Unsicher

Ich oute mich – ich bin unsicher.

Wer mich kennt, der weiß es schon, die Aufmerksamen konnten es sich denken, und – nur zur Sicherheit – weiß es jetzt auch der Rest.

Ich oute mich, weil es heutzutage nichts Schlimmeres gibt als unsicher zu sein. Es wäre besser, ich wäre ein Mann, der gerne in Frauenkleidung herumläuft. Das würde zumindest bedeuten, ich hätte genügend Selbstvertrauen, um mich nicht von der Meinung der restlichen Gesellschaft beeinflussen zu lassen. Ich könnte auch in Hundekostümen in der Straßenbahn sitzen, mich als neuer Avenger in engen Strumpfhosen von Haus zu Haus schwingen oder jedem erzählen, ich wäre ein Ork auf dem Weg nach Hogwarts. Aber ich bin unsicher. Und das ist mein größtes Problem.

Unsicher zu sein, heißt in dieser Gesellschaft, sich als Kätzchen inmitten von tausend Löwen zu bewegen. Wahrscheinlich werden sie dich nicht fressen, aber angenehm ist das Leben trotzdem nicht. Die Löwen sind größer und kräftiger, sie können sich vordrängeln wann sie wollen und ihr Gebrüll wird das Maunzen des Kätzchens selbst dann übertönen, wenn sie eigentlich nichts zu sagen haben. Dazwischen immer die Kommentare, die darauf abzielen, dafür zu sorgen, dass man sich absolut sicher ist unsicher zu sein.

„War das eine Antwort oder eine Frage?", fragen meine Dozenten, wenn ich eine Antwort auf ihre Frage gebe, nach der sie mich gefragt haben, ohne mir Zeit zu geben, mich auf das Beantworten dieser Frage vorzubereiten. Schwer zu sagen. Denn wenn ich auf eine Frage antworten muss, deren Antwort ich nicht kenne, dann antworte ich so, dass meine Antwort selbst eine Frage ist – nämlich ob das richtig oder falsch war. Aber mit dieser Technik zeige ich meine Unsicherheit, und die ist bekanntlich nicht gewünscht. Antworten sind Antworten, ohne imaginäres Fragezeichen, das auf der Suche nach Zustimmung oder Ablehnung durch die Luft schwebt. Mit einem Punkt am Ende, am besten sogar einem Ausrufezeichen. „Die siebzehnte Wurzel aus Pi!", muss man selbstbewusst schreien, wenn nach der Entfernung zwischen Erde und Mond gefragt wird. Es ist zwar komplett falsch, aber mit derartiger Sicherheit vorgetragen, dass selbst diejenigen, die die neuste Auflage des Tafelwerks auswendig gelernt haben, einen Moment stuzen und an sich selbst zweifeln.

Wenn man selbst dann leise erwidert „Aber müsste es nicht 384.400 km sein?", halten alle inne. Wenn es jemand gehört hat, wird er nicken, offensichtlich verblüfft, dass man überhaupt in diesem Raum ist. Da er schon dem letzten gesagt hat, er solle aus einer Antwort auf eine Frage keine neue Frage machen, muss er jetzt eine neue Phrase finden. Er denkt nach, grübelt, dann hellt sich sein Gesicht auf. „Sie müssen nicht immer so unsicher sein. Sie wissen doch die richtige Antwort."

Er glaubt, damit eine gute Tat vollbracht zu haben. Dem Unischeren zu sagen, dass er nicht unsicher sein muss, ist die wichtigste Sache, die er heute geleistet hat, und mit Sicherheit hat er damit das komplette Leben des armen Unsicheren geändert. Er starrt mich also erwartungsvoll an, mit der unbekümmerten Miene eines Mannes, der selbst nie unsicher war und es wohl auch nie sein wird.

Ich lächle, murmle etwas wie „Ich weiß", und bete, dass sich der Boden auftut, um mich zu verschlucken. Verdammt. Wieder einer, der es gemerkt hat und dem ich nicht vorspielen konnte, sicher zu sein.

Er ist davon überzeugt, mich mit seiner Bemerkung geheilt zu haben und faselt etwas davon, dass ich nach der Pause einen spontanen Vortrag über ein Thema halten soll, das mich interessiert. Offenbar sind wir jetzt von Astronomie in Persönlichkeitsbildung und Selbsthilfegruppen gerutscht.

Was solls, ich komme nicht drumrum. Also nutze ich die nächsten zwölfeinhalb Minuten Pause, um mir betont ruhig Notizen zu machen und gedanklich hundert Mal zu wiederholen, was ich sagen werde. Als die Pause vorbei ist, stehe ich mit einem abgerissenen Zettel vorn, doch die drei Idioten in der fünften Reihe quatschen immer noch über den Zusammenhang von Fitnessstudios und verzweifelten Junggesellen. Mist, denke ich und wische mir nervös die Hände an der inzwischen viel zu warmen Jeans ab. Ich kann doch nicht schreien. Wenn ich das tue, schwankt meine Stimme und jeder merkt, dass ich das Kätzchen unter den Löwen bin, die Unsichere unter all den Selbstsicheren, die es schaffen, ihre eigene Unsicherheit zu verbergen.

Der Dozent steht auf und sorgt für Ruhe. Meine Stimme bricht beim ersten Wort, ich werde knallrot und rette mich in ein Husten. Meine Notizen ergeben plötzlich keinen Sinn mehr. Ich realisiere, dass sich hier wahrscheinlich niemand für das Gefühl der tödlichen Leere, wenn man ein gutes Buch fertig gelesen hat, interessiert und lasse den Zettel sinken. Aus der zweiten Reihe wirft mir jemand einen mitleidigen Blick zu. Das ist fast so schlimm wie der Moment, in dem ich mich dazu aufgerafft habe, eine Frage zu stellen, weil ich offenbar die einzige war, die diese komplizierte mathematische Formel mit fünf xen, drei Deltas und zwei Zeichen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, nicht verstanden hat. Ich war unsicher, ob ich wirklich fragen sollte, wo die Antwort doch augenscheinlich vollkommen offensichtlich sein musste, genauso wie ich unsicher achteinhalb Mal meinen Lösungsweg durchgehe, bevor ich mich zaghaft melde und die Lösung sage, die schon vor einer halben Stunde herausbekommen habe. Nicht zu vergessen die Momente, in denen ich zehn Minuten lang hin und her überlege, ob ich meinen Kollegen etwas fragen kann oder ihn damit dermaßen störe, dass er die letzte Drehung des bunten Rubik-Würfels verhaut und noch einmal von vorn beginnen kann.

Ich räuspere mich erneut. „Ich oute mich – ich bin unsicher. Das ändert sich weder durch einen gut gemeinten Ratschlag noch durch die bloße Aufforderung, sicherer zu sein. Ich bin unsicher, wenn ich antworte, wenn ich frage, wenn ich jemanden anspreche und wenn jemand mich anspricht, wenn ich etwas weiß und wenn ich es nicht weiß, wenn ich eine Aufgabe löse, deren Lösung ich mir sicher bin, aber unsicher bin, ob ich mir wirklich sicher sein darf, weil die Lösung viel zu einfach zu sein scheint. Ich bin unsicher, wenn ich etwas tue, das ich wegen meiner Unsicherheit eigentlich nicht tun sollte, es aber trotzdem mache. Wenn ich meine Unsicherheit beiseite schiebe und die Email schon nach dem ersten Durchlesen statt nach dem fünften abschicke, obwohl ich eine Sekunde später überlege, ob sich der Empfänger von meinem saloppen „Hi" unhöflich behandelt fühlt. Ich bin unsicher, wenn ich mit Leuten zu tun habe, die nie unsicher zu sein scheinen, und es eigentlich nur besser als ich verbergen können, die mir Komplimente machen, die ich mit einem unsicheren Lächeln annehme, und die mir sagen, dass ich so unglaublich selbstsicher wirke.

Ich bin unsicher. Und das ist eigentlich gar nicht so schlecht."

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