61 | "Finale"

Natürlich starrten sie mich an. Ich stand in einem unprofessionell gekürzten Hippie-Kleid und pinken Rollschuhen vor ihnen. Den Sonnenhut hatte ich auch irgendwo verloren, vermutlich im Kofferraum bei dem phobasiastischen Transporter.

Aber ausnahmsweise fühlte ich mich nicht unwohl, dass man mich so sah. Besonders Sangster. Denn eines lenkte mich ab. Meine Eltern waren nicht da.

,,Wo sind Frank und Ella Mendley?", fragte ich erschöpft, aber mit einer ordentlichen Ladung an Wut.

Es dauerte einen Moment, bis sich alle an meinen Auftritt gewöhnt hatten.

,,Ruby.", machte Janson Bond, wie ich ihn im Motel getauft hatte, vorsichtig. Als wollte er mich beruhigen, und das, obwohl ich nicht mal gefährlich war. Als tat er das einfach, weil er freundlich war.
,,Du denkst, ich habe deine Eltern entführt, oder? Hat dir das Sangster erzählt?"

,,Ich habe nur gesagt, dass ihre Eltern verschwunden sind.", erklärte Sangster süffisant. Bei seiner Stimme kribbelte es in meinem Bauch, deshalb sah ich ihn erst gar nicht an.
Er ist böse, er ist böse, er ist böse, böse, böse, böse, böse...

Tu nicht so, als wäre das nichts attraktives, schmunzelte die Grinsekatze.

Das ist es auch nicht!, fand Alice. Sie war ein liebes Mädchen, das sich nicht leicht einen gemeinen Charakter wegen gutem Aussehen entschuldigte. Sie war lieb. Sie war frech und stur und verträumt und naiv, aber lieb.

,,Aber... meine Eltern sind doch hier.", stellte ich unsicher fest.
Plötzlich fühlte ich mich verloren. Wie früher, als ich mit Mama einkaufen war und ich sie nicht mehr finden konnte und das Einkaufszentrum war so groß und ich hatte angefangen zu weinen und keiner konnte mir helfen...

,,Ja. Sie sind hier." Janson Bond nickte.

,,Halten wir uns doch lieber mit dem Standort des USB-Sticks auf.", knurrte mein Entführer.

Janson blickte zwischen uns beiden hin und her. Ich machte den Fehler, seinem Blick einmal zu folgen und starrte Sangster deshalb direkt in die Augen. Sein Gesicht war ausdruckslos, bis auf das kurze Zucken seiner Wangenknochen.

,,Ruby, deine Eltern sind freiwillig mitgekommen, als ich erzählt habe, was mit dir passiert ist. Sie wollten mir helfen, damit sie leichter an dich herankommen.", fuhr Rattingman fort. Sangster zischte genervt auf und ich sah aus den Augenwinkeln, wie seine Jungs und die von Janson langsam ihre Waffen checkten.
Ich war unbemerkt weiter in den Saal getreten, wo ich mich jetzt sehr unsicher fühlte.

,,Helfen?", wiederholte ich irritiert. Mein Vater war Autor, meine Mutter Krankenschwester. Was konnten sie in der Gangster-Branche groß anfangen?

,,Kleinigkeiten. Einfache, harmlose Dinge.", wiegelte Janson ab. ,,Jetzt zum Beispiel habe ich sie mit dem USB-Stick weggeschickt, damit er in nicht in die falschen Hände gerät."

,,Meine Eltern haben ihn?!" Meine Stimme wurde unangenehm schrill.
Sangster würde sie aufspüren und in ihre Einzelteile zerlegen. Jedenfalls sah er gerade so aus.

,,Da wäre ich mir nicht so sicher.", ertönte eine Stimme hinter mir.
Als ich mich umdrehte, grinste mich Dylan gewinnerisch an, mit einem USB-Stick in seiner Hand. Mit dem USB-Stick.

Wenn meine Eltern ihn eigentlich haben sollten, wieso stand jetzt er damit vor uns?
Ich reagierte schneller, als ich schaltete.

Mit einem unterdrückten Schrei stürzte ich mich auf ihn. Einen der Rollschuhe hatte ich erhoben und direkt auf seinen Schoß gerichtet. Keine Ahnung, ob ich ihn richtig erwischte, als ich mich auf ihn krachte.

Irgendwie trat ich ihn mehrmals, als wir am Boden lagen und tat irgendwas mit seinen Händen, sodass er mir nicht ins Gesicht boxen konnte. Und irgendwie hatte ich so plötzlich etwas kleines, kaltes in der Hand. Den USB-Stick.

Vor Überraschung hielt ich kurz inne, weshalb Sir Blackhair mich von sich stoßen konnte.
,,Was machst du da, hol ihn zurück!", befahl Sangster. Ich hörte, wie Dylan zischend fluchte und dieses Mal kroch ich auch - vernünftigerweise - weg von ihm. Er stand hastig auf und eilte auf mich zu.

Halt dich fern, halt dich fern, HALT. DICH FERN!, kreischte Alice. Der Hutmacher knurrte wie eine Katze und Grins beschimpfte ihn wüst.

,,HALT DICH FERN VON MEINER FREUNDIN!", kreischte auch noch jemand anders. Und schon wieder blickten alle in Richtung Tür.
Cassandra stand dort Wut schnaubend, doch sie stand nicht lange.
In der Zeit, in der sie auf Sir Blackhair zuraste, erklang folgendes Gemurmel:

,,Cassandra." Von mir, und zwar freudig überrascht.

,,Cassandra." Von Dylan, und zwar überaus verträumt. Wie niedlich.

,,Cassandra?" Von Janson, der so aussah, als wären ihm mittlerweile zu viele Teenagerinnen in seinem Leben.

,,Cassandra." Von Sangster, der resigniert seufzte.

,,Uh, ich glaube sie macht ihn jetzt fertig." Von Minho, der gespannt dabei zusah, wie Cass sich auf Sir Blackhair warf.

Sie riss ihn brutalst um, beide gaben erstickte Laute von sich. Allerdings sah sie dabei wahnsinnig scharf aus. Während ich vorhin ebenfalls am Boden strampelte, hockte sie auf ihm, als wäre sie gerade auf ein Pferd gestiegen. Er wehrte sich nur halbherzig dagegen und es sah insgesamt so aufregend heiß aus, dass der Rest ihnen einige Momente lang zusehen musste.

Sie rollten sich herum, einmal war er oben, dann wieder sie. Cassandra versuchte ihn zu schlagen und traf ihn auch oft, allerdings nicht wirklich fest, außerdem musste er sich nur damit begnügen, ihre Hände unter Kontrolle zu bringen, denn er konnte wohl kaum auf das Mädchen einprügeln, dass er gern hatte. Anders als Sangster. Fick Sangster, zischte Alice.

,,Was?!", hauchte ich perplex.

Entschuldigung, auf englisch klingt es weniger... Sex-haft, gab Alice beschämt zu bedenken.

,,Okay, ich denke, wir sollten den beiden ihre Privatsphäre geben und uns auf das eigentliche Thema konzentrieren.", warf mein Entführer ein.

,,Ehrlich, Leute, nehmt euch Zimmer.", meinte auch Laseraugen Lester. Cassandra schrie gepresst auf vor Raserei, denn irgendwie lag Dylan gerade mit seiner Wange auf ihrem Mund. Wenn er jetzt seinen Kopf ein wenig drehen würde...

Ich glaube, genau das versucht er gerade, fand die Grinsekatze.

,,Nein, das tust du nicht!", rief ich und wollte ihm meine Rollschuhe an den Kopf knallen. Aber Alice hielt mich auf, indem sie kreischte: Doch, tu es! und meine Arme festhielt.

Cassandra trat ihm plötzlich so fest zwischen die Beine, dass er sich augenblicklich von ihr rollte. So konnte sie wieder auf ihn klettern und tat etwas, bei dem man einfach wirklich nicht wegsehen konnte - sie presste ihre Lippen fest auf seine.

Meine Fantasiefreunde zerquetschten mir vor Freude die Gliedmaßen und ich, die jetzt wirklich sicher war, dass es ihre Entscheidung war, erleidete eine kleine Herz-Explosion vor Glück.

,,Wow, das ist wirklich... spannend, aber mir reichts jetzt.", murmelte Janson. Er nickte seinen drei Bodyguards zu und im selben Moment richteten sie ihre Waffen auf mich.

Das traf mich zutiefst. Ich meine, ich wusste, warum sie es taten - ich war die, mit dem Ring der Macht. Aber ich nahm es trotzdem persönlich. Janson Bond war doch so höflich zu mir gewesen.

,,Hey, wenn Sie auf meine Tochter zielen, wars das mit der Allianz.", fauchte eine Stimme hinter mir. Und wegen dieser Stimme machte ich mir vor Erleichterung fast in die Hose.
Es war Mama.

,,Noch jemand, der reinplatzt. Toll." Laseraugen Lester verdrehte die Augen.

,,Schatz, es ist unsere Tochter.", warf mein Vater beschwichtigend ein, hatte aber ebenso wie sie eine Pistole erhoben und war hinter mich getreten. Ich rappelte mich langsam auf.

,,Mama, Papa!", machte ich. Ich konnte nicht mal mehr richtig sprechen. Mit rasendem Herzen sah ich sie an, fand jedoch keine Worte. ,,Papa, Mama...", versuchte ich erneut.
Sie hatten beide ein paar blutige Schrammen im Gesicht, sahen aber sonst völlig in Ordnung aus.

,,Ich hab dich so lieb, Mäuschen."

,,Wir haben uns riesige Sorgen gemacht, Ruby-Spazi."

Ich war so glücklich, dass es mir nicht mal allzu viel ausmachte, wie sie meine Kosenamen hier groß und breit vor meinen Freunden, meinem kriminellen Liebhaber und einem Typen, den ich noch nicht einteilen konnte, herumposaunten.

,,Wie süß, ein Wiedersehen, aber ich hasse es, mich dauernd wiederholen zu müssen. Ich will den beschissenen Stick.", fluchte Sangster.

Der Hutmacher warf einen Stock nach ihm, doch das half nicht wirklich. Außer, dass Grins ihm kläffend und bellend hinterher jagte.

,,Tja, ich will ihn aber auch.", fügte Janson hinzu.
Seine Männer zielten auf mich und meine Eltern, bis plötzlich Minho und Laseraugen Lester auf zwei von ihnen ihre Waffen richteten. Dann gab es ein kleines Durcheinander. Meine Eltern zielten irgendwie auf alle, außer auf Team Mendley. Janson ließ seine Leute ebenfalls auf alles außer sich selbst zielen, während er Sangster ins Visier nahm. Deshalb holte Minho eine zweite Waffe raus und deutete damit genau auf Rattingman. Lasersaugen Lester konnte sich nicht entscheiden, wen er abknallen sollte und wanderte mit dem Lauf seiner Pistole im Kreis herum.

Sangster selbst hatte seine Waffe noch nicht erhoben. Erst jetzt machte er sie langsam bereit und was er damit tat, ließ mich pikiert den Mund aufreißen.

Er zielte auf mich.

Wäre ja nicht das erste Mal, stellte der Hutmacher fest.

Irgendwie traurig, bemerkte Alice.

Oh, das nahm ich persönlicher, als Jansons Aktion. Ich nahm das verdammt persönlich. Mit einer gigantischen Ladung an Trotz und Streitlust holte ich ebenfalls meine Pistole raus. War sie eigentlich entsichert? Naja, egal, das musste niemand wissen.
Blöd wäre es nur, wenn ich dann wirklich schießen sollte.

Cassandra saß immer noch auf Dylan, doch beide hatten aufgehört, ihre Lippen eine eher weniger diskrete Orgie aufführen zu lassen und hielten ihre Waffen in der Hand. Sir Blackhair lag unter ihr und zielte auf Janson, während Cassandra Laseraugen Lester fixiert hatte. Sie sahen cooler aus, als diese Agenten-Pärchen in Filmen.

Hinter uns erklang gehetztes Gekeuche und Gemurmel, sodass sich schon wieder alle Blicke auf den Eingang richteten.
Henry, Seth, Joel, Schwarzeneggi Senior zusammen mit Murat, Alex und zwei Merry Men kamen halb kämpfend, halb rennend durch die Türe.

,,Verdammt, kann die mal wer zusperren?", beschwerte sich Minho.

Die Teams hatten sich vergrößert. Meine Freunde kamen offensichtlich zu mir und meinen Eltern, während der Rest sich zu den beiden Gangoberhäupten gesellte.
Und wieder begann ein kleines Chaos. Jeder zielte auf jeden und manche hatten Probleme, Freunde von Feinden zu unterscheiden. Besonders Alex. Natürlich Alex.

,,Hey, Ruby.", flüsterte Henry mir zu. Ich grinste ihn nervös an.

,,Wartet, wieso sitzt Cass auf Dylan und wieso zielt Marlengster auf einander?", hakte Seth nach, bevor irgendjemand sonst das Schweigen brechen konnte.

,,Es gab heiße Gefühlsausbrüche während der Rauferei und Marlengster hat schon wieder Beziehungsprobleme.", erklärte Laseraugen Lester.

,,Mir gefällt es nicht, dass meine große, verschwundene Liebe sich einen Namen mit meinem Erzfeind teilt.", grummelte Janson.

,,Ich wüsste wirklich gerne, was hier abgeht.", warf einer der Merry Men ein.

,,Das sind Sangster Gangster Insider. Verstehst du nicht.", machte Alex schadenfroh. Fehlte nur noch, dass er ihm die Zunge rausstreckte.

,,Ja, wir sollten den Namen wirklich ändern."

,,Ihr solltet die Klappe halten!", unterbrach sie Sangster. ,,Ruby, sei so lieb. Gib mir den Stick."
Er klang hart und gleichzeitig auf eine sarkastische Art freundlich.
,,Nein.", murmelte ich, die Stimme versagte mir fast.

,,Sei nicht dumm.", spottete mein Entführer und blickte einmal kurz auf die Pistole in seiner Hand, die auf mich gerichtet war.

,,Beleidige nicht meine Tochter!"

,,Unsere, Schatz."

,,Oh, bitte, wir wissen doch alle, dass ihr beide euch nicht erschießen werdet.", stöhnte Janson Bond auf. ,,Generell wird niemand die nette Ruby erschießen. Entweder gehören alle zu Sangster, die es nicht wagen würden, seine Geliebte-"

,,RUBY, WAS?!", kam es von meinen Eltern.

,,-vor seinen Augen abzuknallen und weder ihre Freunde, noch Familie Mendley würde ihr selbstverständlicherweise etwas tun. Dafür liebt ihr sie alle zu sehr."

,,Äh...", räusperte sich Minho subtil.

,,Natürlich, sie ist ja meine Tochter!", kicherte Murat, doch was eigentlich ein leiser Scherz sein sollte, wurde von meiner echten Mutter gehört und mit einem bitterbösen Blick quittiert.

,,Ihr werdet nicht auf einander schießen.", wiederholte Janson, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen.

,,Sicher?", fragten wir beide gleichzeitig.

,,Ihr liebt euch." Bevor wir dazu ein paar abfällige Kommentare ablassen konnten, fuhr Rattingman wieder fort.
,,Aber ich liebe dich nicht, Ruby. Tut mir leid."
Letzteres schien er wirklich ernst zu meinen, was mich verwirrte. So wichtig war mir seine Liebe jetzt nicht unbedingt.

Ich brauchte selbst dann noch ein paar Sekunden, nachdem ein Schuss gefallen war. Aus Janson Bonds Pistole, die auf mich gerichtet war.

Viele schrien, was mich geschmeichelt hätte, wenn ich nicht zu sehr damit beschäftigt wäre, mich abknallen zu lassen. Vermutlich schrie sogar ich, aber ich war mir sicher, dass es mir einfach zu schnell ging. Was ziemlich blöd war, denn ein ordentlicher Schrei konnte sehr befreiend sein.

Am deutlichsten war es aber Alice die schrie. Grins stellte es die Haare auf, der Hutmacher erstarrte und ließ seine Kanne fallen, weshalb plötzlich der ganze Raum nach Kräutertee roch.

Wenn das meinen Tod bedeutet hätte, wäre das eine nette Art zu sterben. Umgeben von Familie und Freunden und einem Abenteuer und dem Geruch von Kräutertee mit einem Schuss Zimt.

Noch überraschender als dieser Geruch war aber, dass Alice sich vor mich warf.

Ich sah es zwar nicht in Zeitlupe, trotzdem wusste ich genau, was sie tat. Sie war einfach plötzlich vor mir, mitten ihrem schrillen "NEIN!".
Mir stand der Mund offen. Ich hatte nicht mal Zeit, auf den Schmerz oder eine Blutung zu warten. Denn ich merkte schnell, dass ich nicht getroffen wurde.
Und zwar weil Alice auf einmal zu Boden ging.

Zuerst hatte sie nur etwas gestockt, dann knickten ihre Knie ein und sie hatte ihren Arm auf den Bauch gepresst. Parallel hielt auch ich meine Körpermitte umschlungen. ,,Nein.", machte ich hilflos, da meine Stimme wie eingerostet war.

Alice lag gekrümmt am Boden und schaffte es nur mühevoll, sich umzudrehen.
Unterdessen schrien viele meinen Namen und Schüsse erklangen. Ich fühlte Hände auf meinem Rücken und Finger, die versuchten, meinen Arm von einer Stelle wegzureißen, an der es eigentlich eine Wunde geben sollte.
,,Nein!", krächzte ich.

,,Ruby! Ruby, beruhig dich. Joel hat die Polizei längst gerufen, es kommt eine Rettung, Ruby alles wird gut." Jemand schluchzte.

,,NEIN!", kreischte ich wand mich hin und her.

,,Ruby-"

,,NEIN! LASST MICH LOS ICH MUSS ZU ALICE!" Ich zwickte mehrere Leute und biss sogar nach jemandem. Irgendwie hatte ich mich geschafft, aus all diesen Griffen rauszuwinden und stolperte auf die kleine, blutende Alice zu.

Ruby..., wimmerte sie. Ruby es tut weh.

,,Alice, Alice, Alice..." Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich warf mich ebenfalls zu Boden und versuchte ihr Kleid ein wenig aufzureißen. Der Hutmacher zitterte, weinte und hatte vermutlich selbst bereits Wahnvorstellungen.

,,Alice, da ist so viel Blut. Aber das ist gut, dann kann es heilen. Es heilt. Nicht schnell, aber es wird wieder, Alice. Du musst nur viel Tee trinken, oder Hutmacher? Tee und Gemüsesuppen." Unglaublich, dass ich nicht mal merkte, wie ich schluchzte.

Ruby, mach, dass es aufhört.

,,Ruby, scheiße, was hast du?", fragte mich jemand. Entweder Seth oder Joel.
Ich drehte mich zu ihnen um.
,,Alice stirbt.", weinte ich. ,,Er hat Alice angeschossen." Janson hatte Alice angeschossen. Das wurde mir jetzt wieder bewusst.
,,DU HAST ALICE GETÖTET!", kreischte ich Rattingman an. Alice schluchzte auf.

In seinem Gesicht sah ich keine Reue, dass er so ein unschuldiges Kind kaltblütig erschossen hatte. Aber es war auch keine Genugtuung.
Es war Angst. Verwirrte, verständnislose Angst. Und nicht unbedingt um ihn.

,,Ruby...", flüsterte meine Mutter.

Ich wandte mich zu ihr um. Ich wandte mich zu allen um. Egal wo ich hinblickte, Janson war nicht der einzige, der mich so ansah.
Alices Unterkörper war bereits voller Blut und der Boden unter ihr besaß bereits eine rote Pfütze. Ihr Kleid, das Kleid, das jede Version von ihr hatte, sah aus wie ein missglücktes Halloweenkostüm.

Es war so viel Blut und es klebte auch an meinen Händen. Unmöglich, dass das niemand sah.
Wieder suchte ich nach einem Funken des Erkennens in ihren Blicken. Aber sie waren voller Distanz, als wäre ich eine Fremde.

,,Kleines, bitte steh auf. Komm her. Lass dich ansehen.", hauchte mein Vater.

,,Sie hat bestimmt einen Schock durch den Schmerz.", flüsterte jemand.

,,Und wieso blutet sie nicht?"

Keiner verstand mich.
Mein Vater kam langsam auf mich zu und reichte mir die Hand. Als ich sie nicht annahm, griff er nach meiner.
,,Nein!", fauchte ich.

,,Ruby!"

,,NEIN!", schrie ich. ,,NEIN, WIESO GLAUBT IHR MIR NICHT. ALICE STIRBT, JEMAND MUSS IHR HELFEN! DA IST ÜBERALL BLUT, SAGT NICHT, IHR KÖNNT DAS SEHEN!" In keinem der Gesichter gab es Anzeichen, dass sie es taten. ,,Bitte, bitte...", flehte ich etwas ruhiger, damit sie mir vertrauten. ,,Henry?" Ich sah meinen Freund an. Er wich reflexartig einen Schritt zurück, als sich unsere Blicke trafen.
Das tat weh.

Aber mir viel noch jemand ein, der verarzten konnte. Nicht meine Mutter, denn sie hatte mich einmal wegen meiner Fantasiefreunde in eine Therapiesitzung geschleift. Damals war es allerdings nicht so schlimm.

Damals waren sie noch nicht vor meinen Augen verblutet.

Ich starrte Sangster an. Er blieb wo er war, seine Stirn leicht gerunzelt und sein Blick konzentriert. Ich musste wahnsinnig aussehen, mit den aufgerissenen Augen und dem pansichen Gesichtsausdruck und mit dem Blut auf meinen Händen, das nur ich sehen konnte.
,,Bitte hilf Alice, der Hutmacher wird ganz verrückt und die Grinsekatze kann nicht einfach die Wunde sauber lecken, und Alice stirbt sonst. Alice, sag was. Alice? ALICE!"
Ich begann meine blonde, zierliche Freundin wachzurütteln, doch das tat ihr weh und sie weinte wieder.
,,Nein, es tut mir leid, nicht weinen, nicht weinen...", heulte ich, während ich ihr beruhigend durch die Haare fuhr.

Für alle anderen tastete ich vermutlich gerade wirr in der Luft herum.

,,Und nicht sterben, bitte stirb nicht." Ich schluchzte ein paar Mal stark, bevor ich wieder sprechen konnte.

Mir ist kalt, Ruby. Mir darf nicht kalt sein.

,,BITTE LASS SIE NICHT STERBEN!", kreischte ich meinen Entführer an.
Sein Blick war berechnend, als würde es gerade nicht um Leben und Tod gehen. Er sah mich an, anstatt Alice, die wichtiger war. Und langsam kam ein Ausdruck in seine Augen, der einen kleinen Schatten über mich warf.
Jetzt wusste Sangster, was mit mir los war.
Endlich hatte es sich geklärt. All diese Selbstgespräche, das Kichern, die Wunden, die ich mir vielleicht in meinen Wahnvorstellungen selbst zugefügt haben könnte - für ihn war ich eine Verrückte.

Und nicht nur für ihn. Murat, Schwarzeneggi Senior, Alex, Minho, Laseraugen Lester; sie alle sahen mich so an. Selbst meine Freunde. Meine realen Freunde. Cassandra standen Tränen in den Augen und Dylan hielt sie fest, falls sie versuchen könnte, auf ihre wahnsinnige Freundin zu zu gehen. Henry, Seth und Joel sahen sehr benommen aus und schienen mich nicht wieder zu erkennen.
Nicht einmal meine Eltern, die halbwegs wussten, was mit mir los war.

Im Hintergrund hörte ich laute, aufgeregte Stimmen. Hinter der Türe musste gerade etwas Wichtiges geschehen.

,,ICH BIN NICHT VERRÜCKT, HELFT MIR!", brüllte ich alle an. ,,BITTE, ICH BIN SO WIE IMMER, ALICE UND DEN HUTMACHER UND DIE GRINSEKATZE GAB ES IMMER SCHON, SIE WAREN IMMER BEI MIR, ICH BIN IMMER NOCH DAS SELBE ROTKÄPPCHEN!"

Die Türe wurde aufgerissen. Leute stürmten herein. Ich wusste nicht, ob darunter Sanitäter waren, doch ich schrie weiter nach Hilfe für Alice.
,,Wir sind das FBI und die Polizei von Chicago, New York und Washington. Das Gebäude ist umstellt, lassen Sie die Waffen fallen und geben sie die Arme nach oben. Sie sind in der Unterzahl.", rief ein Mann in Unform.

Ich hockte immer noch vor Alice, kreischte nach Hilfe, versuchte Grins von Alices Wunde fernzuhalten und klammerte mich an den Hutmacher. Niemand half Alice. Ich beachtete die anderen nicht mehr und presste meine Hände irgendwie auf die Wunde meiner liebevollen Freundin. Sie reagierte darauf nicht mehr, nicht mal ein Wimmern. Selbst dann nicht, als der Hutmacher sie ohrfeigte. Zuerst leicht, dann aus Panik immer fester.

Plötzlich wurde ich gepackt. Man hielt meine Arme fest und ich konnte spüren, dass es starke Personen waren. Sie zerrten mich weg von Alice und mir war es egal, wie ich mich verhielt. Vermutlich spuckte ich, während ich schrie, schimpfte und weinte. Unter meinem ständigen Schluchzen daneben, bekam ich kaum noch Luft und all das Geschrei und Gebettel kam nur noch stockend aus meiner Kehle.

Aber niemand hörte auf mich. Man ließ Alice da einfach liegen. Ich wurde von ihr weggeschliffen und ließ ihren kleinen, blutigen Körper dabei nicht ein einziges Mal aus den Augen.

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