1. Kapitel

Mit klopfendem Herzen stieg ich die Treppe in den dritten Stock hinauf. Sonst beklagte ich mich immer, dass es hier keinen Aufzug gab, doch heute war ich sogar froh darüber.
So hatte ich mehr Zeit, mich vorzubereiten.

Worauf eigentlich? Ich wusste selbst nicht, warum ich so nervös vor meiner eigenen Wohnung war. Beziehungsweise vor der gemieteten Wohnung meiner zwei WG-Mitbewohnerinnen und mir.
Ich würde das erste mal seit dem Vorfall, wie ich es nur noch in Gedanken nannte, wieder in den eigenen vier Wänden wohnen.
Die ersten drei Tage nach der Lawine hatte ich im Haus meiner Eltern geschlafen. Doch mir wurde die übermäßige Fürsorge meiner Mutter und das Quengeln meines Bruders schnell zu viel.
Noch ein Grund, abgesehen von dem Studium, weshalb ich damals vom Land hier her nach München gezogen war.

Ich ächzte mit meinem viel zu schweren pinken Trolli die letzten Stufen hinauf. Zum Glück ging es meinem rechten Fuß, der nur leicht geprellt gewesen war, wieder besser.
Ich trat auf den kleinen Riss in der steinernen Treppe. Der war vor zwei Jahren auch schon dort gewesen.
An den Wänden bröckelte leicht der Putz ab und die kaputte Deckenlampe könnte auch wieder einmal ausgetauscht werden. Aber da es hier ein großer Wohnblock war, fühlte sich niemand wirklich zuständig für den langsamen Verfall des Hauses. Anscheinend kümmerte es nicht einmal Herrn Höfer, den Hausmeister.

Letzte Stufe. Geschafft.

Laut schnaufend und mit weichen Knien stand ich vor der schlichten Eingangstür mit dem leicht rostigen Türknauf. Mein Blick huschte zu dem kleinen Schild, das Hannah vor geraumer Zeit über der Klingel angebracht hatte.

Hier Leben, Lieben und Streiten:
Jessica Sanders,
Hannah Ackermann &
Juna Prinz

Der Spruch war so normal, so spießig und alltäglich, dass er eigentlich super zu Hannah passte. Zumindest hundertmal besser als zu Jessy und mir.
Und doch freute ich mich diesmal ein klein wenig, die Tafel zu sehen, obwohl ich sie schon oft abhängen hatte wollen.

Ich riss mich von dem kleinen Tonmarienkäfer los, der sich unter meinem Namen befand und der zu der Sonnenblume hinter Jessys Nachnamen unterwegs war.
Den Wohnungsschlüssel hielt ich bereits parat und steckte ihn mit leicht zitternden Händen ins Schloss. Es klickte leise.

Ich war Zuhause.

Beinahe schon erwartungsvoll öffnete ich die Tür. Chemischer Zitronenduft waberte mir entgegen. Diese Duftsprays kaufte Hannah bereits auf Vorrat und versprühte sie, wann immer es nach ihrer Nase nicht mehr genug nach diesem Zeug stank.

Entschuldigung. Duftete.

Den Koffer hinter mir herziehend, machte ich zwei Schritte nach vorne, sodass ich mitten in unserem Gang stand. Die Jacken waren aufgehängt und alle Schuhe standen ordentlich aufgereiht auf der billigen Schuhmatte von Ikea.

Wenigstens hatte meine Abwesenheit eine gute Sache: Hannah hatte ihrem Sauberkeits- und Ordnungsfimmel freien Lauf lassen können.
Denn ich war, zu ihrem Leidwesen, die Unordentlichste unter uns dreien. Ich zog meinen Mantel aus und kickte meine Stiefel in eine Ecke.

„Jessica? Bist du schon zurück?", rief es da schon, vermutlich aus der Küche.
Hannah hielt es nicht nur gern sauber, sondern kochte auch noch wirklich gut. Das waren super Voraussetzungen für eine WG.
Deshalb waren Jessy und ich uns einig, sie zumindest auf freundlicher Basis zu dulden. Deswegen und die Tatsache, dass ihr Onkel uns diese Wohnung beschaffen hatte.
Ich schluckte, als ich ihre Stimme hörte. Mir war schon wieder nach Heulen zumute.

„Jessica?", Hannahs Stimme nahm einen ungeduldigen Tonfall an. „Nein", krächzte ich und ließ den Koffer los. „Ich bin's."
Die Tür gegenüber wurde aufgerissen und zeigte Hannah im Türrahmen stehen. Die Bluse und die neue Cordhose wurden von einer geblümten Kochschürze bedeckt, ein Gummiband hielt die naturblonden glatten Haare locker zusammen. Ihr Mund stand weit offen.
Hannah war zwar ein Jahr jünger als Jessy und ich, sah jedoch eher aus wie 18 und benahm sich dennoch wie eine Mutter.

„Juna!", rief die Blondine fassungslos und eilte auf mich zu. Ich riss überrascht die Augen auf, als sie mich in eine kurze Umarmung zog. Doch auch ich legte ein wenig gerührt meine Arme um sie.
Dann machte ich mich wieder los und sie fixierte mich beinahe anklagend.
„Warum hast du nicht gesagt, dass du heute zurückkommst?" Ihre Augen musterten mich tadelnd über ihre dunkle Brille hinweg.
Ich ließ schuldbewusst meine Schultern hängen und suchte nach den passenden Worten. Ja, warum eigentlich nicht?

Ich hatte Jessy nur geschrieben, dass ich zwar gesund bin, aber nach diesem Vorfall noch einige Tage bei meinen Eltern bleiben würde.
„Ach, ist auch egal", meinte da Hannah nur. „Wir sind so froh, dass du wieder da bist und alles überstanden hast. Es kam sogar in den Nachrichten. Sogar Joshua hat nach dir gefragt und wollte wissen, ob wir etwas von deinem Zustand wüssten."

Joshua. Er war mein Schwarm. Gewesen. Bis Noel aufgetaucht war.
Doch dass der gutaussehende Dunkelhaarige sich Sorgen um mich gemacht hatte, rührte mich dennoch. Verdammt. Meine Gefühle waren vollkommen durcheinander.

„Tut mir leid, ich muss zurück an den Herd. Sonst verbrennt das Abendessen", sagte Hannah mit einem entschuldigenden Lächeln und ohne, dass ich ein Wort von mir gegeben hatte, ließ sie mich im Gang zurück.

Als sie die Türe wieder schloss, nahm sie auch den verführerischen Duft nach etwas Gebratenem mit sich zurück in die Küche.
Ich atmete tief durch. Das erste wäre geschafft. Wann Jessy wohl kommen würde? Plötzlich freute ich mich tierisch darauf, meine beste Freundin wiederzusehen. Warum hatte ich vor der Begegnung solchen Bammel gehabt?

Ich straffte die Schultern und zog den Trolli in mein Zimmer, das sich neben dem kleinen Bad befand.
Dort sah alles ganz genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Das Bett war gemacht, die graue Bettwäsche mit den rosa Streifen sah einladend weich aus.
Auf meinem Schreibtisch, der unter dem einzigen Fenster im Raum stand, tummelten sich Bücher, Schreibzeug, Papierkram und mein Laptop. Und noch ein paar Flusen.
Der graue Flauschteppich lag vor dem weißen Kleiderschrank, bei dem immer noch eine Tür geöffnet war und so einen Blick in das Chaos darinnen freigab.

Meine Augen wurden feucht. Mein kleines Zimmer zu sehen, war wie ein Schock für mich.
Das Leben ging weiter. Ich würde wieder normal zur Uni gehen, ich würde hier schlafen, ich würde mit Jessy und Hannah zu Abend essen. Eine Lawine hält das Leben nicht an. Sofern man sie überlebt.

Doch was war mit Noel? In den letzten drei Tagen hatte ich nonstop an ihn gedacht. Entweder wie ich ihn finden oder wie ich ihn vergessen könnte. Nach kürzester Zeit musste ich mir eingestehen, dass Vergessen unmöglich war.
Ich hatte auch oft versucht, nicht an ihn zu denken. Doch auch das war kläglich gescheitert.

Für meine Dummheit, ihn nicht nach seiner Handynummer gefragt zu haben, würde ich mich am liebsten immer noch ohrfeigen. Aber in den Bergen waren Handys nie ein Thema gewesen und wir beide hatten es einfach vergessen.
Doch warum, warum, war er einfach so verschwunden? Ohne sich zu verabschieden. Ohne mir seine Adresse zu geben.

Diese Frage schwirrte permanent in meinem Gehirn herum und bereiteten mir Kopfschmerzen.
Vollkommen erledigt ließ ich mich auf mein großes Bett fallen und starrte an die Decke.

Würde ich auf meine Fragen je eine Antwort bekommen?

Resigniert zog ich mein Smartphone, das bis auf einen kleinen Riss auf der Schutzfolie die Wanderung gut überstanden hatte, aus der hinteren Hosentasche hervor.
Keine neue Nachricht. Warum auch?
Noel hatte meine Nummer ebenso wenig wie ich seine.
Aus Gewohnheit der letzten Tage fand ich mich auf Facebook in der Suchleiste wieder. Noels Name in allen erdenklich möglichen Variationen befanden sich bereits in den letzten Suchanfragen.

Doch egal, wie lange ich schon versucht hatte ihn zu finden, Facebook wollte ihn mir einfach nicht zeigen. Falls er überhaupt ein Konto auf dieser Plattform besaß.
Ich startete einen neuen Versuch und klickte mich durch die vielen Noels, die in Deutschland lebten.

Schwarze Haare, rote Haare, dunkelhäutig, kein Bild vorhanden, blonde Haare, aber falsches Gesicht. Ich seufzte enttäuscht und legte das Handy härter als beabsichtigt auf das Nachtkästchen.

Eine Tür fiel ins Schloss. Ich hob erwartungsvoll meinen Kopf an und spitzte gespannt die Ohren. War das die Eingangstür?
Meine lautlose Frage wurde innerhalb von drei Sekunden bestätigt, in denen Jessy vermutlich meine Schuhe auf dem Gang entdeckt hatte. Ein schriller Schrei erfüllte die Wohnung, gefolgt von einem lauten: „Meine Süße ist wieder da!"

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