Weiße Taube

Die Sonne strahlte hell. Vögel sangen in den Bäumen, die in der Nähe standen. Die Blumen, die sich überall wie verstreute Farbkleckse befanden, versprühten ihren süßlichen Duft.
Die Kulisse wirkte friedlich, er könnte schreien, brüllen, alles kurz und klein schlagen. Die Welt sollte nicht glücklich sein, es sollte regnen, stürmen.
Er kam nicht mit seinen starken Gefühlen klar. Er war alleine mit ihnen, niemand war da, um ihn zu verstehen. Nicht einmal seine Umgebung zeigte Mitgefühl.
Um die aufkommenden Tränen zu verdrängen, fuhr er sich mit der Hand durch die ungekämmten schwarzen Haare. Sein Äußeres musste in letzter Zeit leiden, aber das kümmerte ihn wenig. Eigentlich gar nicht. Nichts kümmerte ihn mehr, alles war ihm egal. Die Fragen in seinem Kopf verdrängten alles, Hunger, Durst, sein Lachen und ließen ihn nachts nicht ruhig schlafen. Mittlerweile hatten sich dunkle Ringe unter seinen Augen gebildet, die nur von der dunklen Farbe seines Stoppelbartes getoppt werden konnten.
"Warum?", flüsterte er zum tausendsten Mal heute. Schon die letzten Tage hatte er nie etwas anderes sagen können. Die Kraft fehlte ihm dazu und schlussendlich war dieses eine Wort alles, was ihn beschäftigte.
Sein Blick wanderte über den marmorierten Stein und die darauf eingravierte Inschrift.
21 war sie gewesen. Lächerliche 21 Jahre hatte ihr Leben angedauert, bevor es geendet hatte, bevor sie ihn ohne weiteres in dieser Welt zurückgelassen hatte.
"Warum, warum, warum?", stammelte er. Sie antwortete nicht. Nur der Wind wehte durch die Baumkrone über ihm und ließ die Blätter wie das Meer rauschen.
Sie hatte das Meer geliebt, jeden Urlaub waren sie dorthin gefahren. Es hatte ihn glücklich gemacht sie lachen zu sehen, wenn sie den Strand entlang rannte, auf die Wellen zu. Wie ein kleines Kind an Weihnachten hatte sie sich stets gefreut. Sie war unglaublich gewesen.
Und genau ihr letzter gemeinsamer Urlaub wurde zerstört, von einer Sache entzwei gerissen.
Danach war nichts mehr wie davor, sie war nicht mehr wie davor. Sie wurde stiller, das Funkeln, das Lächeln verschwanden. Sie waurde zu einem Schatten, der von der Dunkelheit lebte und schweigend seinen Pflichten nachging.
Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass es ihr schlecht geht und er hatte ihr helfen wollen. Doch sie war zu stolz gewesen, wollte stark sein und ihre Gefühle nicht preisgeben. Hatte sie nicht geahnt, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte? Anstatt ihre Sorgen, ihre inneren Qualen mit ihm zu teilen, hatte sie sich verschlossen und hatte es im Alleingang regeln wollen. Dabei hätte er alles für sie getan, er liebte sie noch immer, so sehr, dass es ihn aufzufressen, zu zerstören drohte. Aber es war ihm egal, ohne sie erschien ihm sein dahin geschmissenes Leben sowieso sinnlos.
Diese Frau war sein Leben gewesen und nun war sie fort. Plötzlich ohne ein Abschiedswort. Ohne einen Blick zurück zu werfen. Ohne an seine ungebändigte Trauer zu denken, an das zersplitterte Etwas, dass sie in seinem Herzen übrig gelassen hatte. Es tat so verdammt weh.
"Warum?!", schrie er verzweifelt, sackte auf dem Boden zusammen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er war zu schwach, um sie zu verstecken.
Er war zu blind gewesen, um das drohende Unglück zu realisieren.
Er war zu beschäftigt gewesen, um seiner großen Liebe genug Aufmerksamkeit zu schenken.
Was hatte er verdammt nochmal getan? Bei ihm allein lag die Mitschuld an diesem Grab.
Der Schmerz in seinem Inneren war unbeschreiblich mächtig und übermannte ihn binnen Sekunden. Seine Hände gruben sich krampfhaft in die spitzen Kieselsteine unter ihm. Mit aller Kraft versuchte er seine Augen zu zukneifen, die aufkommenden Bilder in die Hölle zu schicken, doch es gelang ihm nicht.
Die Leere. Der Anruf. Die Erkenntnis. Das Nichts, das danach jeden Tag in Beschlag genommen hatte, kamen erneut ans Licht. Er hatte keinen Versuch dagegen unternommen.
Warum nur hatte sie das getan? Warum hatte sie ihm nicht vertraut? War er nicht die letzten Jahre immer für sie da gewesen? Er hatte mit ihr gelacht, getanzt, geweint. Er wollte bis ans Ende der Welt mit ihr gehen, ihr den Himmel auf Erden zeigen. War das nicht genug gewesen? Was hätte er noch tun können? Sie hatte sich vor ihm verschlossen, ihn ignoriert und ausgesperrt. Ehrlich gesagt hatte er von der ersten Begegnung an an Seelenverwandte denken müssen. Wie hatte sie es empfunden? Warum hatte er sie das nie gefragt? Was hatte er sie eigentlich jemals gefragt? Und wie oft hatte er ihr bestätigt, dass er sie liebte, dass sie wunderschön war, dass sie alles war, was er in seinem Leben brauchte?
Anscheinend nicht genügende Male. Er vermisste sie, nichts konnte die Stelle füllen, die sie in ihn gerissen hatte und es würde auch nie etwas dazu fähig sein.
Flüsternd, leise wie der Hauch des Windes stellte er die Frage, die er sie die ganze Zeit fragen wollte: "Warum hast du mir nicht verraten, wie sehr es dich aufwühlt? Ich bin für dich da, mit mir kannst du reden."
Betreten sah auf seine zerkratzten Hände, die einzelnen Tropfen Blut, als ihn auf einmal unerwartet die Wut ergriff: "Verstehst du das?! Ich liebe dich! Ich hätte dich vor allem beschützt, ich hätte sämtliche Probleme mit dir durchgestanden! Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Wie oft willst du es hören? Wie oft muss ich es sagen, damit du es mir glaubst?! Ich bin nicht perfekt, wir waren nicht perfekt, aber wir haben uns doch geliebt. Was hat dir den Grund dafür gegeben?! Was habe ich in deinen Augen falsch getan?!"
So urplötzlich wie der Zorn gekommen war, verschwand er wieder und ließ nur die pure Erschöpfung da: "Warum bist du gegangen? Warum musstest du diese Last alleine tragen? Hast du nicht gemerkt, wie du daran zerbrochen bist? Du hättest mit mir reden können. Ich hätte dich nie fallen lassen. Wenn du dieses Gefühl nicht hattest, dann tut es mir leid. Es tut mir leid, so leid. Es tut mir so furchtbar leid. Du hättest ein schöneres, ein längeres Leben verdient und ich war nicht fähig dazu es dir zu ermöglichen. Verzeih mir, bitte."
Mit verschleiertem Blick starrte er auf das Grab, auf das nicht mehr zu ändernde letzte Datum.
Ein Flattern ertönte und schwarze Krallen bohrten sich in die Erde vor ihm. Die weiße Taube schaute ihn mit ihren dunklen Augen an, beugte sich nach unten, als würde sie sich verbeugen und flog anschließend davon.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er flüsterte ergriffen: "Ich liebe dich, für immer."
Dann legte er sich auf den Rücken und beobachtete die weißen Wolken an dem unnatürlich blauen Himmel. Vielleicht hatte sie diese letzte Entscheidung glücklich gemacht, er hoffte es und hielt diese Vorstellung fest in seinem Kopf.
Während die Sonne sich weiter über den Horizont bewegte, lag der Mann auf dem Friedhofsweg und lachte oder weinte. Er dachte an alle schönen, doch auch traurigen Momente in dem gemeinsamen Leben.
Leben. Wie kurz es doch sein konnte und wie schnell man Menschen verlieren konnte. Selbst wenn man alles geben würde, wäre man nie stark genug sie festzuhalten. Wenn sie gehen wollten, wenn sie nicht mehr weiter machen konnten, dann konnte man sie nicht aufhalten. Das musste er akzeptieren. Alles hatte ein Ende und es zählte nicht nur die Zeit danach, sondern vorallem die Zeit davor.
Hätte er in die Vergangenheit reisen können, hätte er jeden Moment mit ihr noch mehr genossen, noch mehr gelebt. Aber für die beiden war es zu spät. Doch alle anderen Menschen hatten noch die Chance nicht denselben Fehler wie er zu machen.
Mit diesem Gedanken schloss er die Augen und ließ sich davon treiben.
Eine weiße Taube saß in den Ästen über ihnen und beobachtete ihn stumm.

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