Kapitel 12

Als ich am Morgen aufwache, ist ein lautes Würgen zu hören. Überrascht stehe ich auf und bemerkte, dass mein Bruder nicht in seinem Bett liegt. Meine Decke schlinge ich um meine Schultern und starre auf meinen Wecker. Es ist gerade einmal sechs Uhr morgens. In den warmen Stoff eingewickelt, husche ich in meine weichen, grauen Hundehausschuhe und blicke in den Flur hinein. Leicht fröstelnd folge ich dem Geräusch, welches mich direkt ins Badezimmer führt.

Die hell brennende Lampe schickt sein Licht durch den ganzen Raum und ermöglicht mir den Blick auf meinen Bruder, der über der Toilettenschüssel hängt und sich erbricht. Der stechende Geruch steigt mir in die Nase und fast muss ich selbst mich ebenfalls übergeben.

Besorgt blicke ich auf meinen Bruder hinunter, der schrecklich aussieht. Sein Gesicht ist kreidebleich und seine Wangenknochen treten stark hervor, während sein schwarzes Haar ihm in die Augen fällt. Er klammert sich so feste an die Toilettenschüssel, dass seine Fingerknöchel bereits weiß hervortreten. Mein Bruder zittert stark und es wirkt, als würde erfrieren, doch gleichzeitig läuft ihm auch der Schweiß von der Stirn. Der Anblick erschüttert mich und sofort reagiere ich, in dem ich die Decke von meinen eigenen Schultern befreie und über die meines Bruders lege. Überrascht wendet er seinen Kopf mir zu und versucht mich dankbar anzusehen, wirkt dabei aber eher müde und gebrochen. Schnell knie ich mich neben ihm und streichle ihm sanft über den Rücken. Wie lange sitzt er hier im Badezimmer schon auf dem kalten Boden und bricht seinen Mageninhalt aus? "Du sollst doch nicht so viel trinken, Ry", ich klinge besorgter als erwartet, was ihn dazu verleitet seinen Kopf zu senken. "Ich weiß", murmelt er, schaffe es aber die Toilette loszulassen und seine Finger stattdessen um meine Arme zu schließen. "Schon gut", sanft ziehe ich ihn näher an mich, um ihm ein wenig Schutz zu geben, den er in diesen Situationen so dringend braucht: "Hast du wieder Migräne?" Er nickt niedergeschlagen. "Komm ich bringe dich ins Bett zurück", biete ich an und helfe ihm auf die Füße, als er nicht protestiert. Mit ihm an meiner Seite laufe ich langsam zurück in unser gemeinsames Zimmer.

Mein Bruder hat schon, seit er ein kleines Kind ist, mit starker Migräne zu kämpfen. Nachdem er sich jedoch im letzten Jahr hat brutal einrenken lassen, ging es ihm eigentlich besser. Wenn er jedoch trinkt, wird alles wieder auf null gesetzt und nichts steht der Migräne tatsächlich im weg, da er nicht mehr bei klarem Bewusstsein ist und sich nicht mehr darauf konzentrieren kann, was er so viele Jahre trainiert hat. Wenn er sich nämlich stark genug konzentriert, kann er der Migräne entgehen, doch mit Alkohol intus, ist das ziemlich schwierig.

Als ich ihn sanft aufs Bett fallen lassen, wird mir klar, dass ich heute alleine in die Schule gehen muss, weil Ryder auf keinem Fall in der Verfassung ist. Sein Blick wirkt trüb, als ich ihm meine Decke abnehme und mit seiner eigenen Decke zudecke. Sein Anblick ist kläglich. Glücklicherweise weiß ich, was nun zu tun ist, wenn ich bedenke, wie oft ich ihm bei Migräne schon seine Sachen geben musste.

Da ich weiß wie schlecht es ihm gerade geht, husche ich so schnell und so leise es geht die Treppe hinunter, um einen Eimer aus der Abstellkammer zu holen, damit er sich darein übergeben kann und nicht wieder ins Bad laufen muss. Als ich die Tür zur Kammer öffne, versuche ich, ohne das Licht anzumachen, nach dem Eimer zu tasten, doch das ist mein mehr als großer Fehler. Nach wenigen kleinen Schritten stoße ich mir den großen Zeh an einem kleinen Holzregal und stoße einen leisen Schmerzensschrei aus. Schnell schnappe ich mir den Eimer und verlasse die Kammer sofort wieder. Damit meine Eltern nicht wach werden, wenn ich hier noch weiter im Dunklen herum tappe.

Mit speziellen Tropfen und dem Eimer in den Händen renne ich wieder die Treppe hinauf, bis ich in meinem Zimmer ankomme. Heute entgeht mir echt zu viel Schlaf. Den Eimer stelle ich neben das Bett meines Bruders und reiche ihm dann die Tropfen, falls er sie schon nehmen will. Müde blinzelnd, streckt er seine Hand nach mir aus und flüstert schmerz verzehrt: "Kannst du das Licht ausmachen?" "Natürlich, du Vampir", erwidere ich, weiß aber wie ernst es ihm damit ist, da das Licht, laut seiner Aussage, dazu beträgt, dass seine Kopfschmerzen noch schlimmer werden. Nachdem ich mir schnell meine Kleidung aus dem Schrank geholt habe, betätige ich den Lichtschalter also und husche mit meinem Handy in der Hand aus dem Zimmer, um meinem Mitbewohner ein wenig Ruhe zu gönnen. Dann husche ich weiter ins Badezimmer, um mich dort zuzuziehen. Mittlerweile ist schon eine dreiviertel Stunde vergangen und langsam wird es Zeit, dass ich mich fertig mache, sonst komme ich noch zu spät.

Ein Blick auf die digitale Zeitanzeige auf meinem Handy, zeigt mir, dass es bereits viertel nach sieben ist, als ich mein Frühstück beende. Heute habe ich endlich mal eine Chance darauf nicht zu spät zu kommen. Auch meine restliche Familie ist nun wach, was mir erst auffällt, als Mom mit einem verwunderten Blick die Treppe hinunter geschlurft kommt: "Schläft Ryder etwa noch?" "Ja, ich habe ihm heute Morgen etwa gegen sechs Uhr brechend im Bad gefunden. Scheinbar hat er mal wieder Migräne!", das Detail mit dem Alkohol habe ich aus meiner Erklärung lieber erst mal herausgelassen. "Echt? Hat er seine Tropfen?" "Ja, ich habe sie ihm gebracht", sie legt ihre Hände auf meine Schultern: "Tut mir leid, dass wir...äh, dass ich dich gestern so überrumpelt habe." Scheinbar hat sie mit meinem Dad darüber geredet, dass das alles ihre Schuld ist und dass er damit nichts zu tun hat, was sie scheinbar akzeptiert zu haben scheint. "Schon gut", erwidere ich und nehme noch einen Bissen von meinem grünen Apfel. "Kannst du bitte versuchen wenigstens zu Claire und ihren Eltern nett zu sein, wenn sie hier sind?" Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, denke ich mir, nicke aber trotzdem.

Als ich endlich aufgegessen habe - es ist etwa halb acht - klingelt es an der Tür. Überrascht stehe ich von meinem Stuhl auf und schlurfe zum Eingang. Wer kann das nur sein? Morgan läuft dienstags nie mit mir, weil ihre Kurse heute später anfangen und andere Freunde habe ich eigentlich nicht. Verwundert reiße ich die Tür auf, schlage sie aber sofort wieder zu, als ich sehe, wer auf der anderen Seite wartet. Dort, vor meiner Haustür, steht Cameron Ross. Zwar konnte ich nur einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, doch das reicht mir, da ich ein sehr gutes, fast fotografisches, Gedächtnis habe. Mein Nachbar trägt seinen blau-schwarzen Rucksack, den er schon seit der Middle School hat, auf dem Rücken und trägt darunter die weiß-blaue Jacke, die jeder Junge bekommt, der in einem Schulteam ist. Da wir nicht viele Teams haben - wir sind eine ziemliche Loserschule -, haben nur die Mitglieder des Football- und des Schachteams solche Jacke. Wenn man dann auch noch bedenkt, dass die Mitglieder des Schachteams zu stolz sind, um die gleichen Jacken zu tragen wie die Footballspieler - das Football und das Schachteam verachten einander - sind diese Jacken zu so etwas wie das Markenzeichen aller Footballer.

"Du solltest losgehen, Schatz. Sonst kommst du noch zu spät", ruft meine Mutter aus der Küche. Ich verdrehe die Augen. Wieso muss sie immer die Fragen stellen, die gerade am unpassendsten sind? Von meiner Mutter gedrängt, greife ich nach meinem bereits gepackten Rucksack und streife mir dann meine Jacke, sowie meine Schuhe, über. Dann wandert meine Hand zum Türgriff und ich atme noch einmal tief durch. Der Gedanke daran, was ich mir vorgenommen habe, tritt in mein Gehirn zurück. Langsam lasse ich meine Schultern zurückfallen, um ein wenig selbstsicherer und entspannter zu wirken. Ehrlich gesagt tue ich das aber, um mich selbst anstelle von jemand anderem zu beruhigen. Kurz nehme ich noch einen kurzen Atemzug und nehme dann all meinen Mut zusammen. Angespannt öffne ich die Tür vor mir und schaue in Camerons verwirrtes Gesicht. "Hey", grüßt er sofort. "Hey", erwidere, um nicht unhöflich zu sein. Trotzdem laufe ich schnell an ihm vorbei und verlasse unser Grundstück. "Warte doch auf mich", ruft mein Nachbar mir hinter und wenige Sekunden später sind seine Schritte auf dem Beton der Einfahrt zu hören: "Ich will mit dir zur Schule gehen." Was will er? Nein, das kann er vergessen. Auf keinen Fall halte ich den ganzen Schulweg aus, ohne ihm mindestens eine Beleidigung an den Kopf zu werfen oder schreiend wegzulaufen.

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