3. Kapitel
Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Eigentlich so wie jede Nacht, seit ich gerettet wurde.
Träume von Noel und der Lawine geisterten mir im Kopf herum, ließen mich schweißgebadet aufschrecken und nach einer Sekunde wieder in die Kissen zurückfallen.
„Wir sehen uns, Kleine", Noels verzerrte Stimme hallte in meinem Ohr. „Wann denn?", schrie ich. Doch Noel lachte nur. Ein schauriges Lachen, es wurde lauter und wieder leiser. Dann wurde alles weiß.
„Juna! Steh endlich auf!"
Jessys wütende Stimme riss mich aus meinem Schlaf.
„Nur noch fünf Minuten", murmelte ich und drehte mich auf die andere Seite.
„Vergiss es! Komm jetzt, wir müssen zur Uni."
Ich hörte eine Tür knallen. War das meine gewesen?
„Drei Minuten?", nuschelte ich fragend und vergrub mich tiefer in meine Kissen.
Als Antwort wurde mir meine Bettdecke weggerissen. „Hey!", empörte ich mich und schlug die Augen auf. Sofort fing ich an vor Kälte zu zittern. Jessy stand triumphierend vor meinem Bett, die Decke in den Händen und genoss es anscheinend, mich so unsanft in den Tag gerissen zu haben. Sie war bereits vollständig angezogen und geschminkt, die Haare hatte sie zu einem halb offenen Dutt zusammengemacht und sah nun halb genervt, halb belustigt auf mich hinab.
„Faulpelz", sagte sie und grinste.
„Nervensäge", gab ich zurück.
„Morgenmuffel!"
„Arschgeige!"
Jessy riss die Augen auf. „Pah!", machte sie und warf theatralisch die Decke auf den Boden. „So nicht, mein Fräulein. So nicht!" Ich lachte und beobachtete meine Freundin, wie sie gespielt beleidigt mein Zimmer verließ.
Munter und ein wenig wacher krabbelte ich aus dem Bett und zog ein paar Klamotten aus meinem Schrank heraus. Ich wusste, dass Jessy weder gekränkt noch schlecht drauf war. Dafür kannten wir zwei uns mit Ironie und Sarkasmus zu gut aus.
Im Gegensatz zu Hannah, die uns nur allzu oft bei solchen Gesprächen ermahnte, uns doch bitte nicht immer zu streiten.
Beim Gedanken an unsere etwas andere Mitbewohnerin schüttelte ich den Kopf und tapste barfuß ins Badezimmer.
Aus dem großen Spiegel über dem Waschbecken blickte mich ein zerzaustes Wesen heraus an. Meine dunkelbraunen Haare standen wirr vom Kopf ab, die Mascara von gestern klebte noch unter den Augen und zu allem Überfluss prangte noch ein neuer kleiner Pickel auf der Stirn.
Ich seufzte. Eine Dusche täte jetzt gut, doch da ich eh schon spät dran war, musste eine Katzenwäsche reichen.
Nachdem ich mich erstmal abgeschminkt und die neue Kontaktlinsen nach etlichen Versuchen eingesetzt hatte, musste ich erneut eine Schicht Make Up auf mein Gesicht klatschen, um so den ungewollten Neuankömmling auf der Stirn zu überdecken.
Von außen klopfte es ungeduldig an die Badezimmertür. „Dein erster Tag im neuen Semester und wir kommen gleich zu spät", nörgelte Jessy.
„Dann weiß der Prof zumindest, dass ich mich über die freie Zeit hin nicht geändert habe", gab ich zurück und zog mir einen dicken, dunkelgrünen Pullover über den Kopf.
Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel öffnete ich die Tür. Eine etwas gestresste Jessy in schwarzen Stiefeln und grauer Jacke erwartete mich bereits und zeigte ungeduldig auf ihre Armbanduhr. „Hab's gleich!"
In Windeseile warf ich mir den Mantel über, schnappte mir meine Tasche und hastete Jessy hinterher, die Treppen hinab.
Im Eiltempo ging es zur nächsten S-Bahn. Im Sommer fuhren wir meistens mit dem Fahrrad zur Uni, doch es war Januar und es schneite leicht. Außerdem hatte ich keine Lust, bei dieser Kälte Rad zu fahren.
Nach etwa einer Viertelstunde Fahrzeit in dem stickigen Waggon kamen wir an der Ludwig-Maximilian-Universität an und sprinteten durch die leeren Gänge.
An Zimmernummer 3.05 kamen wir schlitternd zum Stehen und atmeten erst einige Male tief durch, um nicht wie zwei Halbtote den Saal betreten zu müssen. Jessy grinste mich an, ihr Kopf war hochrot und sie pustete sich eine lose Strähne aus dem Gesicht.
Ich schnaufte auch stark, hob meinen Arm, klopfte leise und ohne eine Antwort abzuwarten, schlüpften wir zwei in den Vorlesungsraum.
Herr Klinger schreckte weder aus seinem Vortrag über mittelalterliche Musikgeschichte, noch tat er irgendetwas, dass vermuten ließ, dass er uns bemerkt hatte. Doch ich wusste, dass uns seine grauen Adleraugen unter den buschigen Augenbrauen achtsam verfolgten.
Ich rutschte auf den freien Platz neben Jessy, packte meinen Block aus und stützte meinen Kopf auf meine Hände.
„Im Mittelpunkt der Renaissancemusik steht die mehrstimmige Vokalmusik." Herr Klinger machte eine kurze Pause. „In der Kirche begann um diese Zeit, 1450 in Etwa, die Orgel Fuß zu fassen."
Nach diesen wenigen Sätzen schwand bereits meine Aufmerksamkeit. Musikgeschichte war nicht gerade mein Lieblingsfach, vor allem nicht, weil es nur aus Theorie bestand und somit sterbenslangweilig war.
Ich ließ meinen Blick schweifen. Auf den zum Teil vollgekritzelten Tischen lehnten noch halb verschlafene Köpfe der Studenten. Nichts ungewöhnliches. Schließlich blieb ich bei einem blonden Schopf eines Typen drei Reihen vor mir hängen. Blonde Haare.
Es war die gleiche Haarfarbe. Exakt die selbe. Meine Augen weiteten sich.
Noel?
Kurz hatte ich die Einbildung, er würde sich umdrehen und seine grüne Augen würden mir entgegenfunkeln. Noel!
Ich musste zu ihm! Er saß nur wenige Meter von mir entfernt! Er war es, definitiv!
Ich beugte mich sehnsüchtig ein wenig nach vorn. Sollte ich ein Zettelchen nach ihm werfen?
Gerade, als ich beschlossen hatte, dass das eine super Idee war, raunte mir Jessy flüsternd ins Ohr: „Setz deine Augen mal wieder ein. Seit wann interessiert dich denn Paul so sehr?"
Die Seifenblase platzte.
Paul?!
Genau in diesem Augenblick drehte sich Besagter um und schaute auf die Uhr hinter mir an der Wand. Paul. Nicht Noel. Blaue Augen, Brille und kein Bart. Die Haare waren viel zu kurz, sein Körper viel zu schmal. Das alles hatte ich gar nicht bemerkt.
Meine Kinnlade fiel herunter und ich machte ein enttäuschtes Gesicht.
Jessy neben mir kicherte. Sie wusste nichts von meinen Gedanken. Sie wusste nichts von Noel.
„Der interessiert mich nicht die Bohne!", zischte ich ein wenig zu beleidigt zurück und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Ich stellte mir sein Gesicht vor. Rief mir sein kleines Grübchen in Erinnerung. Dieses Grübchen und dieses Lächeln.
Der Drei-Tage-Bart, der eigentlich nach dieser Wanderung eher ein Zehn-Tage-Bart war.
Seine weiche Haut. Das große Schultertattoo. Diese Muskeln, an Armen und Oberkörper. Die gefühlvollen Hände, die meinen Körper streichelten. Seine unfassbar tollen Lippen auf meinen. „Besondere Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen."
Ich lächelte gequält und blinzelte einige Male, um meinen Tränen Herr zu werden.
Ob er auch gerade an mich dachte?
„Frau Prinz."
„Wa..? Au!", ich schreckte hoch und rieb mir die schmerzende Stelle, an der mich Jessys Ellenbogen gerammt hatte.
„Es freut mich zwar ungemein, Sie in diesem Semester mit einiger Verspätung in meinem Kurs wieder begrüßen zu dürfen, doch ich würde mich noch mehr freuen, wenn Sie meinem Vortrag etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würden," bellte Klinger und seine Stimme füllte mühelos den ganzen Saal.
Einige Studenten lachten.
Warum ich? Die Hälfte der hier Anwesenden war mit etwas anderem als Zuhören beschäftigt.
Ich sagte jedoch nichts und nickte folgsam unter Klingers strengem Blick.
„Gut, immerhin ist das nicht nur Ihr letztes Semester, sondern auch meines. Dann ziehe ich mich in die wohlverdiente Pensionierung zurück und sehe in meinem gemütlichen Sessel zu, wie Sie alle meine Rente erarbeiten."
Sollte das etwa witzig sein? Lehrer sollten nicht mal versuchen, etwas lustiges von sich zugeben. Es scheiterte kläglich. Immer.
Die restlichen 50 Minuten versuchte ich wenigstens aufzupassen. Als es zur Pause klingelte, verließen Jessy und ich den Raum und wollten uns gerade am Automaten ein Snickers kaufen, doch wir kamen nicht weit.
Gefühlt von allen Seiten stürmten Studenten, mit denen ich locker befreundet war, auf mich zu. „Ich hab's in der Zeitung gelesen!", rief Carina und riss die Augen auf. „Du warst doch bei dieser Lawine dabei!" Lena hielt die Hände vor den weit geöffneten Mund: „Wahnsinn! Du Arme. Das ist so schrecklich. Erzähl!"
Carina, Lena und Isabell starrten mich abwartend an.
„Ähm. Ja, ich war dabei", stammelte ich überfordert und fühlte mich plötzlich wie auf diesem Landeplatz mit dem aufdringlichen Reporter. Scheinwerfer strahlten ihr grelles Licht auf mich und ich konnte mich nirgends verstecken.
Mir fiel es immer noch sehr schwer, über das Geschehene zu sprechen.
„Wahnsinn", wiederholte Lena beinahe im ehrfürchtigen Ton. „Weißt du, wer gestorben ist? Weißt du es?", plapperte sie weiter.
„Nein, nur eine. Magdalena", wollte ich schon betrübt murmeln, doch ich wurde unterbrochen.
„Meine Tante arbeitet als Journalistin. Es sollen drei Leute tot sein, diese braunhaarige Dicke, eine Blonde und ihr Mann. Die hat man alle gefunden. Krass oder? Ich habe sogar Bilder gesehen! Weiß wie der Schnee waren sie, so eklig, das werde ich nie vergessen! Der Gruppenführer und der Partner von der Erzieherin sind immer noch verschwunden! Ich darf das alles eigentlich gar nicht wissen, aber ich habe meiner Tante gesagt, dass ich dich kenne und dann hat sie es mir erzählt! Irre, was?"
Ich hörte gar nicht mehr zu. Louisa und Til. Beide sollen tot sein. Mit Magdalena.
Von Phillip und John fehlte weiterhin anscheinend jede Spur. Am liebsten würde ich Lena für ihr Geplapper eine Scheuern.
Stattdessen stand ich wie ein Häufchen Elend auf dem Gang und wünschte mich überall hin, Hauptsache weg von hier.
In meinen Augen schwammen Tränen.
Louisa. Til.
Magdalena.
„Ja, wahnsinnig irre, Lena", gab Jessy trocken zurück, packte mich am Oberarm und zog mich mit sich. Ich stolperte wie in Trance hinterher.
„Dämliche Ziegen", schimpfte Jessy den ganzen Weg über vor sich hin.
Ich schluckte noch einige Tränen und war wieder einmal so froh, Jessy als beste Freundin zu haben.
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