TSoH - Das wahre Potenzial

Der kalte Wind fiel sie an wie ein Raubtier, zerrte an ihr, nagte an jedem Stück Haut, das frei lag. Sie biss trotzig die Zähne zusammen und stemmte sich den Felsvorsprung hoch. Erleichtert atmete sie ein, ihre Lungen brannten. Die Kälte war nicht gnädig mit ihr, aber das war sie mit niemandem.

Snädis blickte zurück, erlaubte sich über den Abgrund zu sehen, den Weg hinab, den sie bereits hinter sich hatte. Es war eine schwindelerregende Höhe. Unter ihr wartete der Tod. Und nicht einmal die Hälfte des Weges war geschafft.

Unbeirrt drehte sie sich um und schlich weiter. Snädis war vorsichtig, wusste sie doch genau was sie wollte und welche Gefahren auf dem Weg dorthin lauerten. Sie musste den Berg erklimmen und wieder hinabsteigen und dabei möglichst nicht sterben, entschlossen fletschte sie die Zähne. In der Theorie klang das so einfach.

Ein hoher Schrei ließ sie innehalten. Es klang wie Wind, der durch Felsen heulte. Wie ein Sturm, der einen morschen Baum zum Stöhnen brachte. Und doch.

Snädis war nicht besonders groß und duckte sich nun zusätzlich tiefer in die Schatten hinein, ehe sie weiter im Schutz der Felsen voranschlich. Das Jammern wiederholte sich, laut und klagend. Sie presste sich an den Stein hinter ihr und war froh um ihre schwarzen Haare und die dunklen Sachen, die es schwer machen würden sie zu sehen.

Die Felswand in ihrem Rücken senkte sich ab und gab den Blick auf ein weites, karges Feld frei. Der Wind hatte ein paar einsame Bäume unter seinen Klauen zu grotesk anmutenden Gestalten verformt, dazwischen wiegte nur farbloses, langes Gras. Erneut dieses Geräusch, dieses Klagen, es jagte Snädis einen eiskalten Schauer über den Rücken. Wachsam sah sie über die Ebene, versuchte irgendetwas da draußen zu erkennen.

Ein Blinzeln und plötzlich war sie da, eine Kreatur wie aus Alpträumen. Der lange, schlanke Körper war wie gemacht für die Jagd, der keilförmige, weiße Kopf erinnerte sie an eine Totenmaske. Sein rostbraunes, langes Fell wurde vom heulenden Wind zerzaust, während die stechenden Augen des Monsters die Wolken musterten und es feindselig die Zähne bleckte.

Ein weiteres, hohes Winseln hallte über die Ebene. Ein Fetzen des Himmels fiel hinab. Dann explodierte die Welt in Kampf und Blut.

Sie verkeilten sich ineinander, die langen, stromlinienförmigen Leiber umeinandergeschlungen. Ihr Fell, gewittergrau und rostbraun, riss unter ihren langen Krallen und ihre nadelspitzen Zähne gruben sich schnell und brutal in ihr Fleisch.

Das Mädchen schluckte. Das waren Leviathane. Riesige Monster, die der Kälte und der Schwerkraft trotzten. Sie schrien wie verlassene Kinder oder trauernde Mütter, jammerten wie verstoßene Männer und verschlangen ihre Opfer schnell und brutal.

Sie rangen und keiften, hieben mit schnellen Klauen nach den Augen ihres Gegners, verknäult wie ein Haufen Seile. Unentwirrbar. Gnadenlos schlugen sie aufeinander ein. Die braune Kreatur taumelte. In dieser Sekunde schoss das spitze Maul seines Gegners vor. Er umfasste seinen Schädel, biss zu. Ein lautes Bersten verkündete das Ende des Kampfes. Snädis drückte sich noch tiefer in ihr Versteck.

Der Leviathan fiel leblos zu Boden, das rotbraune Fell durchsickert mit Blut, sein Schädel geknackt wie eine Nuss.

Triumphierend warf der Gewinner seinen Kopf zurück und begann wehleidig zu schreien. Die Kreatur klang fast als würde sie trauern. Schnell wie ein Sturm war sie wieder in der Luft, ließ sich von den Strömungen des Windes tragen und verschwand erneut in der dicken Wolkendecke.

Snädis atmete langsam aus. Ein Zusammentreffen mit Leviathanen überlebten die meisten ihres Alters nicht. Und erst Recht beobachtete niemand einen Kampf zwischen solchen Monstern.

‚Vielleicht sollte ich doch umkehren.' Sie war erst fünfzehn Jahre alt und ganz allein hier draußen.

Die Länder des Nordens wurden von Monstern und Alpträumen regiert. Nicht viele Menschen überlebten die kurzen Sommer und die unendlichen langen Nächte des Winters. Nicht alle schliff der kalte Wind zu strahlenden, harten Diamanten. Viele sagten, dass es nur sie und ihres gleichen für immer dort oben aushalten würden. Schattenläufer. Sie waren anmutig und gnadenlos. All das was ihre Welt von ihnen abverlangte, aber sie war noch eine Schülerin. Sie war noch nicht so weit um hier draußen allein zu überleben.

Snädis beobachtete noch immer den Himmel. Es war klüger etwas länger zu warten, als vorzustürmen. Das wäre genau das was Tzara ihr raten würde. Der Gedanke an ihre Mentorin machte Snädis unruhig. Sie würde nicht wollen, dass sie hier oben war. Es war gut, dass Tzara hiervon nichts wusste.

Abwartend taxierten die blauen Augen des Mädchens die karge Landschaft vor ihr und schweiften dann zum Gipfel, der noch in so weiter Ferne lag.

Das was sie vorhatte war Wahnsinn. Reiner Selbstmord. Sie musste das nicht tun. Ja. Sie sollte umdrehen und wieder hinabsteigen. Nach Hause zurückkehren, bevor sie gefressen wurde, bevor sie abstürzte und sich ihr Genick brach oder – noch schlimmer – abstürzte und sich ihre Gliedmaßen zerschmetterte um dann gelähmt auf den Tod durch die bittere Kälte zu warten.

Nein. Sie sollte auf jeden Fall umkehren.

Snädis atmete tief durch, ihr Blick noch immer auf den Gipfel geheftet. Er erschien ihr so greifbar nah. Ihr Hals kratzte, als sie schluckte. Leise und vorsichtig schritt sie voran und machte sich bereit für den weiteren Aufstieg, ihr Herz flatterte vor Aufregung in ihrer Brust.

Sie musste es tun, nicht für die anderen, nur für sich selbst. Aufzugeben und Umzukehren, dass könnte Snädis sich selbst nie verzeihen.

Allein der Gedanke an das herablassende Lächeln ihrer Mutter befeuerte sie mit neuer Energie. Ein Windstoß ließ ihr die Kälte durch Mark und Bein fahren und sie erschauderte. Doch sie hatte schon schlimmeres durchgestanden.

Ein winziger Pfad, nur spärlich abgegrenzt mit einem morschen Handlauf, zeigte ihr den Weg. Snädis' Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, doch die junge Schattenläuferin ging unbeirrt weiter.

„Ich schaffe das", sagte sie leise zu sich selbst, „Ich kehre nicht um."

Mutig schritt sie weiter, selbst als ein weiteres Heulen die Luft durchschnitt. Ihre Hände zuckten zu dem Dolch den sie mitgenommen hatte.

„Ich werde hier oben nicht sterben." Ihr leises Flüstern wurde vom Wind davongerissen, fort in die Kälte, hin zu den Kreaturen.

Der Schrei war so herzzerreißend wie das geklagte Leid eines unschuldigen Wesens. Snädis fragte sich ob jemand über sie weinen würde.

Trauer ließen Schattenläufer nur zu besonderen Anlässen zu. Es war ein Luxus für die, die noch fühlen konnten. Vielleicht würde ihr Bruder sie betrauern, wenn sie hier draußen starb. Ihre Eltern hingegen waren zu tief gefangen in ihrer Macht um so etwas Banales zu fühlen.

Während ihre Mutter Schneestürme und Kälte beschwören konnte, so stark und gewaltig wie die Natur selbst, versank ihr Vater in der Dunkelheit, die er erschuf. Sie zogen förmlich Licht und Wärme aus allen Räumen, die sie betraten. Die Gelehrten sagten, dass es seit Jahrhunderten keine Beschwörer mehr gegeben hatte, die so mächtig waren wie ihre Eltern.

Umso enttäuschender war es für Rayk und Runa, dass ihre Kinder absolut unbeschenkt waren.

Unbeschenkt. Ungesegnet. Ungewollt.

Das Wetter schlug um. Der Wind fachte an und der Himmel senkte sich auf Snädis hinab. Die dichten Wolken schmiegte sich wie eine Decke an sie und eine unangenehme Nässe legte sich auf ihre Kleidung. Die Kälte war unerträglich.

Die Frage warum sie nicht so war wie ihre Eltern verfolgte sie schon ihr ganzes Leben lang. Warum sie keine Eiskristalle mit einem Fingerzeig beschwören konnte oder die Dunkelheit zu ihrem Willen zu formen vermochte. Das einzige zudem sie fähig war, war ihr absolut Bestes zu geben, aber das war nicht genug, das würde nie genug sein. Es war egal wie glücklich ihre Mentorin über all ihre Fortschritte war ihre Mutter und ihren Vater stellte so etwas nicht zufrieden.

Der Pfad war durch den Nebel kaum noch zu erkennen und mit jedem Meter schien er schmaler zu werden. Ein falscher Schritt und sie wäre tot. Snädis wusste, dass es ein unendlicher Fall war. Nebel und Stein wären das Letzte was sie sehen würde.

„Ich werde nicht sterben. Ich bin ein Schattenläufer."

Ein heller Schrei ließ sie zusammenzucken. Er war nah, viel zu nah. Ein Schauer purer Angst erfasste sie.

Snädis konnte nichts sehen, doch sie spürte wie die Gefahr näherkam. Den Ausweichschritt zur Seite machte sie im genau richtigen Moment. Neben ihr krachte ein riesiger Körper in den blanken Stein, die Klauen rissen riesige Stücke aus dem Berg.

Flink und grazil lief sie den schwindelerregenden Weg entlang, immer der steilen Wand folgend. Ihre Stiefel machten kaum ein Geräusch auf dem abschüssigen Boden, während sie sie schnurgerade aufsetzte.

Der Leviathan verfolgte sie, diese Kreaturen waren schnell, aber Schattenläufer waren schneller.

Zähne schnappten nach ihren fliehenden Füßen. Klauen schlugen nach ihrem Kopf, sie wich ihnen mit kurzen, schwindelerregenden Sprüngen aus. Steine rutschten unter ihren Füßen weg, hinab in die unendliche Tiefe.

Aber sie würde nicht fallen. Nicht abstürzen. Dafür war Snädis zu weit gekommen.

Der warme Atem des Monsters in ihrem Nacken war so unglaublich nah. Der Hauch der zusammenschlagenden Zähne an ihrem Hals, kurz bevor sie zum Sprung über eine Spalte ansetzte, war besser als jeder Rausch und als sie ihre Fingernägel tief in die Steinwand direkt neben sich schlug um sich mit genug Kraft herumzuziehen, weg von dem tödlichen Abgrund in dem der Bergpfad endete, fühlte sie sich so lebendig wie noch nie.

Vor ihr, kahl und öde, lag ein kurzer Anstieg aus schwarzem Stein. Nebel fegte in Fetzen darüber hinweg, doch in der Ferne konnte sie es sehen, nur ganz leicht dunkler als der Fels. Eine Höhle.

Sie stürmte voran. Der Boden flog nur so unter ihren Füßen hinweg und Snädis war so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Die eiskalte Luft füllte ihre Lungen mit jedem Atemzug und ihr Herz schlug hart und wild gegen ihre Rippen.

Gleich hätte sie es geschafft!

Ein Ruck ging durch ihren Körper, ihre Füße wurden ihr mit einer ungeheuren Macht weggerissen.

Sie stürzte, hatte nur wenige Sekunden sich richtig zu drehen. Elegant rollte sie sich ab. Kleine, harte Steine bohrten sich in ihren Rücken, aber das würde sie nicht aufhalten.

Bevor sie sich wieder hochdrücken konnte, traf sie ein weiterer Hieb und schleuderte die junge Schattenläuferin zu Boden.

Der Schmerz raubte ihr den Atem und kurz wurde ihr schwarz vor Augen, als ihr Hinterkopf hart auf dem Stein aufkam. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Schädel dröhnte, ihre Rippen brannten.

Snädis rang nach Luft, jeder Atemzug eine reine Qual. Lautes Weinen hallte über sie hinweg und alles war vergessen.

Erneut spürte sie es, diese Präsenz, diese Gefahr. Sie drehte sich zur Seite, als etwas aus dem Nebel nach ihr schlug. Ihre Hand war am Dolch noch bevor sie es richtig realisiert hatte und das matt glänzende Metall versank mühelos in der Pranke des Leviathans.

Diesmal schrie die Bestie. Es war kein Jammern, kein Weinen, es war ein wahrhafter Schrei, laut und widerlich wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel.

Mit zusammengebissenen Zähnen sprang die Schattenläuferin auf die Beine und setzte zu einem letzten Sprint an.

Sie musste nur zwischen die Felswände gelangen. Geschützt in dieser Enge hatte sie eine Chance gegen den Leviathan. Dort brachte ihm seine Wendigkeit nichts und seine Größe würde zu seinem Verhängnis werden.

Vielleicht würde er gar das Interesse an seiner wehrhaften Beute verlieren.

Fauchend und knurrend setzte die Kreatur ihr nach. Snädis Finger umklammerten immer noch den Dolch, bereit nach dem Monster zu schlagen, sollte es ihr zu nahekommen.

Mit drei letzten, langen Schritten erreichte sie die Höhle. Kahle Steinwände empfingen sie mit ihrer schützenden Finsternis. Kampfbereit wandte sie sich dem Eingang zu.

Den Dolch in ihrer Hand spürte sie kaum noch, so taub waren ihre Finger.

Das graue Monster fixierte sie und die Höhle misstrauisch. Das Geräusch das es ausstieß war kein richtiges Knurren, sondern klang eher wie das Fiepen eines Katzenwelpen. Die winzigen, hellgelben Augen, eingerahmt durch die Maske weißen Fells huschten suchend umher. Aber es gab keinen schlauen Winkel anzugreifen. Keinen Weg, wie er seine schlangengleiche Geschwindigkeit nutzen konnte, um die Schattenläuferin von der Seite anzugreifen.

„Gib auf", fauchte sie drohend.

Der Leviathan spannte sich an und sprang vor. Snädis riss ihren Dolch hoch.

Ein markerschütternder Schrei schallte durch den engen Gang und hallte irgendwo weit hinter der Schattenläuferin nach.

Sie starrte mit großen Augen auf die magische Barriere direkt vor ihr. Hellgrüne Blitze bildeten eine verzweigte Wand zwischen Snädis und der Bestie. Der Leviathan winselte verwirrt, ehe er sich geschlagen umdrehte und im Nebel verschwand.

Eine halbe Minute verging, dann eine ganze. Langsam ließ sie ihre Kampfhaltung fallen. Sie atmete einmal durch. Dann noch einmal.

Ihre Hände zitterten. Sie hatte die Begegnung mit einem Leviathan überlebt. Mit einem riesigen, mordenden Monster, das Köpfe wie Nüsse knackte und jährlich dutzende, ausgewachsene Schattenläufer tötete.

Die Wände der Höhle fingen sie auf, als sie sich keuchend gegen sie lehnte.

‚Es ist alles gut. Ich habe es geschafft. Ich lebe.'

Aber so ganz wollte diese Nachricht nicht in jede Zelle ihres Körpers durchdringen. Nur widerwillig löste sich der Dolch aus ihren tauben Fingern und selbst danach konnte sie sich kaum aus ihrer Verkrampfung lösen.

„Reiß dich zusammen", knurrte sie sich tadelnd an, „Du musst weiter."

Ihre Finger tasteten nach der Waffe und steckten sie zurück an ihren Platz, danach fühlte sie kurz nach ihren schmerzenden Rippen. Sie schienen stabil, nicht gebrochen, vielleicht leicht angeknackst, aber nicht mehr.

Einige schwarze Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten an ihrer schweißnassen Stirn. Keuchend versuchte Snädis sie wieder zusammen zu nehmen. Irgendetwas an ihrem Hinterkopf brannte.

Als sie das Band aus ihren langen Haaren gewunden hatte und nach der Ursache des Schmerzes tastete, fühlte sie plötzlich warme Nässe.

Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und fand ihre Finger rot vor Blut vor.

Sie fluchte lautlos. Jetzt wo sie sich darauf konzentrierte, spürte sie auch die Wärme in ihrem Nacken. Kopfplatzwunden waren eine unglaublich nervige Angelegenheit. Sie sahen schlimm aus und bluteten wie Sau, aber wenn es nichts Ernstes war, war es mehr Schauspiel als alles andere. Da ihr weder schlecht noch schwindelig war entschied sie kurzerhand, dass sie keine Gehirnerschütterung hatte und weiterkonnte. Sie war zu nah an ihrem Ziel um umzukehren, die magische Barriere, die sie gerettet hatte, war der Beweis.

Zielgerichtet sammelte Snädis alle Strähnen zusammen die lang genug waren und drehte sie vor ihrer Wunde zu einem provisorischen Verband zusammen, indem sie sie verfilzte.

Mit etwas Geduld würde sie das wieder lösen können. Oder sie schnitt sich einfach die Haare kurz. Halbwegs zufrieden mit ihrer Arbeit schlich sie tiefer in die Höhle hinein.

Das war es also. Das war ihr Ziel.

Die Finsternis empfing Snädis wie eine alte Freundin. Schattenläufer konnten im Dunklen sehen, aber diese Höhle wurde bereits nach so kurzer Zeit so finster, dass sie ihre Augen wirklich anstrengen musste um etwas zu erkennen. Die bedrückende Schwärze verschluckte sie ganz, der Tunnel wurde immer enger und enger, sodass sie bald kriechen musste.

Skeptisch sah sie sich immer wieder in der leblosen Höhle um. Ein Quieken und das Rascheln von Fell ließ sie zusammenfahren. Direkt neben ihr huschten ein halbes Dutzend Ratten, halb so groß wie Katzen entlang.

Snädis verzog angewidert das Gesicht.

‚Beiß die Zähne zusammen. Halt durch. Gib nicht auf. Du bist gleich da.'

Mit einem Stöhnen drückte sie sich die letzten Meter voran. Irgendwo vor ihr glomm ein leichtes Licht und darauf hielt sie zu. Der Gang spuckte sie förmlich aus und atemlos landete sie in einem Hohlraum.

Staunend erhob sie sich. Vor ihr lag eine gewaltige Höhle. Schwach leuchtende Kristalle sprenkelten die Wände, vollbehangen mit Fellen, Häuten und Schuppenschmuck.

Auf einem Holzgestell hingen die Gedärme und Schwänze von Ratten, daneben stand ein riesiger, bleierner Kessel. Die ganze Szenerie wurde beleuchtet von einem schummrigen, giftgrünen Licht, ausgehend von dem Teich in der Mitte der Höhle. Unsicher schlich sie durch die Szenerie.

Das war es also. Das war ihr Ziel.

Der grüne Teich blubberte verdächtig und Snädis hielt vorsichtshalber Abstand. Im schummrigen Licht sah sie eine kleine Insel im Wasser, von der sich riesige, dunkle Ranken umeinander in die Höhe schraubten.

Dem bizarren Baum schenkte sie nur kurz Aufmerksamkeit ehe sie sich nach den leuchtenden Wänden und den merkwürdigen Zeichen auf den Fellen umblickte.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, je länger sie durch diese bizarre Höhle wanderte. Sie hatte es geschafft. Das war ihr Ziel. Jetzt war eine gute Zeit umzukehren.

Snädis wurde auf einmal eiskalt, eine Gänsehaut ergriff sie und die Verletzung an ihrem Hinterkopf begann unangenehm zu schmerzen.

Ein knarzendes Geräusch hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Vor Schreck hielt sie den Atem an, ihre Hand fuhr erneut zu ihrer Waffe.

Schwarze, leere Augenhöhlen starrten ihr aus einem Gesicht gemacht aus tausenden, verzweigten Ranken entgegen. Es war der Baum. Er hatte sich zu ihr gebeugt. Knorrige Äste streckten sich ihr wie Arme entgegen, winzige Dornen wie Fingernägel in ihre Richtung gebeugt.

Der Mund der Kreatur war zu einer abwartenden Miene verzogen, während sie die Schattenläuferin lautlos niederstarrte.

Ein Schauer jagte über Snädis Rücken doch der Moment der Überraschung war schnell vergangen. Sie schluckte und ihr Herz raste, aber sie sah dem Monster unerschüttert entgegen.

„Mein Name ist Snädis von den Kalten Wassern! Und ich bin hier um..."

„Ich weiß weswegen du hier bist." Ihre Stimme knisterte und knackte wie verbrennendes Holz in einem Lagerfeuer, sie kratzte und knarzte wie ein morscher Baum im Sturm. „Die Schattenläufer kamen schon immer hierher und begehrten was du begehrst."

Der Baum beugte sich zurück. Der gesamte Korpus aus Holz und Klauen wurde zurückgezogen auf die Insel im giftgrünen Teich.

„Sie wollen alle das Gleiche. Und ich gebe ihnen allen das Gleiche."

Snädis trat neugierig einige Schritte auf die Hexe in ihrem Teich zu und blickte ihr mit einer Mischung aus Unbehagen und Faszination in ihre leeren, schwarzen Augenhöhlen.

„Und du bist auch deswegen hier. Genau wie deine Mutter vor dir."

Snädis hatte davon gehört, dass Runa einst auf diesen Berg gestiegen war, um nach noch mehr Macht zu verlangen. Dabei hatte sie schon damals ihre Kräfte so gut beherrscht wie niemand vor ihr. Während sie selbst halbwegs gutes Wetter abgewartet hatte, war ihre Mutter in einem heulenden Schneesturm aufgebrochen. Snädis' Kiefer spannte sich bei dem Gedanken an. Runa musste sich noch nie Sorgen um so etwas wie die Witterung machen. Sie konnte das Eis unter ihrem Willen beugen, konnte einen warmen Sommerschauer in einen verheerenden Hagelsturm verwandeln und die Herzen ihrer Gegner zu Eis werden lassen, ohne sie zu berühren.

Und sie konnte noch mehr. Etwas was zu banal war, um es als wahre Kunst zu betrachten, da es jede Mutter konnte. Runa beherrschte die Fähigkeit mit einem einzigen Blick Snädis absolut Bewegungsunfähig zu machen, mit einem einzigen Wort ihr die Luft zu rauben und mit einem einzigen missbilligenden Zucken ihres Mundes, ihre Tochter wünschen zu lassen, dass sie nach ihrer Geburt gestorben wäre.

Egal wie hart sie trainierte, egal wie schwer sie arbeitete und egal was sie auch machte, es war niemals genug um sie zufrieden zu stellen. Es war niemals genug um großartig und überragend zu sein.

In den Augen ihrer Mutter würde sie immer ungenügend sein.

Die Hexe bewegte sich, ihre Ästen knarzten.

„Ich kann kein Wissen geben das niemand kennt. Ich kann keine Toten ins Leben zurückreißen und keine Krankheiten heilen.

Aber ich kann dir etwas geben. Eine Kraft aus dir selbst heraus. Ich schenke dir dein volles Potential, die reifen Früchte langer Arbeit. Alles was du jemals sein kannst."

Snädis schluckte. Das war es, was sie wollte. „Alles was ich jemals sein kann", wiederholte sie und trat noch etwas näher.

„Viele Menschen leben und sterben einfach ohne jemals ihr ganzes Potential zu finden. Sie stürzen sich in verschiedene Leidenschaften, erreichen das Plateau ihres Könnens, doch niemals ihren wahren Höhepunkt. Sie arbeiten doch es wird nie mehr. Es wird nie alles. Nie perfekt. Immer hält sie etwas zurück, doch ich eröffne dir die Möglichkeit deines ganzen Könnens."

Snädis trat immer näher, angelockt von den Worten der Hexe, die ihr so viel Versprach, all diese Versprechungen, all diese Möglichkeiten. Doch sie hielt inne.

Der Baum beugte sich wieder etwas zu ihr, die klauenbesetzten Finger fragend nach ihr ausgestreckt.

„Zögerst du?" Sie klang beleidigt.

Snädis seufzte resignierend. Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. „Ist es nicht egal was ich tue? Mein Potenzial mag in mir schlummern, aber egal was ich tue, ich werde niemals über Magie verfügen." Niemals. Und das wusste sie. Das wusste sie auch als sie begonnen hatte den Berg zu erklimmen. Sie hatte es dennoch getan, wollte sich dennoch beweisen. Sie hatte es einfach nur schaffen wollen.

„Wirklich nicht?" Die Hexe griff aus der Luft blankes Licht und tauchte es in das giftgrüne Wasser vor ihr, als sie ihre Hand wieder hob, hielt sie einen glühenden Orb in ihr. Snädis betrachtete staunend die leuchtende Energie in den Fingern der Hexe. Beim näheren Hinsehen glich der leuchtende Ball einer Schneekugel, ein winziger Sturm weißer Flocken tanzte um eine Figur herum, die wie Snädis aussah.

Ein heller Lichtblitz blendete sie. Dann stand sie plötzlich stolz und gerade auf freiem Feld, die Arme ausgestreckt als würde sie ein Orchester dirigieren. Energie schoss durch ihren Körper, von ihrem Herzen, über ihre Schultern, ihre Arme entlang und dann ihre Finger hinab. Der Schneesturm um sie herum war der Ihre und alles in dieser erstarrten Welt hörte auf sie. Es war ein Tanz aus Kristallen, funkelnd und glitzernd und jede Schneeflocke war so absolut perfekt wie Snädis selbst. Während die Welt um sie herum unter ihrer unglaublichen, berauschenden Macht erstarrte, war ihr so warm wie schon lange nicht mehr.

Mit einem energischen Kopfschütteln befreite sie sich von der Vision. Die Wirklichkeit holte sie mit einem unangenehmen Schlag zurück und das Versprechen dieser Macht hing noch immer in ihren Gedanken wie klebrige Spinnweben.

„Aber...", murmelte sie und versuchte erneut zurückzuweichen. Sie schaffte es kaum, alles in ihrem Körper zog sie vor, zu diesem unheimlichen Versprechen. „Aber das geht nicht...Magie wird..."

„Magie wird verschenkt", wisperte die Hexe und Snädis wusste, dass sie Recht hatte. Mit dieser schlichten, undankbaren Wahrheit war sie aufgewachsen. Einige beherrschten die Elemente, anderen blieb es verwehrt. „Wie ungerecht dies doch ist. Ein paar Auserwählte bekommen einfach diese Gabe in ihre Wiege gelegt und Menschen wie du nicht." Sie hielt ihre Klaue mit der Magiekugel höher, „Es ist nur ein Ausgleich. Eine Richtigstellung. Auch ein Geschenk. Nur für dich."

„Nur für mich", murmelte sie.

„Viele von deinen Leuten kommen hierher und verlangen das Geschenk ihres Potenzials. So viele bitten mich darum. Deine Mutter."

Snädis ging noch einen halben Schritt näher. Es war doch nur gerecht. Es stand ihr zu!

„Deine Mentorin."

Das Wort ließ sie zurückschrecken. Zweifelnd sah sie auf in das dunkle Gesicht der Hexe.

„Tzara war hier?"

Die Hexe schien beleidigt, dass die Schattenläuferin ihre Worte infrage stellte. Snädis wusste, dass Kreaturen wie die vor ihr nicht lügen konnten, aber dass ihre kühle, vorsichtige Mentorin wirklich hier hinaufgeklettert war, konnte sie sich nicht vorstellen.

Dass sie sich, wie Snädis jetzt, in diese dunkle Höhle begeben, genau wie sie den verführerischen Worten der Hexe gelauscht und dann...zugegriffen hatte.

Bei Runa war es hingegen sogar ziemlich leicht es sich genau auszumalen. Ihre Mutter würde niemals die Gelegenheit an mehr Macht zu kommen, ausschlagen. Sie würde immer zugreifen, ihre hellblauen Augen würden leuchten wie Eis und um ihren Mund würde ein kaltes, grausames Lächeln spielen, so wie Snädis es gewohnt war. Aber Tzara?

Damals, als ihre Mutter noch geglaubt hatte, dass ihre Tochter begabt war, wie sie, hatte sie ihre beste Freundin als Mentorin für ihr Kind erkoren. Auch Tzara konnte Schneestürme beschwören und Eis zu ihrem Willen formen, aber niemals hatte sie Snädis so behandelt, wie Runa es getan hatte.

Der Regen fiel in kalten Kaskaden zu Boden, jeder Tropfen hart und schmerzhaft, wenn er auf ihrem Körper auftraf. Ihre schwarzen Haare hingen ihr in dicken, verklebten Strähnen vom Kopf. Sie hatte schon längst vergessen, was es hieß trocken zu sein.

Ihre Haut war überhitzt, das kalte Wasser des Himmels vermischte sich mit ihrem Schweiß und dem Blut, das ihr ihren Arm und ihrem Bein entlanglief.

Mit gefletschten Zähnen sah sie auf, blinzelte genervt Regentropfen aus ihren Augen.

Tzara sah ihr besorgt entgegen und betrachtete aufmerksam den Körper ihrer Schülerin. „Wir können aufhören und morgen weitermachen. Drinnen ist es warm und trocken", meinte sie gutmütig.

Snädis spürte wie ihr Herz schneller schlug. „Das war noch nicht gut genug."

Sie lächelte, ihre Augen leuchteten zufrieden, „Ich bin so stolz darauf, dass du niemals aufgibst."

Damals, kurz nachdem sich herausgestellt hatte, dass Snädis unbeschenkt war, hatte Runa Tzara angeboten ihr Amt als Lehrerin niederzulegen. Schließlich konnte man es ihr, einer der stärksten Beschwörerinnen unter Runa, nicht zumuten weiter so jemanden wie sie zu unterrichten. Jemand so unwürdigen. Doch Tzara hatte das Angebot abgelehnt. Schon damals hatte Snädis mehr Zeit bei ihrer Mentorin verbracht, als bei ihrer leiblichen Familie.

Aber das...

Hatte sie sich ihre ganze Kraft – ihr ganzes Potential – schenken lassen? Das klang so verwerflich. Viel zu sehr nach einer Frau, die sie nicht kannte. Snädis hatte sich davongeschlichen, hatte niemandem von ihrem Vorhaben erzählt, weil sie genau wusste, dass Tzara sie suchen würde, dass sie es nicht gutheißen würde.

Und sie sollte selbst hier gestanden haben?

Die Frau, die ihr so viel beigebracht hatte? Die sich um sie gekümmert hatte, als sie krank war, sie getröstet hatte, wenn sie von Alpträumen aufgeschreckt war und die ihr immer wieder gesagt hatte, dass sie so stolz auf sie war?

„So viele Schattenläufer wollen ihr wahres Potenzial haben", gurrte die Hexe.

Snädis sah ihr misstrauisch entgegen. Hatte dieses ‚Geschenk' eben noch eine gefährliche, verbotene Aura umgeben, die sie nicht ergreifen wollte, schien es nun viel...zugänglicher.

Selbst Tzara war hier gewesen. Die Frau, der sie mehr vertraute als jedem anderen auf der Welt. Aber dass sie dieses Angebot angenommen hatte...

Andererseits – hieß das nicht, dass das Geschenk vielleicht doch nicht so schlimm war?

„Willst du nicht auch diese unglaubliche Macht spüren?" Ihr Wispern klang in etwas in der Schülerin an. Tausende Stimmen entfalteten sich wie Blumen in ihrem Kopf und redeten leise und verführerisch auf sie ein. Es war wie ein Summen, ein Singen.

‚Greif zu' – ‚Nimm es an' – ‚Gib nach'

Verwirrt schüttelte Snädis ihren Kopf, versuchte sich von der Verlockung zu befreien. Mühsam hob sich ihr Verstand aus dem Morast dieser wirren Gedanken.

„Wie viel...", ihre Stimme brach unter den tausenden von Stimmen, die sie selbst beim normalen Sprechen unterbrechen wollten. Energisch wehrte sie sich gegen sie.

„Wie viel willst du?" Nun klang sie entschlossen und unerschrocken blickte sie in die seelenlosen Augenhöhlen ihres Gegenübers.

Die Hexe schwieg und Snädis befürchtete, dass sie sie doch nicht gehört hatte.

„Wie hoch ist die Bezahlung? Wie viel willst du für dein Geschenk?"

Die Ranken des Baumes begannen zu erzittern und er bewegte sich in einem Wind, der nicht da war.

„Was kann ich schon wollen? Einen Gefallen."

Die Stimmen wurden erneut lauter.

„Einen Gefallen? Wie soll der denn aussehen?"

‚Frag nicht' – ‚Greif zu'

Snädis schüttelte vehement ihren Kopf, als wolle sie eine lästige Fliege vertreiben. Die Hexe schien äußerst unzufrieden mit ihrer widerspenstigen Verhandlungspartnerin.

„Einen Gefallen eben!", herrschte sie die Schattenläuferin an. „Wie weit er geht muss ich sehen", meinte sie dann milder und streckte versöhnlich ihre Klauen nach Snädis aus, „Dein Potenzial muss sich schließlich erst voll entfalten und dann...werde ich eben einen kleinen Gefallen einfordern."

Sie wich misstrauisch zurück, „Ach ja?"

‚Geh nicht' – ‚Bleib' – ‚Alles was du je wolltest ist so nah! Greif endlich zu!'

„Das ist das Gleiche was ich von euch allen verlange. Auch von deiner Mutter und deiner Mentorin."

Tzara hatte den Preis anscheinend auch bezahlt, also konnte sie das doch auch tun! Aber Snädis trat nicht mehr näher an die Kreatur heran, wie die Stimmen es laut und leise in ihrem Kopf verlangten.

„Ich weiß nicht Recht. Eigentlich bin ich hier hinaufgeklettert um zu sehen ob ich es schaffe. Ich wollte herausfinden, ob ich allein den Gefahren der Wildnis trotzen kann. Und das kann ich. Eventuell brauche ich das gar nicht. Vielleicht kann ich..."

Ein brennend heißer Schlag aus Schmerz zuckte durch die Wunde an ihrem Hinterkopf. Sie hatte keine Luft mehr zum Schreien und auch keine mehr zum Atmen.

‚Warum wehrst du dich so?'

Sie schreckte zusammen, wirbelte herum zu der Stimme, die sie gerufen hatte. Snädis stand in einem Wald, die Bäume Schwarz von der Sternenlosen Nacht. Der Schnee um sie bildete einen unheimlichen Kontrast zur Dunkelheit.

Sie war hier schon einmal gewesen. In einem ihrer Alpträume...

Über ihr schlugen die Äste wie Knochen zusammen. Schatten huschten an ihr vorbei. Unförmig, dunkel, bedrohlich. Schnelle, tödliche Bestien. Der Wind fauchte durch die Finsternis und trieb ihr kleine, beißende Schneeflocken ins Gesicht.

‚Du musst dich nicht so wehren.' Etwas fiel sie an. Klauen bohrten sich schmerzhaft in ihre Schultern, zogen an ihrer Kleidung. Snädis versuchte das Gewicht abzuwerfen, sie griff nach ihren Waffen. Zähne zogen an ihren Haaren und rissen ihren Kopf schmerzhaft zurück. Sie stürzte. Der Schnee empfing Snädis kalt und hart, knirschte leise unter ihrem Gewicht. Als sie nach ihrem Angreifer schlug, war da nichts mehr, sie wirbelte nur kleine Kristalle auf. Gehetzt blickte sie sich um, sprang auf. Sie ignorierte den Schmerz in ihrem Brustkorb. Der Wald war bewegter geworden. Schwarz und weiß und dazwischen die roten Splitter ihres Blutes im Schnee.

Es raschelte um sie herum. Hungrige Augen starrten sie aus der Dunkelheit heraus an.

‚Du solltest nachgeben.'

In ihrem Augenwinkel sah sie eine Bewegung. Schnee wirbelte um ihre Füße als sie versuchte sich schnell genug umzudrehen. Etwas duckte sich dort, bereit zum Sprung. Snädis wollte ausweichen, aber sie war nicht schnell genug. Hart traf sie das Gewicht ihres Angreifers. Die Luft entwich ihren Lungen, ihre Finger pochten unangenehm, aber sie durfte ihren Dolch nicht loslassen. Nicht nachgeben.

Sie biss die Zähne zusammen, als sie sich gegen den Schmerz auflehnte. Krallen zerfetzten ihre Kleidung und die Haut darunter. Zähne schnappten nach ihrem Gesicht, doch sie schaffte es noch rechtzeitig ihre Arme hochzureißen und die Kreatur zurückzudrücken. Die steinharten Muskeln der Bestie drückten sich unnachgiebig gegen Snädis. Der Griff der jungen Schattenläuferin wurde immer unsicherer. Sie stemmte sich gegen ihren Angreifer, versuchte den Dolch in ihren Händen zu drehen und sie der Bestie in den Hals zu rammen.

Ihre Füße versuchten Halt zu finden, doch rutschten im Schnee aus.

Snädis rang nach Atem. Die Waffe in ihren Fingern drehte sich endlich. Sie durfte nur nicht ihre Kraft verlieren. Musste die Klinge in ihrem Angreifer versenken.

‚Es gibt kein Entkommen.' Die Stimme kam von überall und nirgendwo. Der Griff des Messers wurde heiß. Ihre Hand brannte vor Schmerz. Sie durfte nicht loslassen, aber das war so unglaublich schwer.

Tränen schossen ihr in die Augen, doch ihre Konzentration blieb beim Festhalten, sie durfte nicht loslassen. Das Ziehen und Brennen breitete sich ihren ganzen Arm hinauf aus wie ein Lauffeuer. Ein gequältes Stöhnen entwich ihr, ihre Zähne noch immer aufeinandergepresst.

‚Du kannst nicht loslassen, oder? Du hast keine anderen Waffen, als diese. Du bist schwach im Angesicht der Grausamkeit dieser Welt. Unbegabt hast du keine Kraft. Du kannst dich nicht wehren.'

Der Schmerz wurde unerträglich, aber sie konnte nicht nachgeben. Die Kreatur drückte sie weiter zu Boden, schnappte wie wild nach ihrem Gesicht. Sie konnte nicht mehr aushalten. Ihr Angreifer brach ihre Abwehr. Silberglänzende Zähne zielten auf ihr Gesicht, bereit ihr ihre Augen herauszubeißen. Snädis ließ ihre Waffe los um sich zu schützen. Sie riss ihren Arm herum, versuchte ihre letzte Energie zu bündeln, um ihren Angreifer von ihrem Gesicht fernzuhalten.

Der beißende Schmerz wurde durch beruhigende Kühle ersetzt. Fauchend erhob sich der Schnee um sie in die Luft und ihrem Stoß folgte ein Sturm, der ihren Angreifer mit sich zerrte.

Unsicher erhob sie sich, ihre Beine zitternd, doch das Gefühl von Macht wärmte ihre Brust. Es war berauschend wie Alkohol und tödlich wie ein Gewittersturm. Sie wusste es. Das war es. Ihr wahres Potenzial. Eiskalte, scharfe Flocken stoben durch den dunklen Wald und umspielten sie als Zentrum. Snädis war in ihrem ganzen Leben noch nie so stark gewesen.

Die Bestie lag als grauer Schemen im Schnee, zusammengesunken und besiegt von der unglaublichen Kraft, die Snädis schon ihr ganzes Leben lang zugestanden hatte.

Ihre letzten Zweifel waren fort, als eine erneute Sturmbö durch die schwarzen Bäume wehte und das Feuer in ihr auflodern ließ. Das war sie. Sie war mächtig, sie war stark und sie war wichtig. Einmal akzeptiert, pulsierte die Kraft schwer und stetig durch ihre Adern. Der schneidende Schnee und die beißende Kälte beugten sich unter einem bloßen Fingerzeig von ihr und die junge Schattenläuferin war voller Euphorie, voller Rausch und voller Entschlossenheit. Sie stolzierte durch den kristallweißen Schnee, die schwarzen Bäume wichen vor ihr zurück.

Das war nicht mehr länger ihr Alptraum. Dies war ihr größter Triumph. Wer sollte sie jetzt noch aufhalten? Wer sollte sie nun noch kleinreden.

‚Es ist perfekt.' Der Gedanke hallte in ihrem Kopf immer und immer wieder. Sie wusste nicht einmal ob es ihr eigener war oder nicht.

Und irgendwie war ihr das auch vollkommen gleichgültig.

Jeder ihrer Schritte war lautlos denn jeder noch so kleine Eiskristall gehörte ihr. Snädis blieb vor dem Körper stehen und sah verachtend darauf hinab. Nichts konnte ihr etwas anhaben. Sie kostete das Gefühl des Sieges noch einmal völlig aus ehe sie sich hinabbeugte und nach der zusammengesunkenen Gestalt griff. Zähne und Klauen waren nur noch stumpf und machtlos, als die Gefahr angesichts von Snädis' Kräften verblasste.

Sie drehte den leblosen Leib herum. Die Luft war frostig und kratzte in ihrem Hals, als sie erschrocken einatmete. Das warme Gefühl in ihrem Brustkorb blieb, doch es war nun nicht mehr großartig und perfekt, sondern bereitete ihr Übelkeit.

Snädis wich zurück. Kalter Wind zerrte an ihrer Kleidung und der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Sie fühlte sich fiebrig und der Schweiß rann ihr den Rücken hinab, als sie atemlos auf ihre Mutter hinabblickte. Runas hellblauen Augen starrten blicklos in die Dunkelheit und ihr Stolz war gebrochen im Tod.

‚Du bist stärker als sie', versprachen ihr die Stimmen aus den Schatten.

Die Gefühle von Macht und Stärke verblassten und wich beklemmenden Zweifeln, die an ihrem Gewissen nagten.

„I-ich wollte das nicht. Ich..." Snädis hob ihren Kopf und sah auf zu den schwarzen Zweigen über ihr. „Ich...das bin ich nicht."

Sie stolperte zurück. Alles schwieg, die Kälte wurde zu einem großen, grausamen Tier, das still in der immer dichter werdenden Dunkelheit lauerte.

‚Hasst du sie nicht?'

Die Schattenläuferin wollte ihr empört antworten, doch die Worten verließen nicht ihre Lippen. Der Blitz aus Schmerz war eine Collage aus all den Dingen, die Runa ihr angetan hatte. Das Brennen in ihrem Brustkorb, wenn ihre Mutter ihr die Luft in den Lungen einfror bis sie ihr keine Widerworte mehr geben konnte. Wenn sie ihr das Blut im Körper herunterkühlte bis sich Snädis nur noch hilflos zusammenkauern konnte, wartend darauf, dass ihr endlich wieder warm wurde. Und das Schlimmste. Ihre kalten, bösen Worte voll Enttäuschung, wenn sie über ihre unvollkommene Tochter sprach.

Vielleicht war es gar nicht so falsch sich an Runa zu rächen. Vielleicht war es gar nicht so falsch sie auch einmal leiden zu lassen. Vielleicht war es gar nicht so falsch sie zu töten.

„Nein!" Ihre Hände vergruben sich tief in ihren schwarzen Haaren, sie hatte sich im Schnee zusammengekrümmt. Aber da war kein Schnee. Das war alles nicht echt.

„Nein!" Sie schüttelte so heftig ihren Kopf, dass ihr Schädel dröhnte. Aber sie wachte nicht auf.

Etwas hielt ihren Geist in seinen Klauen gefangen.

„Lass mich!" Es war nichts Körperliches, aber trotzdem wusste sie, dass sie stark genug war. Wie ein glitschiger Fisch entwand sie sich dem Griff um ihren Verstand.

Die Realität war unsanft zu ihr. Alles war viel klarer, als sie wiedererwachte. Ihre Sinne waren verwirrt wieder richtige Dinge zu fühlen. Das grüne Licht des Teiches schmerzte in ihren Augen, der Geruch nach Kräutern und Tod biss in ihrer Nase, die Stille des Nichts quälte ihre Ohren und aus unerfindlichen Gründen löste sich der Geschmack von Blut und Verwesung auf ihrer Zunge.

Sie hustete und selbst das war qualvoll.

Snädis' Augen gewöhnten sich wieder ans richtige Sehen. Der dunkle Baum vor ihr starrte sie mit leerer Miene an, doch sie meinte einen kurzen Ausdruck von Erwartung in ihrem Antlitz gesehen zu haben.

Nach Luft schnappend blinzelte die Schattenläuferin gegen ihre Verwirrung an.

Die Hexe hielt etwas vor ihr Gesicht. Es war ein Glühen. Undeutlich und schemenhaft verschwamm es in ihrer Sicht, als sie versuchte ihre Augen wieder scharf zu stellen.

Sie erinnerte sich wieder. Das war das Geschenk.

Ihr Kopf war schwer vor Schmerzen. „Ich..." Sie fühlte sich so unglaublich ausgelaugt.

„Willst du nicht dein wahres Potenzial entfalten? Nicht stärker als sie alle sein?"

Snädis blinzelte nur träge die kleine Kugel gefüllt mit Macht und Versprechen an. Es musste nicht so sein. Sie musste ihre Mutter nicht töten. Sie würde ihr nur ihren wahren Wert zeigen. Runa würde sie endlich respektieren und... Lieben?

Konnte sie das überhaupt...

„Ich..." Die Schattenläuferin fühlte sich wie betrunken, ihre Glieder und Gedanken waren schwer. Verwirrt streckte sie ihre Hand nach der pulsierenden Kraft aus.

Sie war tödlich und wunderschön. Wenn Snädis das nicht vergaß, würde sie diese Macht kontrollieren können, oder? Sie würde...endlich...das erreichen was sie wollte...

Ihre Finger verharrten.

Ihre Augen starrten nur still auf das Geschenk hinab.

Ihr Atem stockte...

„Snädis!"

Die Stimme hallte laut und klar durch die Höhle. Sie kam ihr vertraut vor. So vertraut. So sicher. Ein Gefühl von Wärme flutete ihren Körper, viel besser als Macht.

Die junge Schattenläuferin drehte sich um.

Tzara stand am Eingang der Höhle und sah zu ihr. Ihre kurzen, schwarzen Haare standen windzerzaust in alle Richtungen ab, ihre dunkelblauen Augen legten sich auf ihre Schülerin, ehe sie wütend die Hexe durchbohrten.

„Lass sie in Ruhe!" Tzaras Stimme war kalt und bestimmt trat sie vor.

Plötzlich kam Bewegung in die Kreatur vor Snädis. Sie spannte sich an, streckte ihre dutzenden Klauenartigen Arme aus. Ihr dunkler Mund öffnete sich und fauchte den Neuankömmling drohend an.

Mächtige Ranken fuhren aus dem Boden und schlugen nach Tzara. Sie wich ihnen geschickt aus. Innerhalb eines Wimpernschlages glänzte ein silberner Dolch in ihren Händen, der die Ranken wie Butter durchschnitt, welche kurz danach zu Asche zerfielen. Ein Zucken ihrer Finger und der Rest der Schlingpflanzen erstarrte sofort zu bewegungslosem Eis.

Eine Aura von Unbesiegbarkeit umgab sie, als sie weiter voranschritt.

Die Hexe bäumte sich auf, „Verschwinde, Tzara von den Kalten Wassern!"

Ein lautes Heulen klang durch die Höhle. Die Tierfelle bewegten sich. Innerhalb von Sekunden erwachten sie zum Leben, bäumten sich auf und fielen den Eindringling an. Tzara wich den ersten noch überrascht aus. Die silberne Klinge ihrer Waffe teilte auch diese Gegner. Die Fetzen fielen zu Boden, doch verbrannten nicht zu Staub, sondern rafften sich auf und griffen sie erneut an.

„Tzara..." Snädis sah besorgt dabei zu wie ihre Mentorin unter einem Ansturm aus lebendig gewordenen Häuten versank.

Es wurde still. Ein Herzschlag lang. Zwei.

Ein Sturm aus Eis und Kälte erfasste die Höhle. Ranken und magische Häute wurden zurückgeschleudert und landeten steifgefroren auf dem Boden. Tzara keuchte doch wirkte nicht im Geringsten müde. Ihre Macht pulsierte in steten Wellen um sie und erfüllte den ganzen Raum.

Das war es – ihr wahres Potenzial.

„Lass sie in Ruhe!"

Einer der Äste griff nach Snädis und drehte ihren Kopf wieder zur Hexe herum.

„Sieh her! Das ist deine Macht. Ergreife sie!"

Auf halbem Weg zu ihrer Schülerin wurde Tzara zurückgestoßen, ein unsichtbares Kraftfeld hielt sie auf.

„Snädis! Hör nicht auf sie!" Ihre Stimme war nicht so unerschüttert und fest wie sonst.

Das Geschenk leuchtete noch einmal auf, seine Schönheit das Versprechen von all den Dingen, die sie ihr ganzes Leben lang begehrt hatte.

„Das muss sie alleine entscheiden!", fauchte die Hexe, „Denk nur an all die Kraft die du haben kannst! Dein wahres Potenzial! Alles was du jemals sein kannst!"

„Alles was sie dir anbietet, kannst du auch alleine erreichen! Du brauchst keine Abkürzung!" Tzara schlug gegen die Barriere, die kurz aufleuchtete, aber sonst nicht nachgab.

„Du wirst mächtiger und stärker sein, als du dir je zu träumen gewagt hast!"

„Sie verführt dich nur, aber den Preis ist es nicht wert!"

Snädis sah über ihre Schulter zu ihrer Mentorin, dann wieder entschlossen in die kalten, leeren Augenhöhlen der Hexe.

„Das wahre Potenzial. Alles was du dir je gewünscht hast, Snädis von den Kalten Wassern!"

Ihr Name erinnerte sie an etwas. Etwas was das glühende Blau in den Klauen der Hexe fast verdrängt hatte. Aber das änderte nichts daran, dass sie Recht hatte. Sie war schwach und das in ihren Händen alles was sie jemals gewollt hatte. Und Tzara...auch sie war hier gewesen. Auch sie hatte nach einer Abkürzung gesucht. Wenn ihre Mutter die Verkörperung von Zerstörung durch Kälte war, war Tzara das genaue Gegenteil. Sie konnte auch so werden.

Snädis Hand streckte sich nach der Kugel aus. Sie hatte schon immer zu ihrer Mentorin aufgesehen. Eine Frau die immer für sie da gewesen war und sie ehrlich geliebt hatte. Sie hatte ihr verheimlicht, dass sie hier gewesen war. Eben gerade sagte sie, dass sie das Geschenk ausschlagen sollte. Es wäre klug auf sie zu hören.

„Es ist deine Entscheidung."

Ja, da hatte die Hexe Recht. So viel Macht. So viel Glück. Ein Gefühl von Wärme und Sicherheit erfüllte sie, als sich ihre Finger weiter der Kugel näherten.

Kurz bevor sie Zugriff, sah sie auf in die toten Augen vor ihr.

Alles was sie jemals wollte...

Ihr Herz schlug so unglaublich schnell.

Alles was sie sich je gewünscht hatte...

Ihre Wangen wurden rot vor Erregung.

Alles was sie sein konnte...

Ihre Mutter tot im Schnee.

So viel Macht...

Und doch...

Snädis ließ ihren Arm sinken und sah der Hexe mutig entgegen.

„Ich lehne dein Angebot ab." Ihre Stimme hallte laut und klar durch die ganze Höhle. So sicher hatte Snädis sich ihr ganzes Leben noch nicht gefühlt. Die leuchtende Kugel reiner Macht verschwand und der Baum starrte sie nur ausdruckslos an. „Ich werde versuchen, von allein großartig und bedeutend zu sein und so mein ganzes Potential ausschöpfen!"

Die junge Schattenläuferin nickte stolz, ehe sie sich umdrehte und leichtfüßig zu ihrer Mentorin sprang.

Tzara sah ihr mit leuchtenden Augen entgegen, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Kaum jedoch, dass sie vor ihrer Mentorin zum Stehen kam, begann die Höhle zu Beben. Tzara und Snädis duckten sich bereit und sahen sich aufmerksam um.

Die dunkle Gestalt der Hexe hatte ihre langen, astartigen Arme in die Höhe gehoben.

Kleine Steine rieselten auf die beiden Schattenläufer hinab und Tzara packte ihre Schülerin um sie zu schützen.

Du wirst diesen Ort nicht verlassen!"

Snädis blickte sich erschrocken um, erst zum Baum, dann zu den Wänden um sich. Die Erde erzitterte, als sich riesige Klötze erhoben und sich magisch aneinandersetzten. Drei große Steinriesen umzingelten die beiden Schattenläufer. Große, orange glühende Edelsteine starrten sie wie Augen an und drohend hatten sie ihre Arme erhoben, als wollten sie gewaltsam versuchen Snädis festzuhalten. Tzara schob sich schützend vor ihre Schülerin.

„Ich habe abgelehnt!", rief sie wütend dem Baum entgegen.

„Das ist gegen die Regeln!", stimmte auch Tzara zu.

„Du wirst diesen Ort nicht verlassen!", wiederholte die Hexe, ihre Stimme grollte durch den gesamten Raum. „Nicht bevor du den Pakt geschlossen hast!"

Snädis wurde kalt. Sie zog ihre Waffe und richtete sie drohend den Steinkolossen entgegen. Aber was sollte ihr Stahl dagegen schon ausrichten?

Tzaras Muskeln spannten sich an. „Bleib hinter mir."

Ein Sturm aus Kälte ließ die Kolosse straucheln, es war nicht genug um sie zu Fall zu bringen, jedoch musste das genügen. Sie hasteten beide über den bebenden Boden vor zum Ausgang. Einer der Golems hatte sich wieder gefangen, nahm einen der Steine und schleuderte ihn direkt auf die Beschwörerin.

Tzara war nicht schnell genug um auszuweichen. Ihre Schülerin sah mit entsetzen wie der Brocken näherkam und stürzte sich mit einem abrupten Kurswechsel auf ihre Mentorin. Sie riss sie mit sich zu Boden und beide landeten im Staub. Der Fels grub sich tief in die Erde und verschüttete den Ausgang.

Snädis japste noch nach Luft, als ihre Mentorin schon wieder stand und einen weiteren Blizzard auf ihre Gegner losließ.

Sie rappelte sich auf und überblickte die Szenerie. Die Kolosse standen, festgefroren am Boden unter ihnen, da. Doch das Eis würde sie niemals lange genug aufhalten.

Die Hexe hatte immer noch ihre Hände erhoben, vollkommen gefangen in der Konzentration die Kolosse am Leben zu erhalten.

Snädis biss die Zähne zusammen. Ihr Hinterkopf pochte, als sie vorstürzte. Tzara rief ihr etwas zu, was sie durch das Rauschen in ihren Ohren nicht verstehen konnte.

Die Kolosse, eingefroren in ihrer Bewegung, flogen an ihr vorbei.

Kleine Ranken schossen aus der Erde vor ihr und versuchten nach ihren Füßen zu greifen. Snädis wich ihnen leichtfüßig aus, schlug Haken und vollführte Saltos.

Das Gewicht der Waffe war ihren Händen vertraut, die Schwere des Metalls beruhigend. Ein Ruck ging durch ihren Körper als eine Schlinge sich um ihren Knöchel legte.

Sie ließ sich fallen, vom Gefühl des Kontrollverlusts leiten. Elegant rollte sie sich auf dem harten Boden ab, nutzte den Schwung um wieder auf die Füße zu kommen. Diese Kreatur konnte sie zu Fall bringen, aber sie hatte gelernt wieder aufzustehen.

Sie warf den Dolch mit dem restlichen Schwung den sie noch hatte, direkt auf das leere Gesicht der Hexe.

Die Welt schien still zu stehen, als sich das kalte Metall in das Holz bohrte. Es war still. Sehr still. Snädis hörte nicht mal mehr das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Sie starrte nur abwartend auf die Hexe mit ihren ausgebreiteten Klauen, und dem Messer zwischen ihren leeren Augenhöhlen.

Ein Herzschlag verging. Zwei. Die Erde begann erneut zu zittern. Es war kein richtiges Beben, nur ein leichtes Schütteln. Die junge Schattenläuferin spannte erwartend ihren Körper an.

„Snädis!" Sie blickte erschrocken über ihre Schulter. Tzara stand plötzlich neben ihr, ihre dunkelblauen Augen misstrauisch auf den Gegner gerichtet.

Ein lautes, markerschütterndes Knacken hallte durch die Höhle. Der Riss im hölzernen Gesicht der Hexe war tief und schwarz. Hoch zur Stirn, hinab zum Kinn.

Tzara hob ihre Hände und direkt aus dem Bruch wuchsen große, wunderschöne Eiskristalle die den Rest ihres Gesichtes wegsprengten. Der linke Teil ihres Kopfes brach ab wie ein gefrorener Zweig und blanke Finsternis kam zum Vorschein, die sofort begann den Raum zu fluten, als wäre ein Staudamm gebrochen.

Ihre Mentorin packte Snädis Arm und zerrte sie zurück. Erneut bebte der Boden und Tzara riss ihre Arme herum. Direkt neben ihnen brach die Wand unter einer weiteren Frostsprengung weg und kaltes Tageslicht drang in die dunkle Höhle, die beiden Schattenläuferinnen begannen zu laufen. Der Steinboden der Höhle wechselte zu einer kargen Wiese und sie jagten den Hang hinab.

Hinter ihnen brodelte die Finsternis aus dem neuen Ausgang der Höhle. Snädis meinte einen lauten, gequälten Schrei zu hören. Er dröhnte nicht in ihren Ohren, sondern direkt in der Wunde in ihrem Hinterkopf. Ihr wurde schwindelig und sie wäre sicher gestürzt, hätte Tzara nicht ihre Hand gehalten und sie mit sich gezogen.

Sie blieb bei Bewusstsein, weil sie sich auf die Wärme der Hand ihrer Mentorin konzentrierte. Auf das Gefühl von Boden unter den Füßen.

Den steinernen Pfad hinabzulaufen war weitaus einfacher als ihn hinauf zu steigen. Eventuell lag es auch daran, dass sie den Weg nur bei halben Bewusstsein mitbekam. Tzara zog sie bestimmt weiter und sie stolperte ihrer Mentorin willenlos hinterher.

Der dichte Nebel verschlang sie beide, ein dichter, nasser Schleier, der auch die Höhle unter sich verbarg und sie fast vergessen machte.

Tzara blickte kurz über ihre Schulter, sah besorgt zu ihrer Schülerin. Sie holte Luft, das erste Wort war kurz davor über ihre Lippen zu kommen.

Ein hoher Schrei ließ sie beide zusammenzucken. Die warmen Finger der älteren Schattenläuferin umklammerten Snädis Hand etwas fester und sie beschleunigte ihren Lauf. Irgendetwas großes, schnelles fegte direkt neben ihnen durch den dichten Nebel.

Sie schafften es den schmalen Bergpfad zu verlassen und auf ein freies Feld zu laufen. Snädis Nackenhaare stellten sich unangenehm auf, als ein weiterer, markerschütternder Klagelaut über den verlassenen Berg hallte. Tzara wollte sie hinter sich ziehen, versuchte auszumachen wo in diesem Nebel sich die Bestie versteckte.

Es traf sie hart und unvorbereitet. Ein schwerer Schlag in ihrem Rücken, der sie von ihren Füßen fegte.

Der Abgrund war viel zu nahe, als dass sie sich noch hätten abfangen können und die beiden Schattenläufer stürzten den kiesigen Hang hinab.

Tzara zog sie an sich, legte ihre Arme um sie und schützte ihre Schülerin mit ihrem eigenen Körper. Alles um sie herum drehte sich und kleine Steine bohrten sich wie Zähne in ihr Fleisch.

Ihr war schwindelig als sie endlich zu einem Halt kamen und zögernd öffnete Snädis ihre Augen. Ihre Rippen, ihr Kopf, ihre Haut – überall brannte sich der Schmerz durch ihren Körper. Sie zwang sich dazu wieder normal zu atmen, obwohl jedes Füllen ihrer Lungen ein heißes, unangenehmes Stechen durch ihren Brustkorb jagte.

Sie blickte auf, Tzara lag ihr direkt gegenüber, ihre Arme noch immer schützend um ihre Schülerin geschlungen. Die Augen ihrer Mentorin waren geschlossen. Ängstlich fuhr Snädis hoch. Ihr Schädel brummte von der plötzlichen Bewegung, doch sie blinzelte den Schmerz weg.

„Tzara..."

Das laute, wehleidige Wimmern des Leviathans ließ sie zusammenzucken. Er war noch hier. Er wollte sie noch immer töten.

Gehetzt sah Snädis in den dichten Nebel um sie herum, versuchte auszumachen wo genau das Monster sich versteckte.

Fast schon automatisch glitten ihre Finger hinab zu ihrer Waffe, bereit sich der Kreatur zu stellen. Das Blut in ihren Adern gefror und der kalte Schweiß brach ihr aus. Die Scheide war leer. Sie hatte ihren Dolch auf die Hexe geworfen. Er war weg – war immer noch in dieser Höhle. Und sie war hier. Ganz allein und unbewaffnet.

Sie blickte wieder hinab zu ihrer bewusstlosen Mentorin. Bevor sie versuchen konnte sie wach zu bekommen, spürte sie, wie etwas neben ihr landete.

Der Kälte in ihren Adern wich einer unangenehmen Hitze. Sie neigte den Kopf und versuchte im Nebel einen Schatten auszumachen.

Sie wusste, dass er da war.

‚Alles was ich kann, kann ich ganz alleine schaffen.'

Plötzlich war da dieser Satz in ihrem Kopf. Nein, Snädis würde nicht aufgeben. Sie würde nicht einfach so kapitulieren und schon gar nicht würde sie sich kampflos von dieser Bestie fressen lassen.

Snädis beugte sich hinab. Den grauen Stein den sie aufhob, vermittelte ihr nicht das Gefühl von Sicherheit, die ihr ein Messer gegeben hätte, aber nun war sie nicht mehr vollkommen schutzlos.

Ihr Körper war bis in die letzte Faser angespannt. Der brennende Schmerz war vergessen, all ihre Muskeln steinhart unter ihrer Haut. Die Schattenläuferin neigte den Kopf, versuchte sich auf jedes noch so leise Geräusch im Nebel zu konzentrieren.

Irgendwo da draußen war er. Sie spürte etwas. Eine Intuition. Ein Hauch. Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß.

Die Bestie hatte keine Angst vor ihr. Sie war keine Gefahr für den Leviathan. Er spielte nur mit ihr. Wartete darauf, dass sie in Panik verfiel. Ihr Herz schlug wirklich schnell gegen ihre Rippen, aber sie ließ sich nichts anmerken.

Die Spannung brach wie ein eingefrorener Fluss und das schnelle, schwarze Wasser zog sie mit sich. Pfeilschnell schoss der schlanke Körper des Monsters aus dem Nebel vor ihr. Elegant wich sie dem Angreifer aus, seine Schnauze voll mit nadelspitzen Zähnen schnappte nur eine Handbreit vor ihrem Gesicht zusammen. Sie holte aus und rammte den Stein mit aller Kraft gegen das Gesicht der Kreatur. Der graue Leviathan jammerte leise, ehe er sich zurückzog und sein Fell erneut mit dem Nebel verschmolz. Snädis wirbelte herum. Die Klauen des Leviathans waren nur noch als Lufthauch zu erahnen, dort wo sie ihren Brustkorb knapp verfehlten.

Fast schon tanzend wich sie den Angriffen der Kreatur aus und sein Klagen wurde immer höher je öfter sie den Stein in die weichen Stellen seines sehnigen Körpers rammte.

Die Zeit war egal geworden, so berauscht war sie von dem Tanz mit dem Tod und dem Adrenalin in ihrem Blut.

Es war ein falscher Schritt. Sie konnte nicht schnell genug ausweichen, weil sie ihr Gewicht auf dem falschen Fuß hatte.

Der Leviathan drehte sich und erwischte sie mit seinem knöchernen Schwanz direkt in ihrer Magenkuhle. Sie landete auf dem abschüssigen Schotterboden und die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Ein Herzschlag später krümmte sie sich unter Bauchschmerzen.

Zitternd japste sie nach Luft. Das Blut rauschte ihr noch immer in den Ohren, aber das Adrenalin war nicht mehr genug um all ihre stechenden Körperregionen auszublenden.

Sie hörte den Leviathan bevor sie ihn sah. Leise gurrend schlich er sich aus dem Nebel auf sie zu. Sein Körper war angespannt, wie der einer Katze vor dem Sprung.

Doch dies war keine Katze – sein unnatürlich spitzer Schädel, seine weiße Maske in seinem grauen Fell und diese Klauen.

Snädis drückte sich gegen die Steine. Es war noch nicht vorbei. Ein Windstoß zerrte die Nebelschwaden um sie herum auseinander und ihre schwarzen Haare wehten ihr ins Gesicht.

Angespannt blickte sie um sich, suchte nach einer neuen Waffe oder einem Fluchtweg. Ein Funkeln erregte ihre Aufmerksamkeit und sie wandte den Kopf. Der Leviathan kreischte, als er sich auf sie stürzte. Es war ein wilder Wirbel aus grauem Fell und mattem Metall, der silberne Dolch zerteilte lautlos Fell, Haut und Muskulatur des Leviathans und die Bestie wich vor Schmerz gepeinigt zurück.

Snädis keuchte angestrengt, während sie sich darauf konzentrierte nicht von den wirbelnden Krallen getroffen zu werden. Beim Sturz den Hang hinab hatte Tzara ihren Dolch verloren, den sie nun in den Händen hielt. Das außergewöhnliche Metall, aus dem er geschmiedet war, verbrannte Schattenläufer und Kreaturen der Finsternis gleichermaßen.

Sie selbst hatte ein paar Wunden durch die Klauen der Bestie davongetragen, doch ihr Gegner litt unter den tiefen Schnitten, die sich in seinen Körper fraßen. Sein verkohlendes Fleisch färbte sich schwarz. Snädis trat provozierend einen Schritt auf den Leviathan zu, die Waffe gehoben, den Körper unter Spannung. Er sprang zurück, sein Blut durchtränkte sein bleigraues Fell.

Der Leviathan kreischte, krümmte seinen Körper unter Schmerzen und warf Snädis einen letzten wilden Blick zu, ehe er sich umwand und vom nächsten Windstoß hinauf in den Himmel tragen ließ.

Er verschwand im Nebel und sein Klagen war nicht mehr zu hören. Erleichtert atmete Snädis aus, bevor sie zurück zu ihrer Mentorin lief.

„Tzara?" Besorgt beugte sie sich zu ihr hinab und rüttelte an ihr. Kurz hatte sie Angst, dass sie nicht nur bewusstlos war. Träge öffneten sich die Augen der Schattenläuferin und verwirrt sah sie auf.

„Snädis!" Viel zu schnell setzte sie sich hin und hielt sich daraufhin ihren Kopf. Besorgt legte die Schülerin ihre Hände auf die Schultern ihrer Mentorin. „Ganz ruhig!"

Tzara blinzelte nur. „Wie geht es dir?" Sie war vollkommen lädiert, hatte den meisten Schaden durch den Sturz erlitten und war eine ganze Weile bewusstlos gewesen, aber das einzige was sie interessierte war das Wohlergehen ihrer Schülerin.

Snädis hielt sich noch immer den Bauch vor Schmerzen, ihr Schädel pochte und das Atmen viel ihr schwer. „Ganz gut. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast."

Sie presste die Augen zusammen, ehe sie ihre Schülerin fixierte. „Was hast du dir nur dabei gedacht auf diesen verdammten Berg zu steigen?"

„Azar Balgar hat mir von dieser Hexe erzählt – sie sollte", beschämt hielt Snädis inne und warf einen Blick zur Spitze, die im Nebel lag.

Tzaras Gesicht spiegelte pure Verachtung wider. „Dieser verdammte Bastard. Ich lass ihn flüssigen Stickstoff trinken, wenn wir wieder zu Hause sind!"

Verwirrt blickte die junge Schattenläuferin ihre Mentorin an. „Ich dachte du wüsstest, dass ich wegen ihm hier war. Er hat mir davon abgeraten hierher zu kommen in dem Moment an dem er seine Geschichte beendet hatte."

Ihre Mentorin sah schweigend zu Boden. Sie atmete tief durch ehe sie antwortete. „Ich habe es nicht durch ihn erfahren, sondern von Runa. Sie hat mir davon erzählt."

Snädis wurde kalt bei der Erwähnung ihrer Mutter. Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Runa wäre niemals hier hoch gekommen um sie zu holen. Sicher hatte sie es sogar als gut befunden, dass ihre Tochter hier oben war.

Tzara beugte sich etwas näher zu ihr, ihre Stimme war überraschend sanft, „Was hast du dir dabei gedacht?"

„Nichts! Ich meine... ich wollte das Geschenk gar nicht. Ich wollte eigentlich nur sehen, ob ich es hinaufschaffe! Ich...", beschämt hielt Snädis inne.

„Was auch immer sie, und Kreaturen wie sie, dir jemals anbieten werden, dass was sie dafür verlangen ist es niemals wert!"

„Es war irgendwie ganz komisch. Sie hat mir angeboten mir Kräfte zu schenken."

Tzara sah sie mit ehrlichem Erstaunen an. „Das ist unmöglich. Sie ist eine Lügnerin."

Die junge Schattenläuferin fuhr sich durch die Haare und musste all ihren Mut zusammennehmen um ihrer Mentorin in die Augen zu blicken. „Ich...es tut mir leid, Tzara."

Tzara beugte sich näher zu ihr und legte ihre Hände auf die Schultern ihrer Schülerin. „Du dummes Kind", meinte sie liebevoll.

„Ich habe...ich habe nur gedacht...Runa war dort auch...und...", Snädis schluckte, ihre Augen huschten nervös umher, ehe sie es schaffte die Ältere anzublicken, „Die Hexe sagte, du wärst auch bei ihr gewesen."

Tzara seufzte, „Vor vielen Jahren habe ich gedacht, dass ich es niemals weit genug bringen würde, als dass ich zufrieden wäre. Vollkommen frustriert von mir selbst und meiner Leistung habe ich schließlich diesen Berg erklommen. Als ich damals vor der Hexe stand – jemand der mir sehr nah gewesen war, war mir hinaufgefolgt und schaffte es, mich von dem Handel abzubringen."

Überrascht sah Snädis sie an. „So wie du bei mir?"

Tzara lächelte traurig. „Beistehende können den Akt nicht unterbrechen und nicht körperlich einschreiten. Jeder der vor sie tritt, muss die Entscheidung vollkommen allein fällen." Stolz sah sie sie an. „Ich habe es gesehen. Du hättest auch abgelehnt, wenn ich nicht gekommen wäre."

Snädis lächelte ebenfalls. Sie war sich dabei nicht so ganz sicher, ehrlich gesagt war sie froh, dass ihre Mentorin gekommen war, um sie zu holen.

„Wir haben sie getötet, oder? Sie wird nie wieder einen Handel schließen."

Tzaras Atem bildete weiße Wölkchen als sie tief seufzte. „Ich bin mir nicht so sicher. Kreaturen wie sie..." Sie ließ den Satz ausklingen, ehe ein Lächeln sich auf ihre Lippen stahl.

Plötzlich zog sie Snädis an sich heran und umarmte sie lange und innig.

„Jetzt ist nur wichtig, dass du ihr nicht verfallen bist", murmelte ihre Mentorin an ihrem Ohr. Snädis war kurz verwirrt. Die alte Schattenläuferin war nie ein Mensch für Umarmungen gewesen, aber sie gab der Wärme nach und erwiderte sie erleichtert. Es fühlte sich gut an. Viel besser als das Gefühl falscher Macht in ihrem Brustkorb.

Tzara strich ihr vorsichtig über den Kopf. „Snädis! Du blutest!"

„Das muss aufgegangen sein, als ich mit dem Leviathan gekämpft habe. Ich habe ihn vertrieben!" Schnell zog Snädis Tzaras Dolch hervor und bot ihrer Mentorin respektvoll den Griff der Waffe da.

Überrascht sah sie sie an. „Du hast ihn ganz alleine besiegt." Es war keine Frage. Stolz funkelte in Tzaras dunkelblauen Augen und das war alles was Snädis wollte.

Die Schattenläuferin nahm den Dolch entgegen, erhob sich elegant auf die Füße und streckte ihrer Schülerin die Hand entgegen. „Komm Snädis. Lass uns nach Hause gehen."

Und sie blickten nicht zur Spitze des Berges zurück.

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