Kapitel 10
Lea rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Ihr Schädel brummte und sie hatte einen gewaltigen Kater. Verschlafen kletterte sie aus ihrem Bett, zog die Hausschuhe an und torkelte ins Badezimmer. Sie blickte in den Spiegel, der über einem kleinen Waschbecken hing, und stellte fest, dass sie schon besser ausgesehen hatte. Doch was war auch anderes zu erwarten, nach so einer Nacht? Wieder derselbe Traum, der sie seit Monaten verfolgte. Nur diesmal war er um einiges intensiver gewesen, als sonst.
Goldene Augen, spitze Zähne, Blut, ihre toten Freunde und Marie. Sie konnte einfach nicht loslassen, irgendetwas zerrte sie immer wieder zurück an jenen Tag, den sie mit aller Kraft zu verdrängen versuchte. Ihre Psychologin Mrs. Eris hatte ihr geraten, sich den Erinnerungen zu stellen doch wie sollte sie das anstellen, wenn der Schmerz über den Verlust immernoch so stark war wie am ersten Tag? Es schien ihr sowieso niemand glauben zu schenken. Kein Wunder, wenn man ihr früher erzählt hätte, dass es sprechende Wölfe gab, die größer waren als kleine Ponys und nach menschlichem Blut dürsteten, hätte sie es auch als lächerlich abgetan. Zumal der gesamte Wald abgesucht und nichts außer ihrem Zelt gefunden wurde.
Kein Wolf und keine Leichen. Noch nicht einmal einen Tropfen Blut hatten sie finden können und von ihren Freunden fehlte jede Spur. Mehrere Wochen lang hatten sie täglich Einheiten mit Spürhunden eingesetzt, in der Hoffnung, dass sie Marie und die anderen finden würden. Doch da der Erfolg bei der Suche ausblieb und die Nachrichten nicht länger von dem Vorfall berichteten, war es still geworden. Sie hatten die Suche aufgegeben, oder auf ein Minimum reduziert. Niemand glaubte mehr daran, dass sie irgendetwas oder jemanden finden würden.
Mrs Eris war stets freundlich und man konnte sich gut mit ihr Unterhalten, doch auch sie dachte, dass Lea ein schweres Trauma erlitten hatte, hervorgerufen durch irgendwelche Dinge, die sie während dem Campingurlaub durchmachen musste. Der Wolf, den sie sich einbildete war eine erfundene Figur ihres Verstands, um das erlebte besser verarbeiten zu können. Mrs Eris war sich sicher, dass der Schlüssel zum auflösen des Falls tief in Leas Gedanken vergraben lag und nur darauf wartete gefunden zu werden. Eines Tages würde sich alles klären und die wahren Gründe für ihre Geschichte ans Licht kommen. Lea atmete tief durch. Sie war sich ganz sicher, dass sie sich den Wolf nicht einbildete. Niemand von ihnen war dabei gewesen, also konnten sie nicht wissen was wirklich passiert ist.
Ein weiterer Beweis dafür, dass sie sich das Ganze nicht ausdachte, war das Medallion, welches Lea unter ihrem Nachthemd am Hals trug. Bisher hatte sie noch niemandem davon erzählt, denn irgendetwas hielt sie davon ab. Vieleicht war es die Angst, dass man es ihr wegnehmen könnte. Ob sie es nun zugeben wollte oder nicht, sie hing an dem Schmuckstück und spürte das es eine wichtige Rolle spielte. Lea drehte den Wasserhahn auf und brachte die morgendliche Pflege hinter sich.
Anschließend kehrte sie ins Schlafzimmer zurück um den Kleiderschrank nach ein paar bequemen Sachen zu durchforsten. Lea war wählerisch was ihre Kleidung betraf und so dauerte es ein wenig, bis sie etwas passendes gefunden hatte. Der weiche Wollpullover, den sie anzog, würde vor der Kälte schützen und sie warm halten. Es war Anfang Dezember und Weihnachten stand kurz vor der Tür, eine dicke Schneeschicht zog sich durch den gesamten Ort und verwandelte ihn in ein weißes Paradies. Seid Tagen schneite es ununterbrochen und große Schneeflocken fielen vom graubedeckten Himmel, als Lea zum Fenster hinausschaute.
Der Winter war noch nie ihr Fall gewesen, allein die Vorstellung, dass sie sich gleich durch den Schnee und die Kälte kämpfen musste, ließ sie erschaudern. Eilig schlüpfte sie in eine ihrer Lieblingsjeans. Ein letzter Blick in den Schlafzimmerspiegel entlockte ihr ein Lächeln.
Zielstrebig ging sie auf den kleinen Nachttisch zu, der sich neben dem silberblauen Himmelbett befand und zog die erste Schranktür auf. Neben einigen Alttags Utensilien, fand sie schließlich das, was sie suchte. Heute würde Lea endlich den Mann Wiedersehen, der ihr gehörig den Kopf verdreht hatte. Jeder auf der Schule kannte ihn und es war nicht unbekannt, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. Lea trug ein wenig von dem Lippenstift auf, den sie in der Hand hielt und machte ihre Haare zurecht.
Zufrieden mit dem Endergebnis schlenderte sie in die Küche, machte sich einen Kaffe und setzte sich an den Esstisch. Es gab nichts besseres, als einen Kaffe am frühen Morgen, natürlich ohne Zucker und mit Milch. Sie griff nach einem Apfel der in einer Obstschale lag und nahm einen großen Bissen.
Bald würde ihre Mum anrufen und fragen, ob alles in Ordnung bei ihr war. Das tat sie schon immer, doch die Sorge um Lea war umso größer geworden, nachdem man sie vor einigen Monaten verletzt und verstört am Straßenrand aufgefunden hatte. Jetzt rief ihre Mum fast täglich an und Lea war sich sicher, dass es ihr am liebsten wäre, wenn sie ihre Wohnung aufgeben und zurück in ihr Elternhaus ziehen würde. Lea nippte an dem Kaffee und wusste, dass dies niemals geschehen würde.
Sie hatte solange dafür gekämpft in eine eigene Wohnung ziehen zu können, dass sie es jetzt, wo sie endlich auf eigenen Beinen stand, nicht mehr aufgeben wollte. Leas Telefon klingelte. Sie seufzte, griff nach dem Hörer und nahm den Anruf entgegen."Ja?"
"Hey Liebes, alles in Ordnung bei dir? du hast dich gestern Abend garnicht mehr gemeldet und du weißt doch, wie neugierig ich bin. Möchtest du mir nicht erzählen, wie es gelaufen ist?" Lea biss sich auf die Unterlippe. Ehrlich gesagt hatte sie nicht die geringste Lust darauf, ihrer Mutter von dem Reinfall zu berichten.
Lea nahm an das Lucas auch zur Party kommen würde doch sie hatte sich gettäuscht. Das Einzige, woran sie sich noch erinnern konnte, war an die Silhouette eines Mannes. Wahrscheinlich irgendein Typ, dem sie kurz über den Weg gelaufen war. Im Grunde genommen war sie den ganzen Abend allein gewesen, zwischen Leuten, die sie nicht kannte und nicht näher kennenlernen wollte. Aus Frust hatte sie soviel getrunken, dass sie nicht mal mehr wusste, wie sie eigentlich nachhause gekommen war.
"Naja, da gibts nicht viel zu erzählen, Lucas war nicht da und ansonsten kannte ich dort niemanden." Stille auf der anderen Seite der Leitung. "Mum? bist du noch dran?" Eine weitere Sekunde der Stille folgte, ehe sie sich zurückmeldete.
"Ja klar, ich dachte nur du würdest mir vielleicht von dem sexy Kerl erzählen, der dich gestern Abend begleitet hat. Ich war nämlich ganz zufällig in der Nähe und habe euch gesehen, wo hast du den denn bitte aufgegabelt? aus einem Magazin für Unterwäschenmodels entführt?" scherzte sie.
Nun war Lea diejenige die schwieg. "Was erzählst du da?", fragte sie knapp. "Ach komm schon Lea, ich bin deine Mutter. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du einen anderen attraktiver findest, als Lucas. Du bist schließlich noch jung, da ändert man seine Meinung eben häufig und wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, würde ich auch eindeutig das Unterwäschenmodel wählen. Ich wusste doch das meine Tochter Geschmack hat".
Lea rollte mit den Augen, sie hatte nicht die geringste Ahnung wovon ihre Mutter sprach, denn die Erinnerungen an den gestrigen Abend blieben aus. Wenn das was sie sagte stimmte, hatte Lea sich gewiss zu Tode blamiert und ihre Begleitung wollte ganz bestimmt nichts mehr von ihr wissen.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie fand es irgendwie unheimlich, dass ein Fremder nun vermutlich mehr über sie wusste, als er eigentlich sollte. Sei es drum, Lea hatte später immernoch genügend Zeit, um darüber nachzudenken. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie bereits spät dran war und sich beeilen musste, sonst würde sie es nichtmehr rechtzeitig zur Mathestunde schaffen.
Lea beschloss das Thema auf sich beruhen zu lassen und würgte ihre Mutter ab. Hastig schlang sie den Rest ihres Frühstücks runter, hechtete in die Diele und legte sich einen grünen Schal um den Hals. Die Winterstiefel, welche sie rasch angezogen hatte waren gut gepolstert und würden vor der Kälte schützen. Ehe die Tür hinter ihr ins Schloss fallen konnte, streifte sie sich noch ein paar Handschuhe über und nahm die Schultasche mit."Dann wollen wir mal"murmelte Lea, als sie den ersten Schritt vor die Tür setzte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top