Der Besuch bei meiner Oma

„Och, Mama, ich mag die Oma nicht besuchen! Das wird bestimmt total langweilig!", rief ich.

„Aber die Oma wird sich so über den Besuch freuen, und ich bin sicher, dass es dir Spaß machen wird", meinte meine Mutter dazu. „Du siehst deine Oma ja auch nicht sehr oft."

Die Sommerferien begannen nächste Woche, und ich hatte angefangen, ein neues Spiel auf meiner Nintendo Switch zu spielen. Deshalb hatte ich nicht vor, meinen komfortablen Sessel im Wohnzimmer zu verlassen und mich irgendwohin zu bewegen außer vielleicht ins Freibad. Aber da die Corona-Krise noch nicht vorbei war, war selbst das schwierig geworden. Immerhin ging es jetzt mit dem Impfungen voran, und vielleicht würde ich ja gar keine Maske mehr tragen müssen, wenn die Schule wieder anfing.   

Natürlich wussten Mama und ich da noch nicht, wie aufregend der Besuch bei meiner Oma werden würde. Meine Oma war nämlich im letzten Jahr von Köln nach Kreta zu ihren Verwandten gezogen, nachdem zuerst mein Opa an einem Schlaganfall und wenige Monate danach mein Papa, ihr einziger Sohn, an Krebs gestorben waren. Wir hatten sie seither auch noch nicht besucht, da wir wegen des Lockdowns nicht wie geplant während der Osterferien im letzten Jahr nach Heraklion hatten fliegen können. Meine Begeisterung darüber, endlich meine griechischen Verwandten kennenzulernen, hielt sich auch in Grenzen. Denn Papa hat mir mal alte Schwarzweiß-Bilder von dem Dorf im Hinterland von Heraklion gezeigt, aus dem mein Uropa vor rund 60 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland gekommen ist, weil er in Deutschland einen gut bezahlten Job gefunden hatte.

„Gibt in der Nähe einen Strand?", hatte ich meinen Papa sofort gefragt.

„Nun, da muss man schon ein Stückchen fahren."

„Mit dem Fahrrad?" Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt. 

„Nein, mit dem Bus oder Auto."

Andererseits war es toll, mal wieder zu verreisen. Wegen Papas Krankheit waren wir schon vor der Corona-Krise lange nicht verreist und waren stattdessen, wenn wir weggefahren waren, oft in Krankenhäusern gewesen, wo Papa einen wichtigen Termin gehabt hatte.

Ich glaube, Mama war es gar nicht mehr gewohnt, mit dem Flugzeug irgendwo hinzufliegen. Jedenfalls tat sie tagelang nichts anderes, als unsere Koffer zu packen. Wann immer sie unsicher wurde, schaute sie auf ihre Wetter-App, die sie bereits auf das Wetter von Heraklion eingestellt hatte, oder rief gleich Oma an, ob sie dachte, dass es in den nächsten Tagen kalt werden würde und man noch eine dicke Jacke brauchen würde. Auf meinen Einwand hin, dass wir nach Griechenland fliegen würden und nicht nach Island, hat Mama mir ein verrücktes Instagram-Video von der geradezu im Schnee versinkenden Athener Akropolis gezeigt. „Siehst Du, so war das Wetter dort vor einigen Monaten!" Also habe ich sie kopfschüttelnd machen lassen, was sie wollte. Schließlich war Mama die Erwachsene im Haus; und so lange ich in Ruhe auf der Switch zocken konnte, war ich zufrieden.

Als wir dann am Frankfurter Flughafen ankamen, war das Terminal bereits gut gefüllt mit vielen Leuten, die sich offensichtlich freuten, noch einmal aus Deutschland rauszukommen. Andererseits erinnerte ich mich noch daran, wie voll dasselbe Terminal noch vor ein paar Jahren gewesen war, als ich mit meinen Eltern nach Mallorca geflogen war. Damals hatten wir sogar Angst gehabt, den Flieger zu verpassen, weil die Schlange an der Sicherheitskontrolle so lang gewesen war. So voll wie damals war die Halle heute bei Weitem nicht.

Das Flugzeug war auch nicht ganz voll. Das war zwar toll, weil Mama und ich uns mit unseren Sachen in einer Reihe ausbreiten konnten. Vielleicht wollen viele Leute gar nicht fliegen, weil es sich nicht toll anfühlt, 3 Stunden lang im Flugzeug eine Maske tragen zu müssen, und die Corona-Zeit auch noch nicht ganz vorbei ist, weshalb ein Urlaub wie früher immer noch nicht möglich ist. Ich vertrieb mir während des Fluges die Zeit damit, aus dem Fenster zu schauen und zu überlegen, über welche Orte wir gerade flogen: Alpentäler in Österreich, Venedig, Kroatien, Griechenland... Wenn man die Welt aus einem Flugzeugfenster anschaut, sieht alles richtig klein aus. Und dann ist das Tragen einer Maske auch gar nicht so schlimm.

Am Gepäckband in Kreta begrüßte mich die örtliche Coca-Cola-Werbung mit dem antiken Stierspringer, die es laut Papa nur hier gibt. Papa hat immer Witze über genau diese Werbung gemacht, wenn ich eine Cola trinken wollte, und ich habe ihm nie richtig geglaubt. Jetzt weiß ich wenigstens, dass er mich nicht auf den Arm genommen hat und es diese Werbung wirklich gibt. Außer der Werbung gab es noch so viele Anzeigen für Restaurants, Wasserparks und andere Freizeitaktivitäten, die aus einer anderen Welt, nämlich einer Welt ohne das Virus, zu stammen schienen.

Vor der Flughafenhalle mussten wir eine geschlagene halbe Stunde auf Onkel Dimitri warten, der uns zu Oma bringen sollte. Dimitri ist nicht mein echter Onkel, sondern der Neffe meiner Oma, und er spricht nur Englisch mit einem griechischen Akzent. Deshalb verstand ich nur sein „Sorry" und nicht viel von dem, was er dann zu Mama sagte. Er fuhr einen alten Renault Rapid, der nur zwei Sitze vorne hatte, weshalb er mir signalisierte, ich solle mich hinten in den Kofferraum neben die Koffer setzen.

„Aber das geht doch nicht. Ich muss mich doch anschnallen!", protestierte ich.

Onkel Dimitri zuckte nur mit den Schultern.

Und Mama meinte: „Wenn er sagt, dass es in Ordnung ist, dann mach es doch einfach."

Ich war zwar der Meinung, dass es Ärger mit der Polizei geben würde, wenn wir angehalten würden. Aber ich war ja nur ein Kind - Was hatte ich also zu sagen? Also saß ich bei den Koffern, während Onkel Dimitri sich durch den Stadtverkehr von Heraklion quälte und irgendwann Richtung Süden abbog. Dann ging es nur noch einen totalen steilen Berg doch, den wir irgendwann auch wieder runterfahren mussten. Die Straße, die in Heraklion noch eine normale Breite gehabt hatte, schien umso enger zu werden, je weiter wir aus der Stadt ins Hinterland fuhren. Außerdem war sie in einem schlechten Zustand: Ein oder zwei Mal hüpfte Onkel Dimitris Auto regelrecht aus einem Schlagloch heraus. Das machte mir Angst, weil ich auf der linken Seite einen total tiefen Abgrund erkennen konnte: Ich war noch viel zu jung zum Sterben! Und wenn ich schon sterben sollte, dann nicht hier, so weit weg von meinem Zuhause! Sogar Mama wirkte besorgt, weil sie wusste, dass ich nicht einmal angeschnallt war.

Irgendwann kamen wir im Tal auf der anderen Seite der Berge an, und nach einer Weile erreichten wir eine größere Ortschaft, in der es wie in jeder Kleinstadt oder jedem größeren Dorf Supermärkte, Restaurants und so weiter gab. Hier gab es sogar einen Lidl! Ich dachte auch zuerst, ich würde träumen. Stimmte aber nicht!

Der Hof von Omas Familie lag etwas außerhalb des Dorfes, aber immerhin direkt an der Straße. Wie Oma Mama am Telefon erzählt hatte, war er gerade erst renoviert worden, und in der Tat sah man, dass das Haupthaus und Wirtschaftsgebäude einen neuen ockerfarbenen Anstrich hatten. Außerdem blühten gerade viele Büsche und Blumen, so dass alles sehr idyllisch aussah und man hätte glauben können, dass die Leute, die hier wohnten, überhaupt keine Sorgen hatten. Stimmte natürlich nicht, denn Omas Bruder war der Besitzer des Hofes und lebte davon, seine Olivenernte und anderen landwirtschaftlichen Produkte an die Hotels zu verkaufen. Nebenher betrieb man auf dem Hof noch ein kleines Geschäft mit einem Imbiss, das besonders gut lief, wenn viele Urlauber auf der Insel waren und hier auf dem Weg zum berühmten Hippie-Dorf Matala mit ihrem Mietwagen anhielten. Da die letzte Saison schon nicht gut gelaufen war, musste diese einfacher besser werden.

Als wir ankamen, kamen plötzlich ganz viele Menschen ans Auto, um uns zu begrüßen. Auch das war nach den Erfahrungen der letzten Monate sehr seltsam, aber ich war wohl mit den meisten von ihnen verwandt, ohne dass ich je gewusst hatte, wie groß meine Familie ist. Es waren auch mehrere Kinder darunter. Ein Junge, der etwas kleiner war als ich, beobachtete mich zum Beispiel ganz genau, als ich aus dem Auto kletterte und dabei meine Switch in der Hand hielt. Als ich genauer hinschaute, sah ich, dass er auch eine hatte. Das war schon einmal gut, denn dann konnten wir Multiplayer-Spiele machen, auch wenn er vermutlich nur Griechisch sprach. Zwei Mädchen standen ganz nass in „Frozen"-Badeanzügen und in Flipflops im Hof. Papa hatte zwar gesagt, dass es hier keinen Strand gab. Aber vielleicht hatte irgendwer inzwischen einen Pool gebaut.

Und dann konnte ich die Stimme meiner Oma deutlich vernehmen. „Nicky!" Ich hätte Oma fast gar nicht erkannt, so anders sah sie aus, als ich sie in Erinnerung hatte: Ihre Haut war braungebrannt von der Sonne, und sie wirkte glücklicher, leichter und um Jahre jünger. Pflichtschuldig fiel ich ihr um den Hals. „Endlich sehe ich dich noch einmal wieder! Ich habe fast nicht mehr daran geglaubt!"

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