Höchstpersönlich

Ich sah ihn in der Schule
wie er aufgeregt durch die Gänge lief
und allen stolz erzählte
er habe sein Abitur bestanden
mit eins Komma null.

Doch niemand sprach ihm seine Anerkennung aus.

Ich sah ihn auf der Straße
wie er verliebt ein Mädchen küsste
die Welt um sich herum ignorierte
zärtlich seine Lippen mit ihren vereinte.

Doch niemand erfreute sich daran.

Ich sah ihn im Bus
freudig telefonierend
wie er jemandem erzählte
er habe den Studienplatz bekommen
er werde seinen Traum als Arzt verwirklichen.

Doch niemand gratulierte ihm.

Ich sah ihn in einer Bar
mit einem Bierkrug anstoßend
auf seine gerade eröffnete Arztpraxis
und auf das wunderschöne Leben.

Doch niemand stieß mit ihm an.

Ich sah ihn im Supermarkt
wie er den dicken Bauch seiner Frau streichelte
und mit ihm redete
und den Verkäufern erzählte, er werde Vater.

Doch niemand reagierte darauf.

Ich sah ihn im Park
auf einer Bank sitzend
das Gesicht in die Hände gelegt
schluchzend
wieso seine Freundin denn nicht mehr aus dem Koma aufwachte.

Doch niemand setzte sich zu ihm.

Ich sah ihn in der Bahn
tränenübergossen
mit einer durchnässten Hose
wegen der vielen Tränen
die darauf fielen.

Doch niemand tröstete ihn.

Ein weiteres Mal sah ich ihn nicht.
Nie wieder.

Ich fragte mich, wieso die Menschen nie etwas getan haben, ihm nie geholfen haben, ihn stets ignoriert haben. Ich wurde wütend, sie hätten für ihn da sein sollen, sich um ihn kümmern sollen.

Doch dann fiel mir auf, dass ich ebenfalls ein stiller Beobachter war. Nicht ein Wort hatte ich je mit ihm gewechselt. Nicht ein Mal hatte ich mich mit ihm gefreut, oder mit ihm getrauert, oder ihm Gesellschaft geleistet.

Und mir fiel noch etwas auf.

Es waren nicht seine persönlichen Probleme, die ihn getötet hatten.

Wir waren es höchstpersönlich.

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