Am einunddreißigsten Tag
Dreißig Tage
Dreißig Tage seit du gegangen bist
Dreißig Tage seit ich das letzte Mal lächelnd in den Spiegel sah
Dreißig Tage seit ich das letzte Mal glücklich war
Angefühlt haben sie sich wie eine halbe Ewigkeit
Und die unendlich große Leere
In meinem Körper
Wächst still und leise weiter
Am ersten Tag habe ich geweint
Lauthals schluchzend
Mit dutzend benutzten Taschentüchern
Die den Boden verschmutzten
Am zweiten Tag habe ich geweint
Vor Schmerzen, wenn ich meine Nase schnaubte
Die ganz rot und trocken war
Doch gegen den Schmerz in meinem Herzen noch lange nicht ankam
Am dritten Tag blickte ich aus Versehen in den Spiegel
Und erkannte mich selbst nicht wieder
Am vierten Tag verließ ich zum ersten Mal die Wohnung
Ein Fehler
Das Sonnenlicht so hell, dass es in meinen
Angeschwollenen Augen brannte
Am fünften Tag rannte ich vor dir weg
Ich sah dich auf dem Weg zum Einkaufen
Wie du den Supermarkt betratst
Am Ende bestellte ich mir eine Pizza
Am sechsten Tag waren die Taschentücher leer
Ich wechselte zu Klopapier
Aus zu großer Angst
Dir erneut zu begegnen
Am siebten Tag brachte ich den Müll raus
Und für einen kurzen Moment
Tat der Sonnenschein gut
Für einen kurzen Moment
Fühlte ich mich lebendig
Am achten Tag räumte ich auf
Unsere Fotoalben taten am meisten weh
Das Klopapier ging leer
Und ich war gezwungen, einkaufen zu gehen
Am neunten Tag machte ich mir einen Obstsalat
Die Erdbeeren erinnerten mich an unser Picknick
Ich aß nicht auf
Am zehnten Tag rief meine Mutter an
Ich nahm nicht ab
Auch nicht beim vierten Anruf
Am elften Tag war ich zu kraftlos aufzustehen
Ich blieb im Bett
Und stand nur ein Mal auf
Als der Pizzabote mir meine Bestellung brachte
Am zwölften Tag aß ich zwei Behälter Eis
Und sah mit Tina einen Horrorfilm an
Der Ehemann in dem Film starb am Ende
Ich wünschte du wärst für mich auch gestorben
Am dreizehnten Tag besuchte mich Tina wieder
Sie half mir beim Ausmisten
Weil ich es bei der Hälfte der Kisten
Nicht über das Herz gebracht hatte
Sie wegzuwerfen
Am vierzehnten Tag war ich wieder allein
Ich fing die neue Taschentücherpackung an
Und machte sie halb leer
Am fünfzehnten Tag ging ich schwimmen
Da sah man meine Tränen nicht
Das frische Wasser kühlte mein angeschwollenes Gesicht
Auf dem Nachhauseweg regnete es
Am sechszehnten Tag regnete es immer noch
Ich ging raus und wartete, bis ich nass war
Danach duschte ich warm
Und fühlte mich zum ersten Mal seit sechszehn Tagen wieder geborgen
Am siebzehnten Tag nahm ich den Spiegel ab
Das Bild darin gefiel mir nicht
Am achtzehnten Tag fuhr ich zu Tina
Doch ich hatte keine Kraft, bei ihrer Haltestelle auszusteigen
Ich fuhr bis zur Endstation
Von da aus lief ich vier Stunden nach Hause
Am neunzehnten Tag klingeltest du
Um deine letzten Sachen abzuholen
Ich tat als wäre ich nicht da
Dein Anblick durch den Türspion tat schon zu sehr weh
Am zwanzigsten Tag bestellte ich mir zum Frühstück eine Pizza
Nach zwei Bissen wurde mir schlecht
Weil mir dein Anblick nicht aus dem Kopf gehen wollte
Ich machte die Taschentücherpackung leer
Am einundzwanzigsten Tag hatte ich es satt
Ich zog mir mein Lieblingskleid an und ging auf einen Flohmarkt
Ich kaufte eine alte Kamera
Und schoss damit die ersten Fotos ohne dich
Am zweiundzwanzigsten Tag bestellte ich mir wieder eine Pizza
Und fragte den Pizzaboten, ob ich ein Foto von ihm machen könnte
Weil seine Augen so schön blau waren
Er blieb auf einen Drink
Am dreiundzwanzigsten Tag ging ich in den Park
Und machte Fotos von allem, was ich sah
Ich schrieb dem Pizzaboten eine Nachricht
Doch schickte sie nicht ab
Am vierundzwanzigsten Tag brachte der Pizzabote eine Pizza vorbei
Ohne dass ich eine bestellt hatte
Wir spielten ein paar Spiele
Und sahen uns den Horrorfilm an
Am fünfundzwanzigsten Tag erzählte ich dem Pizzaboten, warum ich seine Augen so schön fand
Weil sie mich nicht an deine haselnussbraunen erinnern konnten
Er versprach für mich da zu sein
Ich lächelte zum ersten Mal seit du gingst
Am sechsundzwanzigsten Tag standest du plötzlich vor mir an der Kasse
Du trugst deine Haare offen
Und den Rock, den ich immer so an dir mochte
Zum Glück sahst du mich nicht
Am siebtenundzwanzigsten Tag stellte ich fest, dass ich keine neuen Taschentücher gekauft hatte
Ich freute mich, dass sie mir nicht gefehlt hatten
Ich fuhr zu deiner Wohnung und stellte deine Kiste vor der Tür ab
Als ich zu Hause ankam, fühlte ich mich befreit
Am achtundzwanzigsten Tag lud mich der Pizzabote zu sich ein
Tina kam auch
Es war der erste Abend
An dem ich dich nicht vermisste
Am neunundzwanzigsten Tag stellte mir Tina eine Freundin vor
Sie war überhaupt nicht mein Typ
Nein – sie war überhaupt nicht wie du
Ich war froh, als sie ging
Am dreißigsten Tag backte ich mir selbst eine Pizza
Ganz allein, ohne Tina oder den Pizzaboten
Und zum ersten Mal genoss ich es
Für mich zu sein
Und die Leere fühlte sich plötzlich ein Stückchen kleiner an
Als ich an die Stelle sah, an der der Spiegel hing
Und von Herzen lächelte
Und mir vorstellte, wie schön ich war
Und vor allem wie glücklich
So ganz ohne dich
Am einunddreißigsten Tag.
20.07.20
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