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21. November 2309, Hauptsitz der AFCGI, Nuuk (Grönland)
(Aluminium FabriCity Greenland&International)
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Die kleine Mulde, in die ich mich hineinducke, ist nicht sehr tief und voller Schlamm, der fast bis zu meinen Knien hochspritzt, wenn ich meine Position verändere. Vorsichtig halte ich mich an dem kleinen Betonwall fest, der oben zuerst in einen Maschen- dann in einen Stacheldrahtzaun übergeht. Als ich die ich die Finger in dem abgeschabten Grau festkralle, beißt die Kälte in meine Haut, noch durch die Handschuhe durch, die ich eigentlich auch nur trage, weil ich weiß, wie verdammt heiß die Skjutha werden kann, wenn sich der Druck im vordersten Ringventil staut - nur zu gut erinnere ich mich an das erste Mal, als ich damit geschossen und die Waffe dabei fallengelassen hatte.
Der erste Schuss geht immer daneben, hatte mein Vater gesagt, weil ich so enttäuscht gewesen war. Auch bei Nukka war er am Ziel vorbei gewesen, aber ich hatte mich trotzdem geschämt, weil ich schließlich ganze vier Jahre älter war und es eindeutig besser können musste.
Wie lange ist das her?, denke ich mir, während ich die Skjutha nachdenklich betrachte. Der Griff ist in Leder eingewickelt, eben wegen der Hitze, aber die vielen Jahre in ständiger Benutzung sind auch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, schließlich ist sie für viele Jahre die einzige Waffe gewesen, die ich bei mir getragen habe. Das Metall hatte noch nie geglänzt, aber jetzt war es am Lauf regelrecht verrostet, egal, wie sehr ich es geputzt hatte, bevor ich aufgebrochen war. Teure Kugeln hatte ich gekauft, solche, die aufplatzen und ätzende Flüssigkeit verlieren, wenn sie in warmes Fleisch treffen. Dass das hier das letzte Mal sein würde, dass wir überhaupt eine Waffe benutzen, das hatte Uki uns deutlich genug eingeschärft. Ich erinnerte mich an sein Gesicht, wie er vor der Menge gesprochen hatte, kurz, bevor wir aufgebrochen waren.
Was nach dem hier passieren wird, hallte seine Stimme in meinen Ohren, ist allein unsere Angelegenheit. Es ist unser Land, es ist unsre Stadt, es ist unser Leben, und wir können tun, was wir wollen. Wir werden den Frieden schaffen, aber ohne Waffen - also tragt ein letztes Mal zusammen, was ihr zusammenzutragen habt!
Frieden. Realer Frieden. Das hatte Uki uns versprochen, uns allen, den hunderten von Menschen, die letzte Nacht zusammengekommen waren, um seine Worte zu hören - und um Taten folgen zu lassen. Ein letztes Mal unsere Waffen erheben, um ein für alle Mal Sicherheit zu haben.Die nächste Nacht, die Nacht, in der wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, kann eine von vielen tausenden sein, für uns, und für alle Generationen nach uns. Stürmen wir die Fabriken von Nuuk! Stürmen wir die Fabriken von Nuuk, und bauen wir auf ihren Trümmern unser eigenes Land wieder auf, so wie sie auf unseren Trümmern ihre Betonwälle gebaut haben! Ich sage, reißt sie ein, und wir werden niemals wieder innerhalb von Betonwällen arbeiten müssen, reißt sie ein und ...
... vernichtet tausende von Menschenleben.Das hatte ich gedacht.
Und während Nukka gebrüllt, meine Mutter und mein Vater die Waffen hochgereckt hatten, war ich davongeschlichen, aus dem Gedränge hinaus, die verwitterte Fabrik verlassen. Ich war durch den Wald geschlüpft, davongelaufen. Ich hatte Angst, jemand würde mir nachgehen, aber niemand folgte mir.
Jemand ruft meinen Namen.Ich drehe mich um und sehe Nukka an, die hinter einer Betonsäule kauert. Sie wirkt so erwachsen, obwohl sie erst siebzehn ist, mit ihren schwarzen Haaren, zu einem dicken Zopf geflochten, genau wie meine eigenen. Sie trägt nur kurze Sachen, und von ihrer Schulter bis zur Taille liegt ein dicker Gurt, an dem eine beachtliche Sammlung von Messern befestigt ist. Im Messerwerfen ist Nukka schon immer besser gewesen, und wahrscheinlich ist auch das der Grund, weswegen sie mir die Skjutha überlassen hat. Weil sie weiß, wie wenig ich in einem Aufstand wie diesem ausrichten kann, wenn ich nicht wenigstens eine Schusswaffe bei mir trage. Weil sie weiß, wie verloren ich doch bin, wenn ich mich auf mich selbst verlassen muss. Weil sie weiß, wie schlecht ich kämpfe und wie schlecht ich renne und mich verstecke.
Ich glaube, sie hat Angst um mich.Schwach lächle ich ihr zu und sie lächelt zurück. Es soll ermutigend wirken, aber mir kommen fast die Tränen.
Ich wische die winzigen Tröpfchen weg, atme kühle Abendluft ein. Für mich ist es nicht kalt, für keinen von uns ist es das, denn wir sind den Winter gewohnt. Oder besser: Wir waren den Winter gewohnt, als es ihn noch gab, als es noch schneite, als die Gletscher noch da waren, als die Eisberge noch im eiskalten Meerwasser schwammen, als noch nicht überall dieser verdammte Matsch den Boden bedeckte und das ganze Land in eine einzige Morastwüste verwandelte. Jetzt aber ist es lauwarm, obwohl die Nacht gleich hereinbrechen wird, denn hinter den Qualmwolken der Fabrikschornsteine kündigen sich die hellen Schlieren des Abendrotes an, nur die kalte Betonmauer strömt eisige Kälte aus.
Ich drehe mich halb um, werfe einen Blick auf Uki, aber er bleibt ganz ruhig, nicht mehr als eine bullige, gesichtslose Gestalt mit mehreren Gürteln voller Schusswaffen, die ich noch nie in meinem Leben zuvor gesehen habe. Sein kahler Kopf glänzt im Schein der Abendsonne und die Piercings funkeln rötlich auf, als er den Kopf neigt und mich eine Sekunde lang ansieht.
Nur für einen ganz kleinen Moment, aber ich schaue sofort wieder auf meine Schuhe, bevor er in meinen Augen lesen kann, was ich getan habe. Was passieren wird. Was ich weiß.Ich weiß, dass wir versagen werden.
Und das ist meine Schuld.
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