2. Kapitel

Ich riss meine Augen auf und bevor ich mich aufrappeln konnte, stand meine beste Freundin auch schon im Zimmer.
Tränen liefen ihr bereits übers Gesicht und auch meine Kehle wurde eng. Ich schluckte und versuchte die aufkommenden Tränen fortzublinzeln.

Jessy stürzte auf mich zu und nichts war mehr wichtig. Es war egal, dass sie bei dieser Kälte nur eine dünne Jeansjacke an hatte. Es war nicht wichtig, dass sie ohne mein Wissen ihre wunderschönen hüftlangen Haare auf Schulterhöhe gekürzt hatte. Es war mir so was von egal, dass sie mit ihren dreckigen Straßenschuhen nasse Abdrücke auf meinem Zimmerboden hinterließ.
Unsere Körper prallten aufeinander und ich schlang meine Arme um sie. Gierig atmete ich den Duft ihres Parfums ein.

„Ich hatte solche Angst um dich!", schniefte sie in meine Haare hinein. „Eine Lawine! Herrgott, ich hätte bei dir sein müssen. Ich hätte dich davon abhalten müssen! Scheiße, ich habe mir solche Vorwürfe gemacht!"

Der Damm war gebrochen und nun stürzten auch mir Tränen über die Wangen. „Ich hab dich vermisst", wisperte ich und wurde von Jessys Umarmung beinahe zerquetscht. Mein Oberteil wurde langsam aber sicher von unseren Tränen durchnässt.
„Ich habe es im Fernsehen gesehen. Der Rettungstrupp, die vielen Helfer. Mein Gott, Juna, es sind Leute dabei gestorben! Was wenn du auch darunter gewesen wärst?" Ihr Körper bebte vom vielen Schluchzen.

„Alles gut", flüsterte ich und drückte sie fest an mich, „es ist vorbei, ich bin ja wieder da."
Meine Schultern schmerzten bereits, da sich Jessys Fingernägel tief in meine Haut bohrten. Wir lagen uns in den Armen und wiegten uns hin und her.
Es dauerte eine Weile, bis wir zwei uns wieder soweit beruhigt hatten, dass wir uns voneinander lösen konnten, ohne erneut in Heulkrämpfe auszubrechen.

Das war sie. Meine Jessy.

Wir beide hatten uns auf mein Bett gesetzt und atmeten tief durch. Ihre Mascara war verlaufen und verlieh ihr somit das Aussehen eines niedlichen Pandabären. Oder wohl eher das eines Zombies auf Koks. Ich wusste, dass ich kaum besser aussehen konnte.
In Jessys blaugrauen Augen glitzerte noch die letzte Träne, doch sie grinste mich schon zaghaft an. Vermutlich hatte sie keine Ahnung, ob sie in dieser Situation überhaupt lächeln durfte. Um sie zu bestärken, grinste ich schief zurück.
„Verrückt", murmelte sie. „Du warst nur eine Woche weg, aber mit dem Gedanken im Kopf, dich nie wiederzusehen, kam es mir vor wie ein ganzes Leben."
Ich nickte verständnisvoll.

„Apropos eine Woche", warf ich ein und zupfte ein wenig an ihren weißblond gefärbten Haaren herum, „du lässt dir die Mähne um mindestens vierzig Zentimeter abschneiden und sagst mir davor nichts? Immerhin bin ich kein Jahr im Ausland gewesen, sondern nur eine Woche in den Bergen!"
Ich lachte, doch innerlich kränkte es mich sogar. Es ärgerte mich, dass ich mir wegen so etwas Unwichtigem wie Haare Gedanken machte und doch hätte ich erwartet, dass sie diesen, für eine Frau emotionalen Schritt mit mir teilen würde.
Immerhin war sie nicht nur meine, sondern ich auch ihre beste Freundin.

„Sorry, Süße", meinte Jessy ein klein wenig beschämt und spielte nun selbst an ihren kurzen Haaren herum, „aber als ich vorgestern beim Frisör saß und diese gesprächige Tante mir wie immer die Spitzen geschnitten hatte... überkam mich plötzlich so ein innerer Drang. Und da habe ich sie einfach ein wenig weiterschneiden lassen." Ihre Augen strahlten.
Ein wenig? Ich lachte auf.

„Es kam einfach so über mich. Weißt du wie ich meine?", fragte Jessy. „Nein", prustete ich los, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich von meinen Haaren zu trennen. Der Gesichtsausdruck meiner Freundin verfinsterte sich.
„Nein, so war das nicht gemeint! Ich würde es bei mir einfach nicht vorstellen können, aber bei dir schaut es klasse aus! Die Frisur steht dir super!", besänftigte ich Jessy, denn es war die reine Wahrheit.
Ich fand sie jetzt sogar noch hübscher als zuvor.

Meine Freundin konnte schon wieder lächeln. Kurz war es still.
„Juna!", rief sie plötzlich, „deine Brille!" „Was ist damit?", fragte ich scheinheilig. „Sie ist weg! Ich hab dich noch nicht oft ohne gesehen. Aber steht dir, sieht gut aus!" Jessy begutachtete mich mit einem prüfenden Blick und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.
„Danke", ein Lächeln huschte über meine Lippen, „ich trage jetzt Kontaktlinsen. Die Brille hat die Alpenüberquerung nicht überlebt."

Ich hatte mich dazu entschlossen, keine neue Sehhilfe zu kaufen. Umso mehr freute ich mich, dass es Jessy gefiel.

„Kommt ihr zum Essen?", unterbrach uns Hannahs Bitte. Die Wände unserer Wohnung waren so dünn, dass man sie auch getrost durch einen Vorhang ersetzen könnte.
„Auf, die Hausfrau ruft", grinste Jessy und wir beide verließen mein Zimmer.
Im Gang streifte sie sich noch die Schuhe ab und ich bückte mich, um eine Ketchupflasche aufzuheben. Fragend sah ich meine Freundin an, die daraufhin kicherte. „Ich sollte noch Ketchup besorgen, doch als ich wieder hier war, habe mich so gefreut, dass du zurück bist, da hat die Flasche keine Chance mehr gehabt."
„Und deshalb hast du sie gleich ins nächste Eck gepfeffert", lachte ich und wir liefen gackernd in die Küche.

Von Hannah wurden wir sogleich mit einem: „Ihr müsst den Tisch noch decken" begrüßt. Als alles soweit fertig war, verdrehte Jessy genervt die Augen, als Hannah unser gedecktes Besteck noch einmal gerade rückte. Ich sagte nichts dazu, da ich es nicht an meinem ersten Abend hier wieder zum Streit zwischen uns aufkommen lassen wollte.

Endlich saßen wir alle und genossen unser Abendessen. Es gab für jeden ein Steak und dazu Bratkartoffeln.
Als ich eine Kartoffel auf meine Gabel spießte, wanderten meine Gedanken wieder einmal zu Noel. Er würde mich um diese Mahlzeit mächtig beneiden. Ich erinnerte mich, wie er sich nach einem Steak gesehnt hatte, als wir beide hungerten. Ach Noel, wo bist du nur?

Traurig und wütend zugleich stocherte ich in meinem Essen herum.
„Hör auf das Fleisch zu drangsalieren", Hannah sah mich streng über den Tisch hinweg an. Verärgert legte ich mein Messer beiseite. „Ihr seht verheult aus. Alle beide. Ist was passiert?", bemerkte sie dann und blickte uns nacheinander mit großen Augen an.
Jessy und ich warfen uns verstohlen genervte Blicke zu. An manchen Tagen konnte ich Hannah besser ertragen, an manchen schlechter. Heute war anscheinend einer der schlechten Tage.

„Nein, alles gut", murmelte ich. Diesen Satz hatte ich in den letzten drei Tagen gefühlte hundertmal gesagt.
Juna, alles in Ordnung? Willst du mit mir darüber reden? Hast du Albträume? Soll ich dich zu einem Psychologen begleiten?
Mutters Stimme hallte in meinen Ohren.

„Du bist diese Brille ja endlich losgeworden!", Hannah betrachtete mich kurz wie eine neue Attraktion, „finde ich gut, die hat dir eh nicht gestanden."
Mein Augenlid zuckte.
„Na dann ist ja jetzt alles prima", knirschte ich und sah Jessy hilfesuchend an.
Sie verstand sofort.

„Gehst du dann morgen schon mit mir in die Uni oder bleibst du noch ein paar Tage daheim?", wechselte meine Freundin sofort das Thema. Dankbar nahm ich es an. „Nein, ich komme mit. Ich habe schon zu viel verpasst."
„Ich gehe mit dir die Skripte der letzten drei Tage durch und erkläre dir den Stoff. So viel war es nicht", Jessy zwinkerte mir zu und ich war wieder einmal so froh, wie sie Musikwissenschaften zu studieren und so fast die selben Kurse wie sie belegt zu haben.

Den Rest des sowieso schon eher unglücklich verlaufenden Abendessens verbrachten wir schweigend. Danach verabschiedete ich mich von den beiden und blieb den restlichen Abend in meinem Zimmer.

In meinem Schlafanzug, bestehend aus einer kurzen Short und einem Shirt, dass mir eigentlich viel zu groß war und an mir wie ein Sack herunterhing, schlüpfte ich unter meine Bettdecke.
Einige Zeit hielt ich mein Handy in der Hand und starrte auf den kleinen Instagrambutton, der sich rechts oben auf dem Display befand. Mein Daumen schwebte circa einen Zentimeter darüber.

Ich war seit über einer Woche nicht mehr auf meiner Seite gewesen. Hatte seitdem weder etwas gepostet noch auf einen Kommentar geantwortet.

Nach weiteren drei Minuten fasste ich mir endlich ein Herz und drückte leicht darauf. Die App öffnete sich sofort.

187 Benachrichtigungen

Ich seufzte und fing an, die ersten Nachrichten zu lesen.

1. Januar - Viel Spaß in den Bergen!
2. Januar - Poste bitte etwas, wir           vermissen dich!
3. Januar - Du hast schon zwei Tage nichts mehr von dir hören lassen.
4. Januar - He, schreib mal oder ich entfolge dir!
5. Januar - Hallo?
6. Januar - Bitch.

Nein, dass musste ich mir wirklich nicht antun.
Ohne auf die anderen Kommentare zu achten, scrollte ich auf der Startseite ein wenig nach unten. Plötzlich stockte ich. Mein eigenes Gesicht grinste mich aus dem Smartphone heraus an. Ich hatte meine dunkelgrüne Mütze auf, die mit dem beigen Bommel. Die, die jetzt irgendwo unter Eis und Schnee begraben lag. Ein Schal war um meinen Hals gewickelt, im Hintergrund war eine Tür mit einem WC-Schild aus Messing zu sehen.

Ich wusste, welches Video das war.

Mein Herz pochte laut, die Hände wurden schwitzig. Meine Atmung beschleunigte sich.
Sollte ich?

Bevor ich mich anders entscheiden konnte, startete ich das Video mit zitternden Fingern.

„Hallöchen meine Lieben!"

Ohne dass ich es bemerkte, begannen Tränen über mein Gesicht zu laufen.
Ich sah so glücklich aus. So unbeschwert fröhlich. Ich war voller Freude und ohne mit der Wimper zu zucken auf diese Tour gegangen. Mein damaliges Ich wusste nicht, was alles auf mich zukommen würde.

Ich schluckte und schluchzte gequält.

Mein gefilmtes Ich redete munter weiter:
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wie ihr seht, bin ich schon komplett mit meiner Wintermontur ausgestattet.
Ich weiß nicht, ob ich in den Bergen etwas posten kann. Wenn nicht, bekommt ihr die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten und Bildern natürlich in einer Woche nachgeliefert."

Nein, bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch etwas posten werde.
Meine Hände verkrampften sich und ich umklammerte das Smartphone noch ein wenig fester.

Für eine Sekunde sagte die Film-Juna nichts.
„Das wird der Wahnsinn!", hatte ich dann noch gequiekt und grinste breiter als die Grinsekatze von Alice im Wunderland.
Das kleine Glitzersteinchen auf dem Zahn funkelte mit meinen dunklen Augen, bei denen man nur schwer von Pupille und Iris unterscheiden konnte, um die Wette.

Im Hintergrund hörte ich Phillips Stimme, die mich zur Eile angetrieben hatte.
Oh, Phillip!
Ich schlug meine Hand vor den Mund und schluchzte bitterlich. Wir hätten umdrehen sollen. Ich hätte alle davon abhalten sollen. Warum haben wir diese Wanderung nur gemacht?

Ich bekam nur noch mit, wie Film-Juna: „Tschüss, machts gut!" rief und ein Küsschen Richtung Kamera schickte.

Dann wurde der Bildschirm schwarz, bevor Instagram das Video erneut zeigen wollte. Ich warf das Handy ans Ende des Bettes und vergrub mich heulend unter die Kissen.

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