kann ich schon ganz normal und ohne Schmerzen gehen.“ Er winkte mich durch den breiten Korridor. „Komm, die Anderen sind alle schon da und warten auf der Terrasse.“

„Schön, dass es dir wieder besser geht“, sagte ich leise, auch wenn ich bezweifelte, dass Noah es noch hörte, denn er ging bereits in Richtung der Terrasse.

Rasch folgte ich ihm und musterte die Fotos, die überall hingen. Noah und sein kleiner Bruder lachend, Noah und sein Bruder verkleidet, Noah und sein Bruder gemeinsam mit den Eltern beim Kuchenessen. Ich blickte rasch weg, denn es stach so sehr in der Brust.

Mein Herz klopfte unglaublich schnell. Ich war nicht bereit, die Anderen zu treffen. Ich war nicht bereit, Cuinn wiederzusehen. Und doch wollte ich es.

„Leute, Eve ist da!“, rief Noah, als wir das Wohnzimmer durchquerten, das zur Terrasse führte. Seraya sprang aus ihrem Liegestuhl auf und beeilte sich, mich stürmisch zu umarmen.

„Es ist so gut, dich wiederzusehen, Eve“, murmelte sie in die Umarmung. „Du hast gar nicht auf meine Nachrichten geantwortet.“ Ich schluckte, doch ich wusste nicht, was ich antworten sollte, weshalb ich einfach schwieg. Natürlich. Das war schon immer so.

Ich sah mich um und entdeckte Paul an einem Tisch, auf dem Limonaden, Bierflaschen und Chips-packungen lagen. Er wich meinem Blick aus, was mir nur Recht war, aber dennoch lächelte ich ihn etwas distanziert an. Kai winkte mir von einer der Bänke aus zu, die auf den Garten blickten.

Und neben ihm saß Cuinn. Alles krampfte sich in mir zusammen, doch ich schaffte es trotzdem nicht, wegzublicken.

Er trug leichte Sommerklamotten, was ein seltsamer Anblick war, denn ich hatte sie alle hier noch nie in etwas anderem gesehen als in Winterjacken und warmen Pullovern.

Sein Blick ruhte auf mir, während er an seinem Glas nippte und ich entdeckte ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.

Ich schloss kurz die Augen, um meine Fassung wiederzuerlangen und näherte mich zögernd der Bank, auf der Cuinn und Kai saßen.

„Hi“, sagte ich schließlich, als ich vor ihnen stehen blieb. Cuinn legte seinen Kopf in den Nacken, um zu mir zu blicken. „Ich habe dir geschrieben“, sagte er. Seine Stimme war nicht zu deuten. Sie klang weder anklagend, noch verletzt. Einfach wie eine Feststellung.

„Ich weiß“, flüsterte ich und es tat weh, ihm in die Augen zu sehen. Ich tat es trotzdem. „Ich habe alle Nachrichten gelesen.“

Cuinn fragte nicht, wieso ich dann nicht geantwortet hatte, doch ich sah die vielen Fragen ganz klar in seinen Augen. Wieso hast du mir nicht geschrieben? Wieso bist du so blass? Habe ich dir etwas getan, dass du drei Monate kein Wort mit mir wechseln wolltest? Wieso hast du nicht wenigstens einmal angerufen? Wieso...

Stattdessen erhob er sich mit einem Lächeln. „Lass uns erst einmal, was zu essen und trinken für dich auftreiben. Deine Fahrt war wahrscheinlich lang.“

Ich nickte wie mechanisch und folgte ihm zum Tisch. Ich griff nach einer Cola. „Ich fahre übermorgen schon wieder zurück nach London“, sagte ich und versuchte gar nicht erst, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.

„Was hast du in den drei Monaten gemacht, Eve?“, fragte Cuinn ohne auf meine Worte einzugehen und als ich ihm rasch in die Augen blickte, wusste ich, dass er die Antwort bereits kannte. Ich schluckte.

„Ich bin in Selbstmitleid versunken“, erwiderte ich. „Ich war alleine. Ich habe Menschen vermieden und mein Leben gehasst“, meine Stimme verwandelte sich in ein heiseres Flüstern, „ich habe versucht diesen...diesen Ort zu vergessen, aber jedes Mal, wenn ich es fast geschafft habe, habe ich an Daisy gedacht. Und an diese Angst.“ Cuinn schwieg.

„Und ich weiß, was du jetzt sagen wirst. Ihr alle habt das Ganze auch durchleben müssen, ihr habt Daisy auch sterben sehen, habt auch die Todesangst gespürt und habt euch trotzdem nicht... monatelang isoliert wie ich.“ Ich schluckte die Tränen hinunter, doch Cuinn schüttelte den Kopf.

„Lass sie fließen, Eve. Schluck die Tränen nicht runter“, sagte er leise.

Ich atmete tief durch und nickte, ehe ich mit zittriger Stimme fortfuhr: „Und wenn du das denkst, dann hast du auch vollkommen Recht. Es bringt nichts, in Selbstmitleid zu versinken, es bringt Daisy nicht zurück und...und ich sollte einfach nach vorne blicken, wie ihr alle auch. Aber bei euch ist es ein bisschen anders. Ihr...ihr“, meine Stimme brach, doch ich räusperte mich rasch, „ihr habt niemanden getötet.“

Ich spürte nun die Tränen warm an meinen Wangen entlangfließen und es fühlte sich so seltsam an, an so einem schönen Tag, in einer so schönen Straße, auf einer so schönen Terrasse, auf der sich im Hintergrund Paul, Seraya, Noah und Kai lachend unterhielten, zu weinen.

In Cuinns Augen flackerte etwas auf. „Eve. Du hast zwei kranke, mörderische Menschen getötet – und damit sechs Menschen das Leben gerettet. Du verdienst“, er sah mich eindringlich an, „deinen Selbsthass nicht.“

Ich presste meine Kiefer fest aufeinander und lächelte müde. „Weißt du, meine Eltern sprechen nicht mehr mit mir. Ich beschäme sie. Sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„Aber wir alle sprechen noch mit dir“, sagte Cuinn leise. „Ich spreche noch mit dir. Du hast uns alle gerettet, verdammt! Deine Eltern haben keine Ahnung.“ Sein eindringlicher Blick bohrte sich bis in mein Herz. „Und, wenn sie deshalb nicht mehr mit dir sprechen wollen, dann verdienen sie sowieso keine einzige Sekunde mit dir.“

Mit leerem Blick lauschte ich Cuinns Worten. „Erzähl mir von der Zeit, in der ich nichts von dir gehört habe“, bat er mich mit glänzenden Augen.

Ich wollte nicht, ich schämte mich, doch ich wusste, dass es richtig war, denn es würde meine Seele erleichtern.

Mit zitternden Händen öffnete ich die Colaflasche und trank einen großen Schluck. „Ich habe die meiste Zeit in meinem Studentenzimmer verbracht. Ich konnte es noch bezahlen, weil ich gespart habe. Ich habe nicht gearbeitet, habe keine einzige Vorlesung besucht, habe in meinem Bett gelegen und ... nichts getan.“ Ich starrte abwesend in die Ferne. „Manchmal habe ich darüber nachgedacht, auf eine deiner Nachrichten zu antworten.“

„Ich bin dir nicht böse. Falls du das denkst“, sagte Cuinn und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Ich hätte einfach bei dir vorbeikommen müssen, um nachzuschauen, wie es dir geht.“

„Ich hätte dir aber vermutlich sowieso nicht geöffnet“, erwiderte ich.

„Das wäre auch gar nicht nötig gewesen, weil ich die Tür einfach aufgebrochen hätte. Im Rubinpalast hatten wir ja mehr als genug Übung darin“, meinte Cuinn und zuckte mit den Schultern.

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er nahm mir die Cola aus der Hand, um ebenfalls einen Schluck zu trinken.

„Hey, das ist…“, rief ich empört und versuchte ihm, die Flasche zu entreißen, doch er hielt sie über seinen Kopf, wo ich sie nicht erreichen konnte.

„Du kriegst sie zurück, wenn du lachst. Du solltest öfter lachen.“

„Hahaha“, sagte ich genervt. „Krieg ich jetzt BITTE die Flasche wieder?“

Auch, wenn Cuinn sichtlich unzufrieden war, reichte er mir meine Cola widerwillig. Sein Blick wurde wieder ernst und seine braunen Augen sahen mich forschend an.

„Aber im Ernst jetzt. Ich hätte zu dir fahren müssen. Ich meine, es war klar, dass es dir nach alldem nicht gut gehen würde. Und spätestens, als du niemandem geantwortet hast, hätte ich mir denken können, dass du…“ Ich entdeckte einen Hauch Zweifel und Unsicherheit in Cuinns Gesicht. „Aber ich dachte… naja- “, er räusperte sich nervös. „Du hast ja damals, als wir befreit wurden, etwas von einem Neuanfang gesagt. Und, als du nicht an meine Anrufe ran gegangen bist, dachte ich, dass du einen Neuanfang ohne uns alle, ohne mich, haben willst. Du weißt schon. Wir erinnern dich wahrscheinlich an diese schlimme Zeit. Ich dachte, dass du das alles… einfach hinter dir lassen willst.“

Seine Worte klangen so ehrlich, so verletzlich, dass sie wehtaten.

„Es...es tut mir Leid, dass du das gedacht hast. Ja, ich dachte irgendwie, dass es wehtun würde, euch alle zu sehen, dass es mich daran erinnern würde. Aber eigentlich war es viel schlimmer, als ich alleine war. Stille und Einsamkeit lassen viel Platz für böse Gedanken.“ Ich deutete in den Garten, in den blauen Himmel. „Dabei ist es hier draußen so viel schöner als in meinem Zimmer.“

Fast schon fasziniert betrachtete ich die Schmetterlinge, die über den Blumenbeeten umher flatterten. „Ich bin zum ersten Mal wieder rausgegangen, um etwas anderes zu tun, als einkaufen zu gehen.“ Ich lachte auf. „Ich habe auch zum ersten Mal etwas Anderes an als mein Pyjama.“

Langsam bildete sich auf Cuinns Lippen ein Lächeln und sein Blick schweifte über den blauen Stoff meines Frühlingskleides. „Das Kleid steht dir“, sagte er und auch, wenn es sich so seltsam anfühlte, liebte ich die Wärme, die sich daraufhin in meinem Körper ausbreitete.

„Danke“, sagte ich leise und musterte sein Gesicht. Er sah immer noch genauso aus. Seine braunen Augen waren noch immer klug und geheimnisvoll und seine Lippen lachten immer noch das selbe, schiefe Lächeln. Obwohl, nein… er sah ein wenig anders aus. Er sah friedlicher aus. Entspannter. Freier.

Ich atmete tief durch, die Luft war so unglaublich schön und obwohl meine Augen noch immer müde und glanzlos waren, genoss ich die Welt.

Zum Glück habe ich zu diesem Treffen zugesagt und mich nicht weiterhin in meinem Zimmer verkrochen...

„Cuinn. Erzähl du mir jetzt, wie du die ganze Zeit verbracht hast“, bat ich ihn, während wir uns von den Anderen entfernten, um ein wenig über den frisch gemähten Rasen des Gartens zu schlendern.

Cuinn antwortete zuerst nicht, da er beschäftigt war, Johannisbeeren von den Sträuchern am Gartenzaun zu pflücken und sie sich selber in den Mund zu werfen.

„Ich habe nachgedacht“, sagte er schließlich. „Also habe ich die Monate gar nicht so anders verbracht als du. Der einzige Unterschied ist, dass du dich isoliert hast, während ich mich mit Menschenmassen umgeben habe, um zu vergessen. Ich bin sehr viel unterwegs gewesen. Aber im Endeffekt ist das hier“, er deutete auf den Garten, auf die Anderen, die sich am Tisch unterhielten, in Richtung Himmel, „doch das Beste. Eine kleine Gruppe. Es sind weder zu viele Menschen, noch zu wenige. Man fühlt sich weder alleine noch eingeengt.“

Nickend begann auch ich Johannisbeeren zu pflücken, um sie aus zwei Metern Entfernung in Cuinns Mund zu werfen, wobei ich kläglich scheiterte.

Ich versuchte genervt zu schauen, doch Cuinns Lachen steckte mich letztendlich doch an. Kurz darauf hielten wir uns die Bäuche vor lauter Lachen, was nicht besser wurde, als Cuinn anmerkte, dass ich beim Kichern aussah wie ein Tintenfisch.

Wie konnte ich drei Monate ohne… so etwas aushalten? Ohne Lachen und im Garten Beeren essen und Cola Trinken und Witze machen und ohne...Cuinn?

„Evelyn, hör auf zu lachen, sonst überlege ich mir das Angebot noch einmal“, sagte Cuinn streng und zwang sich selber ernst dazustehen, doch seine zuckenden Mundwinkel verrieten ihn.

„Was...was denn für ein Angebot?“, fragte ich japsend und verschluckte mich währenddessen an meinem eigenen Lachen. Immer noch leise vor mich hin kichernd, trank ich die Cola in einem Schluck leer, während Cuinn sich bemühte, nicht loszuprusten.

„Erinnerst du dich noch daran, wie wir einmal in der Küche vom Rubinpalast darüber geredet haben, wohin wir schon gereist sind?“, fragte Cuinn und ich sah ihn gespielt beleidigt an. „Ja. Ich erinnere mich an das Gespräch. Du hast dich lustig über mich gemacht, weil ich nicht so ein abgehobener Schnösel wie du bin, der jeden Monat in ein anderes Land fliegt und von seinem Unternehmen kostenlose Erste-Klasse-Reisen in den Arsch gesteckt bekommt.“

„Ja, das Gespräch meinte ich“, sagte Cuinn mit einem belustigten Lächeln. „Jedenfalls habe ich eine Reise nach Norwegen. Im September. Natürlich geschäftlich. Aber ich werde mir ein paar Tage danach Urlaub nehmen, damit ich ein wenig in Skandinavien herumreisen kann.“ Er lächelte mich breit an. „Und du wirst mich begleiten – vorausgesetzt du willst natürlich.“

Ich war sprachlos. „Ähm...was?“

Ohne auf meinen Unglauben einzugehen, nutzte Cuinn den Moment aus, um sich meine Colaflasche zu schnappen und seelenruhig den letzten Schluck zu trinken. „Und rate mal, was wir uns dort anschauen werden.“

Meine Lippen schafften es nicht mehr, Worte zu bilden. „Ich weiß nicht, ich… ähm… ich kenne nicht so viele Sehenswürdigkeiten“, stammelte ich vor mich hin, woraufhin Cuinn spöttisch lächelte.

„Du bist doch die Physikerin von uns beiden. Was sieht man ab September auf der Nordhalbkugel, besonders in Ländern wie Norwegen und Schweden?“

Ich riss die Augen erfreut auf. „Die Polarlichter!“, flüsterte ich und befürchtete für einen Moment in Tränen auszubrechen. Wie sensibel ich geworden bin…

Cuinn nickte. „Jap. Die Polarlichter. Du hattest mir ja in unserem Gespräch erzählt, dass du sie bei deiner letzten Norwegenreise nicht gesehen hast.“

Meine Kehle wurde ganz trocken. „Danke. Cuinn“, sagte ich schließlich, als ich nicht mehr wusste, was ich sonst sagen sollte, denn ich hatte mich darauf gefasst gemacht, dass er bereits abgeschlossen hatte. Dass er das Kapitel Rubinpalast beendet hatte und dieses Treffen hier bei Noah Zuhause ein Abschied war.

„Dieses Angebot hier soll ein Neuanfang sein“, sagte Cuinn, ganz leise und ernst, während er weiterhin Johannisbeeren pflückte, als hätte er Angst, ich würde mich jetzt verabschieden und mich zuerst selten und danach gar nicht mehr bei ihm und den Anderen melden.

„Ein Neuanfang“, wiederholte ich gedankenverloren dieses Wort, das so vieles bedeuten konnte.

Langsam nickte ich und ein kleines Lächeln erschien auf meinen Lippen, während ich mich zu Cuinn beugte und die Arme um ihn legte. Überrascht blickte er mich an.

„Keine Angst, ich küsse dich schon nicht“, versicherte ich ihm belustigt, als ich bemerkte, wie perplex er dastand. Ich umarmte ihn, so warm und fest, wie ich es schon lange bei niemandem mehr getan hatte. Meine Lippen näherten sich seinem Ohr.

„Es tut mir Leid“, flüsterte ich und wusste selber nicht einmal, wofür genau ich mich entschuldigte. Ich spürte, wie Cuinn nun die Umarmung erwiderte und seine Hände über meine Schulter streiften. „Ist schon in Ordnung, Evelyn.“

„Nenn mich nicht Evelyn.“

„Wieso nicht?“, fragte er lachend.

„Weil ich so immer von meinen Lehrern und Eltern genannt wurde.“

„Ach, komm schon, ist doch ein schöner Name.“

„Idiot“, murmelte ich lächelnd.

„Ein schöner Idiot“, fügte Cuinn hinzu.

„Ein schöner, selbstverliebter Idiot“, meinte ich, um einen Kompromiss zu finden, mit dem wir beide zufrieden waren.

„Cuinn! Eve!“, rief Seraya von den Tischen aus, ehe Cuinn etwas einwenden konnte und wir lösten uns langsam aus der Umarmung. Seraya grinste mich breit an und deutete auf den Tisch. „Die Pizza ist da! Ihr habt später noch genug Zeit zum kuscheln.“

„Wir kuscheln nicht!“, rief ich empört. Cuinn lachte leise und reichte mir eine Hand. Ehe wir zu unseren Pizzen gingen, sah er mich mit seinem funkelnden Blick an.

„Ich bin froh, dass du zurück bist, Eve“, sagte er und ich lächelte, während ich seine Hand ergriff.

Ich sagte nichts. Dafür küsste ich Cuinn ganz federleicht auf den Mundwinkel und schmunzelte über seine weit aufgerissenen, überraschten Augen, die kurz darauf wieder selbstbewusst leuchteten.

„Also ein Neuanfang… aber nicht ganz von vorne, oder, Eve?“, fragte er gespielt unschuldig.

Ich verkniff mir mein Augenrollen. „Ein Neunfang… ab dem Kuss“, sagte ich das, was Cuinn hören wollte, damit er endlich Ruhe gab. Und vielleicht auch ein kleines bisschen weil ich es selber wollte.

Meine Vergangenheit war eine komplizierte Angelegenheit.

Sie war schmerzhaft, hatte mich oft verraten und verletzt. Viele meiner Erinnerungen waren dunkle, tränenreiche Nächte oder leere, ausdruckslose Augenhöhlen.

In den letzten Wochen und Monaten war ich oft in meinem Bett gelegen und hatte mir gewünscht, dass mein Gedächtnis gelöscht und ausradiert werden würde, denn ich wollte nicht an die verächtlichen Gesichter meiner Eltern, an Daisys letztes Flüstern, an das Gefühl der Waffe in meiner Hand, an den Gerichtssaal, an diese grausame Zeit im Rubinpalast denken.

Ich wollte das alles vergessen. Meine Vergangenheit hatte mir zu viele Wunden zugefügt.

Doch als ich am Tisch neben Cuinn saß und seine lächelnden Lippen erblickte, als ich die grinsenden Gesichter der Anderen musterte und Kais vielsagendes Augenzwinkern bemerkte, realisierte ich mit roten Wangen, dass auch sie Teil dieser Vergangenheit waren. Dass ich mein Gedächtnis niemals löschen wollen würde, denn auch sie würden damit verloren gehen.

Und was war ein Mensch ohne seine Vergangenheit? Was war er schon ohne seine Wunden? Ich wollte mich lieber an Schmerz erinnern, als an nichts als blanke Leere.

Ich lächelte kaum merklich, denn ich glaubte, nun endlich verstanden zu haben.

Es war nicht der Schmerz, der das Leben kaputtmachte. Es war die Einsamkeit, wenn man seine Tränen alleine vergoss, ohne jemanden zu haben, der einem dabei half, sie wieder fortzuwischen und weiterzugehen.

Ja, ich wusste nun, was das Leben ausmachte:

Lieben. Und Leiden.

Aber niemals alleine.

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