tveir
Als ich Anyu das erste Mal traf, war mir nicht klar, dass er ein Fabrikarbeiter war. Und ich glaube, hätte er gewusst, dass ich eine Rebellin war und zu einer geheimen Untergrundorganisation gehörte, die den Umsturz aller Aluminiumfabriken, die sich nach der Großen Schmelze in Grönland gebildet hatte, plante, hätte er mich auf der Stelle erschossen.
Wer weiß, vielleicht sind wir jetzt quitt, wenn ich sterben werde.
Eigentlich war Anyu ganz genau so, wie ich mir die Fabrikarbeiter vorgestellt hatte. Dürr und mit schmalen, vorsichtigen Fingern, die sich die viele Arbeit nicht anmerken ließen, die sie verrichten mussten, die Haare abrasiert, wie sie sie alle trugen. Hätte ich ihn in einer Menge von Arbeitern gesehen, ich hätte ihn nicht wirklich wahrgenommen. Aber irgendwie war er so ... anders gewesen. So dermaßen anders, dass ich erst verstanden hatte, wer er wirklich war, als es längst zu spät gewesen war.
Vielleicht, weil er nicht so dachte wie die anderen. Vielleicht, weil er nicht die Schwarz-Weiß-Vorstellung angenommen hatte, die die anderen ihm vorlebten. Vielleicht, weil er genauso wusste, dass es weder unsre noch ihre Schuld war, dass die globale Erderwärmung die Kontinente verschoben und das Eis getaut hatte. Dass Grönland ein einziger Trümmerhaufen war. Vielleicht, weil da eine Gemeinsamkeit war, die ich nicht mit meinen Eltern teilte, nicht mit meinen Großeltern und auch nicht mit Nukka. Vielleicht, weil er genauso nicht in seine Gemeinschaft hineinpasste, wie ich in meine. Vielleicht hatte ich mich irgendwann in Anyu verliebt und er sich in mich, aber was viel wichtiger war, war, dass er mich verstanden hatte. Vielleicht hatten wir beide davon geträumt, wegzulaufen, irgendwohin. Ein Schiff nach Eumerika zu nehmen, meinetwegen auch nach Asien oder sogar nach Afrika.
Das einzige, was ihn daran hinderte, war der Chip in seiner Handfläche, auf dem die vielen Dienstjahre gespeichert waren, die er noch zu leisten hatte.
Das einzige, was mich daran hinderte, war Nukka. Nicht meine Eltern, nicht meine Großeltern, nicht meine Freunde, nur Nukka. Ich würde sie nicht alleine lassen.
Aber sterben lassen willst du sie, ja?Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken beiseite zu schieben und sehe wieder nach vorne.
Gleich wird Uki das Zeichen geben, und dann geht es los. Noch kannst du gehen, also geh!, schreien meine Gedanken, aber ich ignoriere sie. Ich werde nicht gehen. Wenn meine Schwester stirbt, sterbe ich auch.
Das letzte Mal, als ich Anyu getroffen habe, geht mir durch den Kopf. Es war im Wald gewesen, zwischen vermoderten Baumstämmen und Moos voller Schlamm. Es war mitten in der Nacht, und es war direkt nach der Versammlung gewesen, vor der ich einfach davongelaufen war - davongelaufen vor meiner eigenen Familie, vor ihren Rufen, vor ihrer Begeisterung, vor ihrem Mut. Weil ich Angst davor hatte, was all das anrichten konnte.
Ich hatte nichts gesagt, und er auch nicht, denn er hatte gewusst, dass ich nichts hören wollte. Er hatte sich einfach nur neben mich gesetzt und ich hatte meinen Kopf auf seine Schulter gelegt und die Sterne angeschaut. Ich hatte mir überlegt, was passieren würde, wenn die Sterne plötzlich Lampen wären und wir einfach in einem Film. Vielleicht würden wir dann aus dem Studio gehen, nach Hause, mit einer Menge Geld in der Tasche, und morgen würden wir wiederkommen und der Regisseur würde uns Anweisungen geben, was wir zu tun hatten.
„Siehst du den Kameramann da? Ich glaube, er wird später im Film zu sehen sein", hatte Anyu gesagt, auf eine nicht existente Person gezeigt und ich hatte gelächelt, weil ich wusste, dass er dasselbe dachte wie ich.
„Anyu", hatte ich gesagt, „was ist, wenn wir auch einfach nur Kameramänner sind? Wir tauchen manchmal versehentlich im Bild auf, aber ... wir sind nicht Teil der Besetzung und wir haben keine Rolle."
Er hatte nichts gesagt.
Und dann hatte ich ihm alles erzählt.
Dass wir die Fabrik stürmen wollten, dass wir sie alle umbringen würden. Dass er die Fabrik verlassen sollte, dass er das Land verlassen sollte, dass er sterben würde und tausende von Menschen, die in den Fabriken zum Arbeiten gezwungen wurden, mit ihm. Dass wir Waffen hatten, viele, und dass keiner mit einem Angriff rechnete. Wer unser Anführer war, Uki, und wie viele wir waren.
Meine eigenen Leute hatte ich verraten. Meine Familie, meine Freunde. Nukka.
Verdammt, was hatte ich bloß getan?
„Tapeesa?" Nukka berührt mich vorsichtig am Arm, ihre Stimme ist flüsternd, als sie an mir vorbeihastet und sich neben mir an dem Mäuerchen niederlässt, um näher am Maschendrahtzaun zu sein. „Es geht los."
Ich sehe hoch.
Ihre Augen blitzen, fast als freute sie sich auf den bevorstehenden Angriff. Eine Hand liegt an einem der Messer über ihrer Brust, die im letzten Sonnenlicht silbern schimmerten, dünne, kleine Finger, die aus dem Leder herausragten, das um ihre Handfläche gewickelt war. Noch dieselben kleinen Finger, die unbeholfen nach mir gegriffen hatten, als sie im Spiel in den Morast gefallen war und ich sie wieder herausziehen sollte, dieselben kleinen Finger, die die Würfel gehalten und fallen gelassen hatten, dieselben kleinen Hände, die zum ersten Mal ehrfürchtig ein Messer gehalten hatten, das sie aus der Sammlung unseres Vaters mitgehen lassen hatte.
Ich lächle ihr vorsichtig zu. Am liebsten würde ich ihr alles sagen, aber ... ich weiß, wie sehr sie ihre Aufgabe liebt. Ich weiß, wie viel die Loyalität für sie wert ist. Ich weiß, dass sie lieber sterben als desertieren würde, und ich weiß, dass sie es als Desertation ansehen würde, wenn ich sie bitten würde, mit mir einfach wegzulaufen. Ich weiß, dass sie unsere Familie niemals alleine lassen würde, und ich weiß, dass ich sie niemals alleine lassen würde. Sie nicht.
Und Anyu auch nicht, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Sieh es ein, wenn sie sterben wird, wirst du weglaufen, weil du Anyu nicht alleine lassen kannst, weil dir dein eigenes Leben etwas wert ist, und Nukka wird sterben, weil du sie verraten hast. Deine Eltern werden sterben, deine Freunde. Deine Mitkämpfer.
Weil du Anyu retten wolltest. Weil du die Fabrikarbeiter retten wolltest. Und statt wenigstens die einen zu beschützen, werden sie sich gegenseitig umbringen, und am Ende wirst du alleine sein. Nur du und die Schuld, die du nicht mehr begleichen kannst.
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