Der Ersthelfer (von Karuna_Hoshi)

Das Wasser plätscherte leise unter ihren Füßen, und immer, wenn ihre baumelnden Beine die ansonsten kaum bewegte Wasseroberfläche streiften, stoben feinste Wassertropfen auf und das Licht der Sterne brach sich in den entstehenden Wellen. Die lauwarme Nachtluft um sie herum war beinahe mit den Händen zu fassen, so dicht schien die Stimmung, und die funkelnden Sterne am Himmel schienen nah wie nie zuvor.

Sanft legte sie ihren Arm um den Mann an ihrer Seite, den sie niemals verlieren wollte, und der in Zukunft immer an ihrer Seite stehen würde. Er schlief, seinen schmalen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt. Im hellen Licht des Mondes konnte sie die Spiegelung seiner feinen Gesichtszüge im Wasser erkennen, in die sie sich so verliebt hatte. Lediglich manchmal wurde die Ebenmäßigkeit von Unebenheiten in der spiegelglatten Wasserebene zerstört.

Schon damals, als sie sich kennengelernt hatten, hatte er so wunderschön ausgesehen beim Schlafen, aber die Jahre hatten sein Gesicht nur reifer und stimmiger werden lassen. Um nichts wünschte sie sich in diese Zeit zurück, in der er noch nicht an ihrer Seite gewesen war.

~

Routiniert nahm Ellen den Funkruf entgegen, warf ihrer Kollegin einen kurzen Blick zu und stieg dann in den Wagen neben ihr. Sie war zu einem Routineeinsatz gerufen worden, ein Autounfall auf der A4, nichts besonderes. Während ihre Freundin und Arbeitskollegin Tabea das Auto lenkte, sah sie hinaus und konzentrierte sich bereits auf das, was folgen würde. Wahrscheinlich nichts schwerwiegendes, so hatten die Notfallsanitäter jedenfalls nicht geklungen, wohl eher zur Kontrolle. Jemand hatte bereits Erste Hilfe geleistet – eine Seltenheit, dass es noch solche Samariter gab.

Nach einigen Minuten und einer nervenaufreibenden Kurverei zwischen den rücksichtslosen, stur geradeaus fahrenden Autos hindurch, erschien die Unfallstelle in ihrem Sichtfeld und kurz darauf hielt der Wagen auf dem Seitenstreifen. Das Unfallauto war mit voller Wucht in die Leitplanke gekracht, der zerfetzte hintere Reifen ließ auch vermuten, woran das lag. Der vordere Teil wirkte unreparierbar zerstört und überall lagen Glassplitter herum. Ein Anblick, an den sie sich gewöhnt hatte – auch, wenn ihr diese Entwicklung nicht gefiel.

Einige Meter hinter dem zerstörten Fahrzeug hielt ein intaktes Auto, gefolgt von einem Rettungswagen. Im Zwischenraum lag eine verletzte Person, bei der es sich wohl um den Fahrer handelte, umringt von mehreren Notfallsanitätern. Sie hatte recht behalten, seine Verletzungen waren schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich. Noch hatte er die Besinnung nicht wiedererlangt, sie verluden ihn jedoch augenblicklich in den Rettungswagen, mit dem er in das nächste Krankenhaus gebracht werden konnte.

Erst jetzt nahm sie wirklich den jungen Mann wahr, der schon länger neben dem Unfallauto stand und unschlüssig umherblickte. Erst wollte sie ihn anfahren, er solle gefälligst aufhören zu gaffen, da fiel ihr ein, dass es einen Ersthelfer gegeben hatte und sie ihn wahrscheinlich vor sich hatte. Und so fiel ihre Begrüßung deutlich freundlicher aus, gefolgt von einigen Dankesworten an seine Hilfsbereitschaft.

Dann stieg sie erneut in den Wagen und sie fuhren wieder los, ebenfalls in Richtung Krankenhaus, um das Auto abzustellen und ihre Schicht zu beenden. Dort angekommen, erledigten sie die Formalitäten und zogen sich ihre gewöhnlichen Klamotten wieder an. Tabea und Ellen hatten vor, noch gemeinsam eine Pizza zu essen, und verließen nebeneinander den Gebäudekomplex. Draußen erwartete sie jedoch eine Überraschung: Der Ersthelfer des vorangegangenen Unfalls begegnete ihnen in der Tür, verlegen um sich blickend. Ellen bemerkte ihn als erstes.

„Entschuldigen Sie! Sind wir uns nicht soeben auf der Autobahn begegnet?" Er nickte abwesend und lachte dann bitter auf. „Sehen Sie, da habe ich geholfen, aber jetzt habe ich selbst eine Panne! Dabei wollte ich nur noch einmal nachschauen, wie es dem Armen so geht." Seine gespielte Verzweiflung brachte sie zum Lachen.

„Halb so schlimm! Rufen Sie den Abschleppwagen, ich fahre Sie nach Hause. Oder kommen Sie nicht von hier?" Er nannte ihr eine Adresse ganz in der Nähe der angestrebten Pizzeria, und stieg dann unter Dankesworten bei ihr und Tabea ein.

Einige Minuten unterhielten sie sich nett, dann kamen sie an der Pizzeria an. Ellen hielt und ließ Tabea aussteigen. Dann, einem plötzlichen Impuls folgend, lud sie den Mitfahrer ein, noch dabei zu bleiben und gemeinsam zu Abend zu essen. Er nahm dankend an und betrat nach einer erstaunlich kurzen Parkplatzsuche mit ihr den Laden.

Er war wie immer weit abgedunkelt und die groben Holzwände ließen ein Gefühl von Heimat aufkommen. Sie setzten sich zu Tabea an einen gemütlichen Ecktisch, der von einer schafsfellbedeckten Bank umrundet wurde. Hungrig kletterten sie auf ihre Sitzplätze und bestellten ihr Essen. Tabea hatte über Ellens eigenmächtige Handlung geschwiegen, sie jedoch vollauf akzeptiert.

Im Laufe des Abends entspann sich ein fesselndes Gespräch, und sie saßen weitaus länger in der heimeligen Ecke als üblich. Der Abschied von Luis, so hieß er, wurde schwer und die drei verabredeten sich, in einer Woche wieder hier zusammenzutreffen. Leise pfeifend ging Ellen neben den anderen beiden zum Auto und fuhr sie nach Hause.

Dann, an der eigenen Wohnung angekommen, kramte sie den Schlüssel hervor und legte sich dann ohne große Verzögerung ins Bett. Anstrengend war der Tag gewesen, und lang. Aber gelohnt hatte er sich auf jeden Fall, bei ihrer Arbeit lohnte sich jede Stunde.

Am deutlichsten standen ihr jedoch die vergangenen Momente am Abend vor Augen, insbesondere Luis konnte sie einfach nicht aus ihren Gedanken verbannen. Irgendetwas hatte er an sich, das sie faszinierte. War es sein attraktives Gesicht? Unwahrscheinlich, sonst ließ sie sich vom Aussehen anderer Personen doch auch nicht beeinflussen. Es musste sein starker Charakter sein, der ihr aufgefallen war.

~

Die Wochen vergingen, und Ellen begann die wöchentlichen Abendessen immer mehr zu erwarten. Hatte das erste ihr wegen des interessanten Gespräches Freude bereitet, so genoss sie mittlerweile vor allem die Anwesenheit der anderen beiden, insbesondere die Luis'. Sie ahnte mittlerweile, warum sie sich zu ihm hingezogen fühlte, spürte auch, dass es ihm nicht viel anders ging.

Mit ihrer Freundin in der Nähe traute sie sich jedoch nicht, dies anzusprechen, und wann anders sahen sie sich nicht. Erst Wochen später, Tabea war erkältet und darum eher nach Hause gefahren, saßen beide allein in der Ecke und schlürften an einem heißen Kakao. Es war Herbst, aber dafür ungewöhnlich kalt und die dampfende Tasse wärmte ihre steifen Finger. Selbst hier drinnen froren sie, obwohl sie ihre Jacken nicht einmal ausgezogen hatten.

Die Wand in ihrem Rücken, gegenüber ein prasselndes Feuer im Kamin und neben sich einen Menschen, den sie sehr gerne mochte – Ellen wusste nichts schöneres. Verlegen lächelte sie und sprach dann das aus, was ihr seit langem auf der Zunge lag. „Weißt du, Luis, irgendwie mag ich dich. Also so richtig, wenn du verstehst, was ich meine. Also, was ich eigentlich sagen will, ist, ähm..."

Sie wusste nicht weiter und blickte hilfesuchend in sein Gesicht, das sie bisher vermieden hatte anzusehen. Seine fein gezeichneten Gesichtszüge verzogen sich zu einem Lächeln und seine Augen sprühten warme Funken. Er antwortete nicht, nahm jedoch wie zur Bestätigung Ellens Hand in seine und legte den Kopf auf ihrer Schulter ab. Sie brauchten keine Worte mehr, um das, was zwischen ihnen geschah, auszudrücken.

Lange saßen sie da, bis der Wirt sie schließlich ermahnte, er müsse langsam schließen. Ellen bewegte sich zum ersten Mal seit einer halben Stunde und stieß Luis liebevoll in die Seite, erhielt jedoch keine Reaktion. Verwundert drehte sie sich um und erkannte belustigt, dass er auf ihrer Schulter eingeschlafen war. Sein schönes Gesicht wirkte ruhig und friedlich und es war ihr, als blicke sie auf einen Engel.

~

Vier Jahre war dieser wunderbare Abend nun her, und noch immer liebte sie den Mann wie bei ihrer ersten Begegnung. Bereits am nächsten Tag hatte sie Tabea davon erzählt, sie hatte nur wissend gezwinkert und ihnen Glück gewünscht. Seit zwei Tagen waren sie nun auch tatsächlich verheiratet, hatten sich einander versprochen und gemeinsam eine neue Wohnung bezogen.

In der Nähe lag ein See, den sie abends gerne besuchten, dessen schmaler Steg weit in das Wasser hineinreichte. Die Sommernacht umgab das glückliche Paar, das engumschlungen dort saß und den neuen Lebensabschnitt auf sich zukommen ließ.



Geschrieben von:  Karuna_Hoshi


Vorgaben:

Genre: Romantik
Figurentypen: Autofahrer, Arzt


Vielen Dank an Karuna_Hoshi für's Mitmachen! :)

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