Flucht

"Warum bist du auf der Flucht?", mit dieser Frage brach er das Schweigen, die Ruhe, den Frieden.
Verwirrt warf sie ihm einen Blick von der Seite aus zu und rückte die Riemen des Rucksacks auf ihren Schultern zurecht.
"Ich bin nicht auf der Flucht. Ich reise", antwortete sie dem Mann, der sie seit seinen Worten keines Blickes mehr würdigte. Es war merkwürdig. Gerade hatten sie noch gemeinsam über ihre verschiedenen Kindheiten gelacht und plötzlich war alles weg. Weggewischt, wie Gekritzel an einer Tafel durch einen triefenden Schwamm.
"Das stimmt nicht", murmelte er und wandte den Kopf. Sein ernstes Gesicht, die starken Augen überrumpelten sie.
Sie brachte ein kümmerliches Lachen raus und erwiderte eine Spur zu selbstverständlich: "Natürlich, ich hab dir ja alles erzählt."
Er fande es nicht lustig, blieb ernst. Der unerwartete Stimmungswandel des Mannes verunsicherte sie und auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war mit dem Fremden mitzugehen. Aber in der Raststätte hatte er sehr freundlich gewirkt und er sprach ihre Sprache. Es war eine willkommende Abwechslung in dem unbekannten Land gewesen und bei seinem Angebot bei seiner Familie auf dem Bauernhof zu übernachten hatte sie kaum nein sagen können. Sie war die dreckigen, versifften Betten und das illegale Zelten langsam satt und hatte sich auf eine gemütliche, erholsame Nacht gefreut. Anscheinend hatte sie sich getäuscht.
"Warum bist du wirklich gegangen?", formulierte er sie Frage um. Beim Weiterlaufen überlegte sie. Sie hatte einfach von dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen war, weggehen müssen. Wenigstens für eine kurze Zeit. Ihr Ziel war es die Welt zu sehen, sich frei zu fühlen. Ihre Mutter würde sagen, sie wolle lernen zu fliegen.
"Weil mich der Alltag und die Menschen eingeengt haben", erklärte sie. Doch der Mann gab sich mit der Antwort nicht zufrieden und erwiderte prompt: "Ausrede."
Empört warf sie ihm wütende Blicke zu. Was sollte das? Er kam mit bescheuerten Fragen und sobald sie ihm antwortete, wurde sie fast schon als Lügnerin hingestellt.
Die Luft brickelte zwischen ihnen vor Anspannung, als sie stumm den Feldweg entlang liefen.
Zuerst war sie eingeschnappt, dann wütend, doch allmählich wurde sie nachdenklich. Warum bezeichnete er es als eine Ausrede?
Die Menschen waren ihr ständig auf die Pelle gerückt. Um ihnen aus dem Weg zu gehen, war sie nur noch zu Hause gesessen, hatte sich versteckt. Sie hatte die Blicke, schon nur die Anwesenheit anderer nicht mehr ertragen können. Und die bekannten Häuser, Straßen, Gesichter, Stimmen am wenigsten.
Ihre Welt hatte sie von allen Seiten umzingelt, in einen Käfig getrieben, in dem sie nicht bleiben wollte.
Sie hatte nur noch Feindseligkeit gegnüber jedem und allem verspürt. Wer hätte sich da keine Auszeit genommen? Die Belastung hätte sie noch zerstört und sie war froh ihr entwischt zu sein. Sie vermisste ihr zu Hause in keinster Weise.
Trotzdem überkam sie die Traurigkeit, die sie schon vor ihrer Reise gefühlt hatte, als sie noch in ihrem Leben feststeckte. Diese eine Frage hatte ihren Kopf durcheinander gebracht, alles purzelte von oben nach unten, von links nach recht, aber es kam kein vollständiges Bild zustande.
"Ich weiß es nicht. Was willst du denn von mir hören?", flüsterte sie kraftlos und schleppte ihre Füße voran. Unter ihren schleifenden Schuhen sprangen Kiesel wie aufgeschreckte Kaninchen auseinander.
Die Situation erinnerte sie seltsamerweise an ihre Schulzeit. Und an wenig an ihre Freunde. Ob sie gerade an sie dachten? Bis jetzt hatten sie nicht viel Kontakt miteinander gehabt und sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte.
Einerseits fühlte sie sich vergessen und allein, andererseits erleichtert. Jedoch war die Einsamkeit das schlimmste. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich vor ihr gefürchtet und wusste nun nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. War das der Grund, warum sie mit dem Mann gegangen war? Sie war sich nicht schlüssig.
"Nur die Wahrheit", erklärte er und hörte sich sanfter als davor an. Seine ständigen Schwankungen warfen sie von einer Seite zur anderen. Was sollte denn die Wahrheit sein?
Die Reise war ein Muss gewesen. Sie hatte sich morgens kaum noch in dem Spiegel ansehen können mit dem bemalten Gesicht, dem einem Strich gleichenden Mund und dem Kostüm, in das sie sich Tag für Tag gezwängt hatte. Sie war nicht mehr glücklich gewesen und der Grund dafür war...
Sie blieb stehen.
Er warf ihr einen wissenden Blick zu: "Du weißt es. Also, vor was bist du geflüchtet?"
Wie unter großen Qualen wirkte sie schlussendlich hervor: "Vor mir."
Als die ersten Tränen kamen, spürte sie zwei Halt gebende Arm um sich und ließ sich erschöpft fallen. Ständig hatte sie die Schuld anderen Dingen zugeschoben, nur um am Ende herauszufinden, dass es sie selbst, das eigene Ich war. Davor würde sie nie fliehen können, nicht auf Dauer.
Es war eine Flucht ohne Aussicht, ohne Ziel, ohne den lang ersehnten Frieden.

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