Kapitel 16
Nachdem wir alle uns begrüßt haben, geleiten meine Eltern alle Mitglieder der beiden Familien zum Esstisch, wo wir spielen werden. Mein Vater beobachtet Cameron ununterbrochen und misstrauisch. Dabei wirkt er fast wie ein Raubtier, welches seine Beute erst studiert, bevor es ihr die Kehle zerfetzt. Ob er das meinetwegen tut? Schließlich hat er, noch stärker als Mom, miterlebt, was dieser Junge in den letzten Jahren für eine Wirkung auf mich hatte.
Bedächtig lässt mein Vater sich gegen über von meinem blonden Nachbarn auf seinen Stuhl sinken und stütze sich mit beiden Ellenbogen auf der Glasplatte ab. Schnell setze ich mich neben meinen Vater, damit er keine Dummheiten macht. Neben Cameron lässt Claire sich nieder und daneben meine kleine Schwester Alyssa, die sowas wie ein Fan von Ryders Freundin ist. Sie verbringen viel Zeit miteinander und meine Schwester scheint unsere Nachbarin wirklich zu bewundern, was mich mindestens ein wenig verletzt, wenn ich darüber nachdenke, dass sie Claire ihrer eigenen Schwester vorzieht. Nachvollziehen kann ich es aber schon. Schließlich ist Claire eine echt freundliche, herzensgute Person. Wäre ich an Alyssas Stelle, wäre Claire wahrscheinlich auch mein Vorbild. Außerdem ist es besser, wenn sie einer verantwortungsbewussten Person vertraut, als einer total leichtsinnigen. Sie könnte zum Beispiel auch Ryders Spaß am Alkohol trinken übernehmen und das wäre auf jeden Fall schlimmer.
"Also? Was wollen wir spielen", fragt meine Mutter ungewöhnlich hoher Stimme. Als mein Vater und mein Bruder gleichzeitig ihre Augenbrauen neben, als sie die Veränderung bemerken, muss ich mir echt auf die Zunge beißen, um nicht sofort in wildes Gelächter auszubrechen. "Monopoly", ruft Alyssa und schaut begeistert in die Runde. Ihre Augen glitzern verspielt.
Manchmal wünsche ich mir die gleiche Lebensfreude, wie meine Schwester empfinden zu können. Sie sieht in allem das Gute und versucht Situationen, die eigentlich ausweglos zu sein scheinen, in etwas Positives zu verwandeln. Hin und wieder erinnert sie mich an mein sechsjähriges Selbst, bevor ich in die Schule gekommen bin.
"Ja, Monopoly klingt doch gut", pflichte ich meiner kleinen Schwester bei. Dankbar wirft sie mir ein freudiges Lächeln zu und flüstert lautlos:"Danke, Katy." Auf den Wunsch hin, steht meine Mutter auf und geht zu dem Schrank, in dem wir die Spiele aufbewahren und wirft einen Blick in den Karton des Spieles:"Wir müssten, dann aber zweier Teams bilden, weil die Kinder fast alle Figuren verloren haben." Bei der Erwähnung der Figuren blicken Alyssa, Ryder, Claire und ich einander geschockt an und als dann noch das Wort 'verloren' fällt, entflieht Ryders Kehle ein leises Lachen, welches Alyssa und ich mit einem Husten zu kaschieren versuchen. Claire hingegen schafft es sich zu beherrschen und wirft uns nur einen warnenden Blick zu, während Cameron, der keine Ahnung hat, was mit den Figuren geschehen ist, nur verwirrt in die Runde blickt. Wir hingegen wissen genau, was passiert ist.
Im letzten Jahr haben wir vier nämlich zum ersten und auch zum letzten Mal gemeinsam Monopoly gespielt. Wir hatten bereits eine Stunde gespielt, da haben Ryder und Alyssa angefangen sich zu streiten, weil er, mal wieder, geschummelt hatte. Er wollte es aber nicht eingeben und hat versucht seine Schwester zu verarschen, aber das hat sie nicht mit gemacht. Deshalb hat sie einfach seine Spielfigur genommen und irgendwo hingeworfen. Das wollte er nicht mit sich machen lassen, weshalb er ihre Figur genommen und diese ebenfalls weggeworfen hat. Daraufhin haben sie angefangen sich gegenseitig mit den übrigen Figuren abzuwerfen, bis nur noch vier übrig waren. Diese vier haben den Krieg, aber auch nur überlebt, weil Claire und ich uns entschieden haben dazwischen zu gehen. Nach einigen Stunden haben sie sich dann auch wieder vertragen, aber die Figuren haben wir bis heute nicht wieder gefunden. Meine persönliche Vermutung ist, aber dass die Hundefigur an der Wand hinter dem Kühlschrank liegt. Da wir aber einfach gehofft haben das Spiel nie wieder spielen zu müssen, haben wir uns nie die Mühe gemacht den Kühlschrank, während unsere Eltern bei der Arbeit sind, wegzuschieben. Wieso Alyssa heute ausgerechnet dieses Spiel spielen möchte, ist mir nicht klar.
Meine Mutter kommt mit dem Spiel in der Hand zu unserer bunten Runde zurück und zeigt uns die vier kleinen, schimmernden Figuren in ihrer Hand: "Wir müssen also vier zweiter Teams gründen, damit jeder mitspielen kann." "Ich glaube, du hast dich da verrechnet, Mom", merkt Ryder an: "Wir sind neun Leute und keine acht." Verwundert beginnt meine Mutter erneut durchzuzählen und stimmt meinem Bruder dann zu: "Oh stimmt, dann können wir das Spiel nicht spielen." Ryder hingegen scheint das partout nicht zu wollen und erhebt deshalb Einwand: "Nein, schon gut. Ich setze einfach dieses Spiel aus. Ich mag das Spiel sowieso nicht." "Was? Nein, du kannst doch nicht einfach aussetzen", erwidere ich ein wenig geschockt und starre meinen Bruder verwundert an. Ich weiß genau, dass er dieses Spiel liebt. Wieso lügt er also? Der Boden wird mir ruckartig unter dem Boden weggerissen. Er hatte mir doch versprochen, dass er für mich da ist.
Mein Bruder scheint meine Angst zu bemerken und verschränkt deshalb seine Finger in meinen. Fast habe ich mich wieder beruhigt, als meine Mom verkündet: "Perfekt, dann machen wir mal die Gruppen. Also ich würde sagen, dass die Erwachsenen mit ihren verheirateten Partner arbeiten." Alle anderen Erwachsenen stimmen ihr zu. "Dann mache ich mit Claire", erklärt nun auch meine kleine Schwester und schlingt ihre Arme um die Blondine. Als mir klar wird mit wem ich selbst dann eine Gruppe bilden muss, schießt der Schock wie ein Pfeil in mich hinein und bohrt sich durch meine Adern bis in mein Herz hinein. "Dann sind wir wohl ein Team", Cameron zwinkert mir grinsend zu. Mom klatscht in die Hände: "Perfekt! Dann können wir ja anfangen."
Schleichend langsam verstreicht die Zeit, während wir spielen. Für mich ist es die reinste Qual. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich in meinem Zimmer verkrochen. Immer wieder blicke ich zu meinem Bruder herüber, der mir einen aufmunternden Blick zurückwirft. Meiner Familie zuliebe spiele ich weiter und wenn ich ehrlich bin, wäre es gar nicht so schlimm, wenn da nicht diese ständigen Fragen wären. Gerade eben wurde mir von Mrs. Ross schon wieder eine gestellt: "An welchen außerschulischen Aktivitäten nehmt ihr eigentlich teil, Ryder und Katy?" Natürlich entgeht es mir nicht wie ihr Ehemann, der mit solchen Fragen viel vorsichtiger ist, sie sanft in die Rippen knufft und ihr einen warnen Blick zuwirft, was Claires Mom jedoch nicht aus der Fassung bringen kann. Schon immer war sie eine sehr selbstbewusste Frau und das scheint sich über die Jahre nicht geändert zu haben. "Ich spiele Football", erklärt mein Bruder schnell: "Cameron und ich sind zusammen in einer Mannschaft." "Ach stimmt ja", sie lächelt glücklich: "Und du Katherine?"
Als Mrs. Ross meinen richtigen Namen ausspricht, zucke ich überrascht zusammen. Nicht sonderlich oft höre ich meinen richtigen Namen. Meine Eltern nutzen ihn nur, wenn sie wütend sind, und sonst höre ich ihn nur bei fremden Leuten, die mich nicht gut genug kennen, um mich bei meinem Spitznamen zu nennen, oder bei meinen Großeltern, die generell etwas gegen die Verkürzung von Namen haben, weshalb sie auch die Namen meiner Geschwister nicht mögen. Sie sind ihnen so modern, obwohl ich nicht verstehe, was daran modern sein soll. Haben sie etwa gedacht, dass meine Eltern ihre Kinder Ingeborg, Hildegard und Reiner-Gustav nennen, oder was?
So gut es geht, versuche ich meine Stimme sicher klingen zu lassen: "Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht gehe ich ja zur Schülerzeitung!" "Wie wäre es denn mit Cheerleading? Du bist doch sehr beweglich?", fragt Claire sofort und erinnert mich daran, dass es diese Möglichkeit auch noch gibt: "Du hast mir mal erzählt, dass du das mal versuchen willst."
Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Sie hat Recht! Das habe ich schon oft gesagt und wenn ich ehrlich bin, würde ich es immer noch gerne versuchen, aber da gibt es ein mehr oder weniger großes Problem. Ashley ist Captain des Cheerleaderteams. Wenn man genau darüber nachdenkt, ist das ein totales Klischee. Ich weiß! Zwar teilt sie sich den Posten mit Claire, aber trotzdem würde Ashley niemals zulassen, dass ich einen Platz in ihrer Liga der Zicken einnehme. Das hat sie mir schon in der achten Klasse klar gemacht, als ich es zum ersten Mal versucht habe. Damals war sie noch alleiniger Captain an der Middle School, aber heute wird es sicher nicht anders laufen.
Die Blondine scheint noch weitere Argumente zu haben: "Ach komm schon, Katy. Versuchen kannst du es doch und in Collegebewerbungen kommt es immer gut. Das ist deine letzte Chance!" Ich beiße mir nachdenklich auf die Lippe. Recht hat sie ja schon. Das ist mein letztes Jahr an der High School und auf dem College gibt es keine Schulclubs mehr. Die Idee von mir in der Cheerleaderuniform unserer Schule wächst in jeder Sekunde weiter. "Vielleicht", beginne ich: "Könnte ich es ja mal versuchen." Claire, Ryder und zu meiner Überraschung auch Cameron blicken mich fröhlich an. "Perfekt!", erwidert Claire zufrieden: "Frag doch Morgan, ob sie auch mitmachen will. Dann bist du nicht so allein in unserem Team." "Vorausgesetzt wird schaffen es überhaupt rein", lenke ich ein. "Sicher schafft ihr das. Ich habe eure Konkurrenten schon gesehen und die sind wirklich nicht der Hammer", gibt sie grinsend zu. Es freut mich, dass sie mir Mut macht und gut zu spricht. Sicher werde ich meine Entscheidung nicht bereuen und wen Morgan an meiner Seite ist, schaffe ich das Vortanzen sicher.
Der restliche Abend verläuft entspannt und es wundert mich echt, dass Cameron es schafft den ganzen Abend keinen unangebrachten Kommentar auf uns loszulassen. Es wirkt fast, als wäre er tatsächlich ein neuer Mensch und als wir dann auch noch gemeinsam gewinnen, frage ich mich echt, ob er doch eine zweite Chance verdient hat. Den ganzen Abend blickt er mich ununterbrochen an und lächelt freundlich. Also entweder hat er sich verändert oder er steht doch unter Drogen! Jedenfalls wirkt er seit seinem achtzehnten Geburtstag ein wenig berauscht, wenn er in meiner Nähe ist.
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