Kapitel 2
Zuhause angekommen verschwindet sie in ihrem Zimmer. Ihre Mutter bemerkt das Mädchen wie immer nicht, aber seltsamer Weise ist Alice glücklich, denn sie weiß, sie ist nicht mehr allein, mindestens glaubt sie es. Sie greift nach ihrem Tagebuch und datiert den 16.03.2017.
Es ist seltsam, aber schön. Wie lange habe ich niemanden nicht mehr an mich ran gelassen? Wie zerquetscht fühlte ich mich durch den Druck in meinem Inneren, den auf meinem Herzen? Ich kann ihm vertrauen, denke ich mindesten. Er hilft mir, er weiß nur nicht wie sehr.
Dann greift sie zu der Seite, die all das veranlasst hat und klebt sie mit Klebeband an ihren ursprünglichen Platz. Wieder nimmt sie ihren Stift in die Hand und setzt unter dem bereits geschriebenen an.
Vielleicht hatte ich unrecht, vielleicht ist das Leben doch lebenswert wenn man nur etwas hat, für das es sich lohnt zu kämpfen, oder jemanden, der einen ermutigt. Vielleicht sollte man einfach nicht zu früh aufgeben und durchhalten. Vielleicht.
Nachdem sie das Buch verstaut hat legt sich Alice in ihr Bett, senkt den Kopf und gleitet in das Reich der Träume, das Reich, wo alles gut ist, wo sie sich geborgen fühlt.
Und dann kommt das Wochenende und tatsächlich meldet er sich. Sie verabreden sich am Samstag um drei Uhr an der Brücke. Wieder sitzt sie auf dem Geländer, doch diesmal will sie nicht springen, diesmal lächelt sie. Der Wind weht ihre Haare zurück, fährt spielerisch durch sie hindurch und führt sein übliches Spiel und sie spielen mit. ,,Hi", begrüßt Luke sie und gesellt sich zu ihr, ,,pass auf, dass du nicht runter fällst." Letzteres sagt er scherzhaft, mit einem besorgten Unterton. Auch wenn er sie noch nicht lange kennt, kann er sich in sie hinein versetzen. Auch seine Lage ist nicht gut, denkt er sich, doch schüttelt den Gedanken sofort wieder ab, er will nicht darüber nachdenken. Alice grinst: ,,Keine Sorge, ich fall nicht runter, ich saß hier schon oft genug und hab übers Springen nachgedacht, aber keine Angst, ich springe nicht", sie sieht in seine rehbraunen Augen. ,,Mindestens noch nicht", flüstert sie nicht hörbar. Der Wind weht diese Worte weit weg, in die Ferne und lässt sie fürs erste aus ihren Gedanken verschwinden. Eine Weile ist es still, nur das Rascheln der Blätter nahegelegener Bäume und die vorbeifahrenden Autos hört man, aber sie reden nicht, starren nur in die Ferne und manchmal ins Wasser. ,,Erzähl mir mehr", bricht Luke die Stille. Einen Moment später antwortet Alice, weiter in die Weite starrend: ,,Was soll ich denn erzählen? Es gibt nichts Wissenswertes über mich." ,,Quatsch, erzähl mir einfach deine Geschichte." ,,Aber die kennst du doch schon", jetzt sieht sie ihn verwundert an. ,,Nicht alles, erzähl mir alles." ,,Was ist alles?", fragt sie. ,,Na alles, erzähl mir von deiner Familie, erzähl mir, wie sie waren, bevor das passierte, erzähl mir, wie dein Leben davor war. Erzähl mir alles was dich bedrückt, alles, was du loswerden willst", ihre Blicke sind nun wieder in die Ferne gerichtet. ,,Früher...da war halt alles besser, wir waren eine Familie, auch, wenn mein Vater diese Probleme hatte, doch liebten wir uns", sie schluckt, ,,Meine Mutter war lebensfroh, so wie ich damals, denke ich. Meine Schwester hatte einen Freund, sie war total zufrieden mit ihrem Leben und trotz des ein oder anderen Streites hielten wir immer zusammen, waren fast sogar schon beste Freunde, obwohl wir Schwestern waren. Und mein Bruder, mein Bruder war oft eher ruhiger, aber doch auch nicht. Er war einer der Beliebten und man kannte ihm nie an, dass er...naja...man dachte nie, er würde es werden. Ich mochte ihn gern", sie senkt den Kopf und eine Träne kullert über ihre Wange. ,,Warum sprichst du in der Vergangenheit?" ,,Weil es vergangen ist." ,,Du sagtest, wir waren Schwestern", er sieht sie an, ,,aber ihr seid es immer noch." Alice blickt ihn an. ,,Für mich ist sie gestorben, sie ließ mich einfach im Stich." Luke sieht wieder in die Ferne. Er weiß, dass es jetzt unnütz ist etwas zu sagen, sie würde es eh wieder verneinen und irgendwo, da hat sie ja auch eigentlich recht. Sie wurde alleine gelassen. Doch geht es ihm so viel besser? Er schüttelt den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. ,,Was ist?", fragt sie verwundert. ,,Auch wenn du recht hast...irgendwie...ist es totaler Quatsch. Meinst du nicht, ihr ging es wie dir? Du würdest doch am liebsten auch verschwinden, dich am liebsten umbringen, aber du kannst es nicht, bringst es nicht übers Herz", er wird immer leiser, die letzten Worte haucht er schon fast. Sie nickt: ,,Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin nur...enttäuscht, traurig, sauer, dass sie mich verließ, im Stich ließ." ,,Ich verstehe. Aber warum gehst du sie nicht suchen? Warum gehst du weder deinen Bruder, noch deine Schwester finden, um mit ihnen zu reden?" Einen Moment lang ist es still. Sie antwortet nicht. Tränen laufen langsam über ihr Gesicht. Luke sieht sie fragend an, weiß, dass er sie nicht zwingen kann zu reden, hofft, dass sie nicht springt. Er fasst ihre Hand, macht ihr Mut. Und dieser Mut lässt Alice reden, sie vertraut ihm. ,,Weil ich nicht weg kann. Ich kann sie nicht alleine lassen, ich kann hier nicht weg", schluchzt sie. ,,Doch, du kannst verschwinden. Deine Mutter kümmert sich nicht um dich, du bist für sie gar nicht mehr da, denn sie ist wie ein Geist, nicht anwesend und irgendwie doch. Soweit ich das aus deinen Erzählungen beurteilen kann." Alice wischt die Tränen weg. ,,Stimmt, warum denn eigentlich nicht?" Neuer Mut taucht in ihr auf. Sie kennen sich zwar noch nicht lange, doch verbündet sie das Reden, verbünden sie ihre Situationen, obwohl sie von seiner nichts weiß. Doch genau deswegen hört er ihr zu, weil er seine vergessen will, weil er nicht will, dass es anderen genauso geht. Und somit lenken sie sich gegenseitig ab, helfen einander, ohne, dass sie es wirklich wissen.
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