The Mystic
Der Wind fährt mir sanft durch die braunen Haare und meine Finger krallen sich fester an das kalte Metall des Geländers. Hinter mir ertönen Motorgeräusche. Autos fahren an mir vorbei, ohne dass die Fahrer mich eines Blickes würdigen würden und auch die Fußgänger schlendern unaufmerksam an mir vorbei. Unter mir fließt der Mystic River und das gleichbleibende Rauschen des Wassers wird nahezu komplett von den fahrenden Autos verschluckt.
Ich schließe die Augen und atme tief durch. Ich spüre eine unerklärliche Schwere in meinem Körper, die mich stetig nach unten zieht. Ein altbekanntes Gewicht, dass verzweifelt versucht das brusthohe Brückengeländer zu übersteigen und sich in die Wellen des Flusses zu stürzen.
Ich kann nicht schwimmen.
Ich würde innerhalb weniger Minuten ertrinken.
Doch das wäre noch nicht einmal die schlechteste Idee.
Denn wer würde mich vermissen?
Meine Finger krallen sich bei diesem Gedanken fester an das Metall und ich spüre die leichte Vibration des Geländers, sobald ein Auto an mir vorbei rast.
Ich habe versucht dem Rat meines krebskranken Vaters zu folgen.
Ich habe versucht mich von Alkohol fernzuhalten, etwas, was er selbst nur selten geschafft hat. Nüchtern zu bleiben.
Ich habe versucht, keinen Drogen zu verfallen, egal wie groß die Versuchung manchmal schon war. Clean zu bleiben.
Und trotzdem stehe ich jetzt hier. Mit einem Kopf voller giftiger Gedanken und einem Herzen, dass kaum noch schlägt.
Dass kaum noch hier ist.
Ich glaube, dass es schon längst verschwunden und an einen besseren Ort ist.
Das Schlag in meiner Brust ist nur noch eine nutzlose Funktion meines Körpers, um etwas am Leben zu halten, dass Tod eigentlich besser dran wäre.
Ich seufze laut auf und doch wird das Geräusch einer traurigen Erkenntnis sofort von den vorbeifahrenden Autos verschluckt. Selbst die Fußgänger schnappen meine Verzweiflung und meine Lebensmüdigkeit nicht auf. Sie laufen einfach an mir vorbei. Ohne einen weiteren Blick. Oder einem Lächeln.
Ich sollte es tun.
Mein Blick richtet sich nach unten. Das kalte Wasser tost unter mir und das Rauschen dringt schwach an mein Ohr. Zu dieser Jahreszeit ist der Fluss kalt. Es würde nicht lange dauern, bis ich unterkühlt bin. Nicht lange, bis ich in den Wellen erfriere. Wenn sie meine letzten Instinkte nicht schon früher durchbrechen und ich von dem Wasser übermannt werde. Ich habe gehört Ertrinken seie ein schöner Tod. Doch woher wollen wir lebenden Menschen das schon wissen? Die Toten werden nicht davon erzählen können und die Wissenschaft wird nie den letzten Moment eines Menschen erklären können.
Meine Finger schließen sich fester um das Geländer und nachdenklich starre ich das teils rostige Metall an. Es reicht mir bis zur Brust und doch wäre es eine Leichtigkeit für mich mit einem Fuß Halt zu suchen und mich mit dem anderen auf das Geländer zu schwingen. Dann würde das zweite Bein folgen und ich würde balancierend auf einem schmalen Stück Metall stehen. Dann würde schon ein kleiner Windstoß reichen, damit mein Körper den Halt verliert und ich falle.
Fallen.
Für wenige Sekunden würde es sich wie Fliegen anfühlen.
Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen wie ich falle. Wie der Wind liebkosend über mein Gesicht streift und meine Entscheidung gut heißt. Es würde sich so anfühlen, als würde man mich nach einem schlechten Traum wecken. Als wäre ich dann endlich Zuhause.
Ich öffne meine Augen und spüre den kalten Wind auf meiner Haut. Er zerrt an meinen Haaren und reist an meinen dünnen Klamotten. Dann ein Gedanke, der sich plötzlich in den Vordergrund drängt.
Ich sollte jemanden anrufen.
Nur wen?
Meine Mutter, die nie das Telefon in die Hand nimmt, um sich nach mir zu erkundigen? Meine Schwester, die es nicht mal für nötig hält mir eine kurze Nachricht zu schreiben? Mir fällt es schwer an jemanden zu denken, der mir die ganze Idee ausreden könnte. Jemand, der mich davon überzeugen könnte, dass ein Sprung nicht der richtige Ausweg ist. Doch ich könnte wetten, dass sie alle nur lachen würden, wenn ich sie jetzt anrufen würde, um Abschied von ihnen zu nehmen. Wahrscheinlich würden sie sich nach dem Anruf noch nicht einmal Sorgen um mich machen. Davon abgesehen würden sie wahrscheinlich noch nicht einmal merken, dass ich überhaupt vermisst werde, bis sie dann meinen leblosen Körper aus dem Mystic River ziehen.
Ich spüre wie meine Überzeugung größer wird. Mit dem Gedanken an meine zerbrochene Familie, an meine falschen Freunde und an meine Dämonen, klingt die Idee in meinem Kopf immer besser.
Zu fallen, um zu fliegen.
Ich muss an mein bisheriges Leben denken. An die Räume voller Lügner, in denen meine Dämonen stets wieder aufgetaucht sind. An die vielen Zigaretten, die meine Lungen erklommen und die Schmerzen in meinem Herz betäubt haben. Mir wird bewusst, dass ich schon immer ein Freak - ein Heuchler - war. Dass ich nie wirklich einen Platz auf dieser Welt gehabt habe. Dass mich nie wirklich jemand verstanden hat. Ich könnte sogar darauf wetten, dass sich niemand mehr an die Farbe meiner Augen erinnern kann.
Ich sollte mich fallen lassen.
Die Wellen über mich einbrechen lassen.
Sie die Luft aus meinen Lungen rauben lassen.
Ich sollte mein Leben hier und jetzt beenden, damit ich meine zerbrochenen und verstreuten Träume hinter mir lassen und endlich frei sein kann. Frei sein. Ich spüre erst jetzt, dass sich mein verkrampfter Griff um das Brückengeländer gelockert hat. Ich spüre das kalte Metall an meinen Fingern, den kühlen Wind in meinen Haaren und den leichten Sprühregen von den brechenden Wellen auf meiner glühenden Haut.
Ich werde nicht springen.
Nicht, weil ich nicht möchte.
Scheiße man.
In diesem Moment kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als diesem ganzen Altraum ein Ende zu setzen.
Aber ich werde es nicht tun.
Nicht, weil Leute mich ansonsten vermissen würden.
Nicht, weil es irgendjemanden gebe, der tatsächlich an meinem Tod zerbrechen würden.
Sondern weil ich ein Feigling bin.
Ein Feigling.
Ich habe viel zu viel Angst davor zu gehen.
Ich atme tief durch und löse meine verkrampften Finger nun ganz von dem Metall. Eine einzige Kugel in die Brust würde reichen, damit ich alleine bin. Tod bin. Frei bin.
Und trotzdem werde ich auch das nicht wagen. Es ist eine Lüge, wenn ich daran denke es zu tun. Ich würde es nie wagen. Aus Angst. Aus Angst vergessen zu werden. Aus Angst, gar nicht erst umtrauert zu werden. Ich trete langsam von dem Brückengeländer zurück und stehe plötzlich wieder fest am Boden der Tatsachen.
Ich bin ein Feigling.
Und im Himmel ist kein Platz für Feiglinge.
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