59 | "Sorry, Phobasiast"

,,Und mit neun hab ich mir dann zum dritten Mal die Nase gebrochen."
Unser Fahrer sprach schon ununterbrochen seit zehn Minuten von jeder Verletzung, die er je gehabt hatte. Und wir waren erst bei seinem neunten Lebensjahr.

Der Topf drückte sich unangenehm in meinen Hals und Seth stöhnte alle drei Sekunden auf. Nach dem siebten Mal gab Cassandra es auf, ihn Perversling zu nennen. Immerhin konnten wir ihn verstehen. Es war eng, heiß und unsere Klamotten stank nach einer Altkleidersammlung, die man mit Essig übergossen hatte.

,,Ich halt das nicht mehr aus.", flüsterte Cassandra. Vorne unterhielten sich die Jungs extra laut, also bemerkte der Fahrer nichts.

Gib ihm endlich einen Namen!, flehte Alice.

Und welchen?, fragte ich sie.

Dein Problem, nicht unseres, fand der Hutmacher.

,,Wow, danke.", hauchte ich missmutig.

Cass dachte, das ging an sie. ,,Das hat nichts mit dir zu tun, Rotkäppchen. Du und Seth könntet vielleicht nur etwas kleiner sein. Und besser riechen. Und eine Kühlfunktion haben."

,,Wow, danke.", kam es jetzt von Seth.

,,Deine Worte wirken ziemlich kühlend auf mein Herz.", schnautzte ich sie an. Sie kicherte und tätschelte irgendwas, was sie für mein Bein halten musste. Irgendwann räusperte sich Seth aber: ,,Das ist mein Unterleib, Cass."

Unsere Freundin hielt erschrocken inne. ,,Perversling!", fauchte sie dann.

,,Ich? Du hast mich begrabscht!"

,,Das wünscht du dir wohl..."

,,Nein, ich bin dafür, dass du deine Hände da lässt, wo sie hingehören. Bei Dylan."

Cassandra trat nach Seth.

,,Was war das?", fragte unser Fahrer.

Ruby, der Name!

,,Äh, ich. In meinem Schuh ist glaub ich ein Stein.", murmelte Joel entschuldigend. Dann fuhr der Fahrer - RUBY! - mit seiner Lebensgeschichte fort.

,,Ja, wisst ihr, mir ist mit elf mal was ganz Peinliches passiert.", meinte er dezent beschämt.

,,Was denn?", hakte Henry höflich nach.

,,Puh, äh, also... wow, ich bin wirklich froh, dass keine Mädchen da sind."
Oh. Jetzt wurdes es interessant. Cassandra und ich drehten uns die Köpfe zu und obwohl wir unsere Gesichter kaum sahen, wusste ich, dass sie grinste. Ich grinste ebenfalls.
,,Ja, und keine Asiaten. Die machen mir Angst. Ihre zusammengekniffenen Augen geben mir das Gefühl, als würden sie mich auslachen."

Seth schnaubte leise auf. ,,Rassist!"

,,Hey, lass ihn! Er hat Phobasia.", kicherte ich gepresst. Cassandra lachte gegen ihre Hand. ,,Er ist Phobasiast!", japste sie.

,,Wohl eher Phobasi-spast.", kommentierte Seth beleidigt. Wir prusteten los, und uns wahllos Körperteile gegen den Mund zu pressen, half nichts mehr.
Vermutlich tötete der Gestank hier hinten gerade unsere Gehirnzellen ab.

Joel und Henry begannen sofort mit einem ohrenbetäubenden Hustenanfall, sodass unser Fahrer keinen Verdacht schöpfte. RUBY, ICH WILL SOFORT EINEN KREATIVEN NAMEN HÖREN, ODER ICH KNALL DEINEN KOPF GEGEN DEN TOPF UND- HEY DAS REIMT SICH JA!

Alice vergaß kurz ihre Drohung, doch ich wusste, dass ich mir schnell etwas einfallen lassen musste. Der Hutmacher und Grins hatten mir bereits weh getan.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die dritte Fantasiefigur handgreiflich wurde.

,,Phobasispast.", flüsterte ich. Es war für Alice und das wusste sie. Ich hörte sie beschwichtigt kichern. Zusammen mit Cassandra; irgendwie vermischten sich ihre Stimmen.

,,...Ja, also... okay. Euch beiden kann ich es ja sagen.", seufzte Phobasispast. Cass, Seth und ich spitzten im Kofferraum neugierig die Ohren. Natürlich taten wir das, schließlich ging es hier um etwas, das wir nicht hören sollten.
,,Ich-"

,,Stopp!", brüllte Henry panisch dazwischen. Seth stöhnte enttäuscht auf. Lasst uns hören, was der Phobasispast zu sagen hat! Alice klatschte aufgeregt in die Hände, der Hutmacher schnurrte.

,,Hä, warum?", wollte der Kerl wissen.

Kurz war es still. Dann ertöhnte Joels Stimme.
,,Ich bin ein Mädchen, Pete." Es klang so, als würde er es mit all seinem Mut aus seiner Kehle würgen. ,,Ich... schäme mich ein wenig, weil ich eigentlich noch nicht... für dieses Outing bereit war."
Keiner, weder Henry noch Phobasispast, oder wir im Kofferraum, antworteten darauf.
,,Ich mache eine Geschlechtsumwandlung und bin bald völlig weiblich. Deshalb solltest du dieses Geheimnis nicht sagen. Es gibt ein Mädchen im Auto... und das bin ich."

,,Wow.", machte der Fahrer.

,,Wow.", kam es gepresst von Henry.

,,Was zum Fick.", hauchten Seth, Cassandra und ich im Chor, bevor wir uns wieder irgendwas gegen den Mund pressten, um nicht loszugackern.

,,Deshalb also der Rock.", stellte Phobasispast fest.

Ich bekam Tränen in den Augen, während Cassandra in meinen Bauch hineinlachte, weshalb ich sie vibrieren spürte. Das machte es noch schwerer, leise zu bleiben. Seths Beine zuckten, er klang wie eine erstickende Robbe.

,,...Ja.", murmelte Joel. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er gerade mit roten Wangen und einem schmalen Mund auf seine Füße starrte.

Ein Laut, von dem ich kurz dachte, er käme aus dem Kofferraum und würde uns verraten, erklang.
Es war einer dieser Laute, die man oft machte, wenn ein unterdrücktes Lachen doch kurz aus der Kehle schlüpfte.

,,Henry, weinst du?", fragte Phobasispast.

Sofort wusste ich, dass Henry dabei war, an seinem Lachkrampf zu verrecken. ,,Nein.", erwiderte er mit einer sehr hohen Stimme.

,,Aber du hast Tränen in den Augen. Und deine Schultern zucken. In meinem Kurs für Körpersprache haben wir gelernt-"

,,Ja, ich gebs zu. Ich weine. Joels Outing hat mich so berührt."

Cassandra stockte für einen Moment. Wir beide taten das, denn wir bekam einfach keine Luft mehr. Das war zu viel. Seth gluckste leise auf, sein Gesicht war vermutlich ebenfalls so heiß wie die Steine um ein Lagerfeuer.
Auch Henry verlor da vorne die Kontrolle.

,,Joel... ich... danke dir, für deine Ehrlichkeit.", begann Phobasispast. ,,Und du sollst wissen, dass ich dich so akzeptiere, wie du bist." Langsam hörten wir auf zu lachen, immerhin war das wahnsinnig lieb.

,,Und ich werde es trotzdem sagen. Ich meine, du weißt trotzdem, wie es ist, männliche Geschlechtsteile zu haben. Und bei dir passieren da unten bald krassere Dinge. Also, ich leg los. Ich muss das loswerden."

Joel und Henry versuchten anscheinend noch, ihn zu unterbrechen, doch Phobasispast oder Transporter (ein improvisiertes Wortspiel mit Trans und Support, auf das ich sehr stolz war) fuhr gnadenlos über sie hinweg:

,,AAAHHH, RUBY HÖR NICHT HIN, NEIN, DAS LASS ICH NICHT ZU!"

Alice hatte im selben angefangen zu kreischen, deshalb konnte ich keines von Transporters Worten verstehen.
Doch die anderen schon.
Darunter selbstverständlich Seth, der sich nicht mehr halten konnte - und lautstark losprustete.

,,Was ist das?!", rief der phobasispastische Transporter.

Ich hörte vor Schreck auf zu atmen, Cassandra hielt sich zwar geschockt, aber immer noch belustigt die Hand vor den Mund und Seth starb noch immer vor Lachen, ohne auch nur zu versuchen, seine Lautstärke zu verringern.

,,Gar nichts!", kam es panisch von Henry.

,,Da ist jemand im Kofferraum!"

,,Nein!", fuhr ihn Joel an. Gutes Gegenargument.

,,Ihr habt da jemanden mitgeschmuggelt."

,,Nein!", machte Joel wieder.

,,Oh fuck, ihr seid diese Kinder, die letztens eingedrungen sind."

,,Nein!"

,,UND DIESE MÄDCHEN UND DER ASIATE SIND IM KOFFERRAUM!", stellte phobasispastischer Transporter wütend fest.

Das Auto wurde sehr schnell sehr langsam. Doch dann ertönte ein Klicken, und noch eines. Joel und Henry bedrohen ihn mit ihren Waffen, erklärte mir Alice gespannt, weil sie als Einzige sehen konnte, was da vor ging.

,,Okay, Folgendes: du fährst uns zu diesem Gang-Kampf. Du stellst nichts Blödes an, sondern... tust einfach, was wir sagen.", hörten wir Henry sagen.

,,Genau, wir sind in der Mehrzahl!", schrie Cassandra vom Kofferraum aus.

,,Also immer schön den anderen Gangster-Autos nach.", rief Seth tadelnd.

,,Und beeil dich, es ist eng!", befahl ich ihm ebenfalls.

,,Du hast die drei gehört.", raunte Joel so lässig wie er konnte.

      🔫🔫🔫

Der Rest der Fahrt war nicht mehr so nett verlaufen. Jeder schwieg, jedenfalls nachdem Seth, Cass und ich ein paar Minuten lang puren Mist gelabert hatten, um es auszunutzen, dass wir endlich laut sein konnten.

Als wir dort ankamen, hüpften wir als erstes aus dem Kofferraum, während Joel und Henry weiterhin auf den Phobasiasten zielten.

Zu dritt knebelten und fesselten wir ihn mit ein paar Seilen, die auf der Rückbank gelegen hatten. Ich merkte, wie verlegen Cass und Seth waren, da sie sein Geheimnis jetzt wussten, wo sie doch die Letzten waren, die es hören sollten. Und deshalb war auch der Transporter ziemlich verlegen. Was mich ebenfalls verlegen machte, obwohl ich das Geheimnis nicht mal wusste.

Am Schluss traten wir alle einen Schritt zurück, auch Jo und Seth, die die Waffen immer noch halb unsicher ausgestreckt, und starrten ihn an.

Hinter uns stand ein mittelgroßes Gebäude, das sehr heruntergekommen war. Das Hauptquartier der Merry Men.
Und die meisten der Sangster Gangster hatten es bereits betreten. Es hatte anfangs viele Schüsse gegeben, weshalb wir noch abseits im Auto sitzen blieben, bis man die Festung des Rattenmannes stürmen konnte.

Und jetzt war es soweit. Ein entschuldigender Blick von uns fünf in Richtung phobasispastischer Transporter, dann dröhnten wir ein einstimmiges "Sorry".

Ich fühlte mich heldenhaft, als ich umgeben von meinen heldenhaften Freunden im Helden-Gang auf die Eingangstür zuschritt. Oder rollte, in meinem Fall. Dann sah ich mich im Spiegelbild der Glastür und mir verging es. Wir sahen aus, als hätte uns ein Kleidercontainer verschluckt und an einer Hippie-Party wieder ausgespuckt.

Drinnen stockte uns der Atem.
Da lagen Leute auf dem Gang - und die meisten davon bewegten sich nicht mehr.

,,Scheiße...", hauchte Seth.

Henry kniete sich zu dem hinunter, der ihm am nächsten lag. ,,Henry, lass das!", rief Cassandra.
,,Hab Respekt vor den Toten!", zischte Joel.
Henry ließ sich davon nicht aufhalten und griff nach seinem Puls.

,,Ich bin nicht tot.", raunte der Kerl am Boden. Henry kreischte auf und ohrfeigte ihn.

,,Oh, fuck!", brüllte der Untote.

,,Oh, fuck!", brüllten auch wir, bis auf Joel.
Der brüllte Folgendes:
,,Henry, ich sagte doch, du sollst Respekt vor den Toten haben!"

,,Ich. Bin. Nicht. Tot.", wiederholte der Untote.

Ich blickte den Flur entlang. Die Jungs schienen doch noch zu atmen. Die Mehrheit, jedenfalls. Bei denen, an denen ich zu viele rote Flecken entdeckt hatte, sah ich lieber nicht mehr genau hin.

Man hörte weiter weg laute Geräusche wie Schreie, Schläge, Schüsse und irgendjemand sang außerdem "Y.M.C.A". Es klang verdächtig nach öliges-Haar-und-Akne-Erics schriller Stimme.

Ohne den Untoten und seine kleine am Boden rastende Armee weiter zu beachten, gingen wir langsam auf das Eck zu, hinter dem der Kampf im vollen Gange sein musste.

,,Halt endlich die Fresse!", dröhnte jemand. Ein dumpfer Schlag ertönte, dann hörte Problemhaut-Erics Gesang auf.

Im nächsten Moment bogen wir um die Ecke. Der Gang war breiter und das war gut so, denn man konnte hier nicht geradeaus gehen, ohne von mindestens fünf Kämpfenden aus Versehen durch eine Wand gefegt zu werden.

,,Was jetzt?", fragte Seth. Er wandte sich an mich, und somit auch der Rest.

,,Wieso soll ich das entscheiden?", hakte ich nach. Ich meine, ich war wirklich keine Person mit Führungsqualitäten.

,,Es war deine Idee. Sollen wir hier einfach rumsitzen und auf deine Eltern warten?", hakte Cass nach.

Meine Eltern. Von denen hatte ich keine Ahnung, wo sie waren. Verzweifelt blickte ich zu all den Kämpfenden, während ich mir wieder die Unterlippe kaute. Dann hatte ich meinen Entschluss gefasst.
,,Okay, also ich werde meine Eltern suchen. Und irgendwer sollte ein Handy auftreiben, um die Polizei zu rufen." Meine Stimme klang nicht wirklich überzeugt, doch wenigstens meldete sich Joel: ,,Ich mach das mit der Polizei."

,,Ich will kämpfen.", sagte Cassandra, bevor ich den Mund wieder aufmachen konnte. Sie sah so aus, als würde sie vor Aufregung gleich einen Salto machen.

,,Ja, ich auch!", schwärmte Seth.

,,Leute, das sind größtenteils Erwachsene, die euch einfach umrennen werden, ohne euch groß zu beachten.", gab Henry zu bedenken.

Seth und Cass verdrehten die Augen, sahen sich grinsend an und darauf mich. ,,Und?" Sie warteten auf mein Einverständnis. Unglaublich.

,,Äh, seht nicht mich an. Macht, was ihr wollt.", stammelte ich fast.
Die beiden grinsten breiter und holten ihre Messer raus. ,,Geht klar.", erwiderten sie einstimmig.
,,Warte, ich werdet doch niemanden abstechen?!", fuhr Joel dazwischen.

Irritiert starrten die beiden auf ihre Messer. ,,Nee...", machte Seth verlegen und steckte es wieder zurück. ,,Aber ich hab drei Jahre lang Karate gemacht, bevor ich mit zwölf aufgehört hab und glaub mir - diese Fäuste lechzen nach einer gebrochenen Nase."

,,Ja, die wirst du bestimmt haben.", murmelte ich.

,,Und ich hatte einen Selbstverteidigungskurs in der Schule. Mich kann niemand so leicht ausschalten.", trug auch Cassandra bei.

,,Dann viel Spaß.", seufzte Henry. Cass nahm meine Hand und drückte sie einmal fest. ,,Viel Glück, Ruby."

,,Danke."
Eine Sekunde später hatten unsere beiden Freunde sich umgedreht und liefen mitten ins Geschehen.

,,Aber geht allen Schusswaffen aus dem Weg.", schrie Henry ihnen noch hinter her.

Joel klopfte ihm auf die Schulter, als auch er sich langsam von uns entfernte. ,,Du wirst mal ein guter Daddy."

Dafür ist er nicht dominant genug, warf Alice verwirrt ein.

,,Alice... nicht diese Art von Daddy."

Joe nickte uns beiden zu, bevor er Cassandras und Seths Beispiel folte und sich in die Schlacht stürzte - oder schlich, besser gesagt, denn er wollte sich nicht prügeln, sondern lediglich ein Handy klauen.

,,Was machst du?", fragte ich Henry.

,,Ich gehe zurück zu den Verletzten. Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass sie lang genug durchhalten, oder zumindest keine Infektion bekommen oder so." Er lächelte.

,,Du bist der liebste Mensch, den ich kenne. Neben meiner Mutter.", stellte ich fest. Kurz war es still, dann traten wir beide einen Schritt vor und fielen uns in die Arme.

,,Bitte, bitte finde deine Eltern. Wenn du in ein Heim kommst, müssen wir dich befreien und abwechselnd bei uns im Keller leben lassen und Cass müsste für dich in der Schule mitschreiben und das wäre viel zu anstrengend für uns alle."

Ich kicherte ihm als Antwort in den Nacken. Als wir uns endlich voneinander lösten, schmunzelte er mich schief an, bevor er in die Richtung eilte, aus der wir gekommen waren.

Und ich drehte mich endlich um, zu dem tobenden Kampf, der drei meiner Freunde verschluckt zu haben schien.










Ahaha, mein Akku hat 69%.

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