Kapitel 21

Hektisch zehrt mich Ryder weiter durch die Gänge der Schule, bis ich bereits ganz außer Atem bin. Ich weiß nicht, wann wir stehen bleiben, aber das ist in diesem Moment gar nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass ich genau weiß, wo wir sind, als wir stehen bleiben.

Ryder stoppt seinen Sprint durch das Schulgebäude zwischen dem Mathe- und dem Biologieraum. Genau dort, wo sich sein Spind befindet. Gerade als ich wieder ein bisschen zu Atem gekommen bin, höre ich wieder die Schritte, die mit jeder Sekunde lauter werden. "Beeil dich bitte, damit, was auch immer du vorhast, liebster Bruder", bettele ich leise und schaue nervös durch den Gang. Nach wie vor habe ich keine Ahnung, was hier los ist und Ryder weigert sich immer noch mir irgendwelche Informationen zuzuspielen, was momentan aber auch nicht das Wichtigste ist. Für mich ist es gerade nur wichtig, dass alle Leute, die auf diesem Ball waren, wieder unbeschadet aus dieser verzwickten Situation herauskommen und dass am Montag wieder alles so ist, wie es vorher war, aber das ist sicher nur Wunschdenken. Wahrscheinlich wird nichts mehr so sein, wie es war. Besonders nicht dann, wenn jemandem etwas passieren sollte.

Von einem leisen Zischen, welches ich nur dank meines guten Gehörs wahrnehme, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und sehe im nächsten Moment etwas silbrig schimmerndes auf mich zu fliegen. Innerhalb von wenigen Millisekunden bewegt sich die Information weiter in mein Gehirn und ich erkenne endlich den Gegenstand und schaffe es gerade noch aus dem Weg zu springen, bevor das Messer sich in einen der Spinde hinter mir bohrt. Überrascht und geschockt blicke ich zu Ryder, der begonnen hat an seinem Zahlencode herumzudrehen und mich nun besorgt anblickt: "Ja, geht es dir gut?" "Ja, geht schon", erwidere ich, schaue dann aber ein wenig niedergeschlagen auf mein Kleid: "Mein Kleid kann ich danach aber wegwerfen." Es ist halb zerrissen, was total schade ist, weil das Kleid total schön war. Endlich reißt Ryder sein Schließfach auf und kramt darin herum, während die Schritte immer lauter werden: "Hauptsache dir geht es gut. Jetzt müssen wir hier aber weg, bevor diese Arschlöcher uns noch erwischen." Arschlöcher? Was ist mit meinem Bruder los? So redet er doch sonst nie. Vielleicht erwecken besondere Situationen bei ihm, aber auch einfach nur ein besonderes Verhalten. Das Geräusch der Stiefel unseres Verfolgers klingen immer wieder in meinen Ohren wieder und sind bald fast das Einzige, was ich höre, während ich zusehe wie Ryder etwas Großes aus dem Spind herauszieht. Ich muss zweimal hinsehen, bis ich realisiere, dass er da gerade eine Armbrust aus seinem Schrank geholt hat. "Wieso hast du hier in der Schule eine Waffe, Ryder? Hast du etwa damit gerechnet?", spreche ich laut das aus, was ich denke. Anstatt zu antworten, schiebt er sich einfach einen Köcher, der mit mehreren Pfeilen gespickt ist, über die Schulter und schlägt die metallene Spindtür zu. "Ich werde dir später alles erklären, Katy, aber jetzt gerade hast du dir echt einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um Fragen zu stellen. Du weißt, dass ich niemals etwas tun würde, was nicht gut für dich ist, also vertrau mir und mach was ich sage", einerseits klingt er sanft und verständnisvoll, doch andererseits ist seine Stimme laut und auch ermahnend. Sofort nicke ich: "Du hast ja Recht. Ich werde meine Fragen später stellen. Also los. Bring uns hier raus!"

Schnell spannt er einen Pfeil in die Waffe ein und zieht mich um eine Ecke, sodass unser Angreifer nicht sehen kann, wo wir uns verstecken, während wir ihn ganz deutlich sehen können.

Er trägt dunkelgrün-braune Kleidung und eine lange, weiße Narbe zieht sich quer über sein Gesicht. Ein langer Waffengürtel, in dem mehrere glitzernde Jagdmesser stecken, spannt sich quer über seinen Körper. Sein Anblick bringt meinen ganzen Körper zum Zittern und ich frage mich, was das für ein Mensch ist. Seine Aufmachung erinnert mich stark an einen Jäger, der auf der Jagd nach seiner Beute ist. Wahrscheinlich ist es für ihn aber auch genau das. Eine Jagd, auf der er alle Opfer in Kauf nimmt, egal wie viele es sind.

Mit der Befürchtung, dass ich etwas sagen oder irgendwelche anderen Geräusche von mir geben würde, hält Ryder mir den Mund zu. Ich mache mit meinen Fingern ein "Okay" – Zeichen und bedeute ihm damit, dass ich nichts tun werde, was uns in Schwierigkeiten bringt. Deshalb nimmt er seine Hand von meinem Mund und richtet stattdessen seine Waffe auf den Mann. Tief in mir hoffe, ich, dass er weiß wie man sowas bedient, obwohl es falsch ist, sich zu wünschen, dass mein Bruder weiß, wie man jemanden konkret anschießt. Er schließt sein rechtes Auge, um zu zielen, und schaut lässt seine Hand dann weiter zum Abzug gleiten. Gerade als der Gegner stehen bleibt, drückt er ab und der Pfeil saust zischend auf den riesenhaften Mann zu. Dieser merkt es zu spät, weshalb er keine Zeit mehr hat in Deckung zu gehen wird. Als ein lauter Schrei und ein leises Knacken ertönen, weiß ich ohne überhaupt hinzusehen, dass sich der Pfeil in sein Knie gebohrt hat. Dann überwinde ich mich doch hinzusehen und starre auf den Mann, der am Boden kniet. Blut schießt aus seiner Wunde und bereitet sich in Sekundenschnelle auf dem Boden aus.

Mit der Situation komplett überfordert, folge ich Ryder einfach wortlos ohne irgendetwas von mir zu geben oder mich zu wehren. Ich will dem Mann helfen, obwohl ich weiß, dass er böse ist und es vielleicht auch nicht verdient hat, aber Ryder zieht mich so schnell mit sich, dass ich mich nicht einmal mehr umdrehen will.

Erneut weiß ich nicht wie lange wir durch die Gänge hetzen, doch irgendwann kommen wir an eine Tür, über der ein grünes Schild hängt, welches darauf hindeutet, dass dies ein Notausgang ist. Ohne lange zu überlegen, drückt mein Bruder die Klinke hinunter und stößt die Tür auf. Zu meiner Überraschung befindet sich dahinter kein neuer Raum, sondern ein Weg zum Wald, welcher sich in hinter unsere Schule befindet und die ganze Stadt umschließt. "Woher weißt du, dass wir hierher mussten?", frage ich in der Hoffnung wenigstens dieses Mal eine Antwort zu erhalten, obwohl ich mich bereits für eine neue Ablehnung wappne. Entgegen meiner Erwartungen, antwortet er überraschenderweise, als er mich über den Weg zum Waldrand führt: "Ich nehme diesen Weg manchmal, wenn ich in den Wald will." "Und warum willst du in den Wald?", nun hat er mich neugierig gemacht. "Entspann dich, Katy! Deine restlichen Fragen beantworte ich dir später. Das hier war nur eine Ausnahme!"

Verspielt verdrehe ich die Augen, als wir am Rand des Waldes ankommen, doch er wird wieder ernst und legt eine Hand auf meine Schulter: "Ich muss mich jetzt von dir verabschieden, Schwesterherz." Es fühlt sich an, als hätte mir jemand seine Faust in die Magengrube gerammt: "Was? Wie meinst du das?" "Ich werde hier am Waldrand bleiben und dich von hier aus beschützen, während du weiter gehst", erklärt er sanft und lächelt mich aufmunternd an. Ich selbst will davon jedoch rein gar nichts hören: "Vergiss es! Ich gehe hier ohne dich nicht weg." Ein wenig genervt seufzt er:"Du musst es tun. Später, wenn Cameron, Claire und ich dir alles erklärt haben, wirst du es verstehen, aber jetzt musst du mir einfach ..." "... Vertrauen", beende ich schnell seinen Satz: "Weißt du eigentlich wie oft du das heute schon gesagt hat. Irgendwann reicht es auch mal. Sag mir einfach, was los ist." "Nein, das kann ich nicht. Dann nur Cameron tun", erwidert er und klingt nun ein leicht verzweifelt. Na toll, wieso hat ausgerechnet Cameron die Antworten auf meine Fragen? Das ist unfair! Tja, Karma is a Bitch, Schätzchen!

Als er mich jedoch flehend anblickt und mir zeigt, wie ernst es ihm ist, akzeptiere ich, dass es für meinen Bruder sehr wichtig ist und dass es scheinbar sein muss, obwohl ich nicht sicher weiß wieso. Deshalb seufze ich ein wenig lauter als gewollt und ziehe den Jungen dann in eine kurze, liebevolle Umarmung, um ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebe und wie viel er mir bedeutet, egal wie oft wir uns streiten. Leise flüstere ich in sein Ohr: "Pass auf dich auf, ja?" "Ich verspreche es", flüstert er zurück: "Und du weißt ja, dass ich meine Versprechen nie breche." Seine Worte lösen in mir eine tiefe Befriedigung aus und sorgen dafür, dass ich mich gleich viel sicherer fühle, als wir uns voneinander lösen: "Na gut, was soll ich also tun?" "Lauf einfach immer weiter nach Norden in den Wald hinein und bleib dann irgendwann stehen, wenn du denkst, dass du weit genug drinnen bist. Wir werden dich schon finden. Mach dir da keine Sorgen", erklärt er mir und versucht dabei sachlich zu wirken, doch seine Stimme zittert kaum merklich. "In Ordnung", erwidere ich, um es ihm ein wenig leichter zu machen: "Wir sehen uns dann später." Doch insgeheim denke ich mir nur:"Wehe ich verhungere im Wald, weil ihr mich nicht abholt!", sage es aber nicht, um den Moment nicht zu zerstören. Dann drehe ich mich um, nachdem ich noch einmal tief Luft geholt habe und laufe, bestärkt durch meinen Bruder, in den Wald hinein ohne mich nochmal umzudrehen, weil ich dann wahrscheinlich stehen geblieben und bei meinem Bruder geblieben wäre. Es fühlt sich falsch an ihn hier alleine zu lassen, aber ich hoffe einfach tief in mir, dass er recht hat und dass es das Beste für mich ist, obwohl ich nicht sicher bin, ob es das wirklich ist. Hoffentlich wird Cameron mich wirklich finden und nach Hause bringen, sonst spreche ich kein Wort mehr mit ihm.

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