42 | das Labyrinth

Wir traten hinaus aus der Abstellkammer in die zumindest etwas frischere Luft und atmeten endlich keinen Essigreiniger und Staub mehr ein. Meine Lunge bekreuzigte sich darauf erleichtert.

,,Hey, meint ihr nicht auch, dass wir ein bisschen zu lange am 'Klo' waren?", hakte Henry besorgt nach. ,,Ich meine, sie könnten etwas ahnen. Und wer weiß, was dann mit uns passiert..."

,,Hast du Angst, dass Ruby und ich gefoltert werden oder so?", wollte Cassandra wissen. Sie klang leicht belustigt.

,,Ja und deshalb würde ich das an deiner Stelle nicht so locker sehen.", gab er zurück.

Seth klopfte mir auf die Schulter. ,,Keine Sorge, Hen-Hen. Unser Rotkäppchen hier hat ihre Lippenjungfräulichkeit für Sangster geopftert, da kann er nicht mehr so hart mit ihr bleiben oder sie in einer dunklen Kammer foltern."

"Hart mit ihr bleiben...", kicherte Cassandra.

Ich presste die Lippen aufeinander und wurde rot. Nach drei Sekunden verlor ich jedoch die Beherrschung und konnte Folgendes nicht mehr zurückhalten: ,,Außer er hat einen Fetisch für dunkle Kammern und Fifty Shades of Grey!"

Cassandra und ich prusteten los.

,,Ihr seid einfach nur unreif!", bemerkte Henry augenverdrehend, während Seth heimlich kicherte.

,,Dafür, dass du Peter Pan bist, solltest du aber etwas weniger erwachsen sein.", tadelte Cassandra ihn schief lächelend.

,,Na, und? Du bist Dornröschen und nicht mal ansatzweise lieblich oder freundlich. Und singen kannst du auch nicht.", meinte Henry süffisant.

,,Ich finde das mit Mulan übrigens noch immer rassistisch!", gab Seth seinen Senf dazu. ,,Henry ist hier der Schwule, er sollte Mulan sein."

,,Hey, Peter Pan trägt ziemlich enge, grüne Strumpfhosen, das ist schwul genug.", verteidigte ich Henry.

,,Siehst du, Mulan?", grinste dieser.

,,Ich hasse euch.", murmelte Seth, obwohl er versuchte nicht zu lächeln.

Wir wollten Seth zwar noch weiter necken, doch Cassandra hielt erschrocken inne und da blickten die Jungs und ich ebenfalls auf. Es war Sangster.

Mein Herz machte für einen Moment so einen großen Sprung, dass es wahrscheinlich fast aus meiner Brust gehüpft wäre. War es Angst? Schreck? Nein, irgendwie passten diese Worte nicht. Das Gefühl war zwar gleich stark, aber positiver. Freude? Vielleicht. Ich wusste es nicht und traute mich auch nicht, es mir einzugestehen.

Ruckartig blieben wir stehen und ich ertappte mich bei einem unpassenden Gedanken: Wenn Cassandra und ich uns so hinstellen würden, dass unsere Rücken sich berühren, dabei die Arme verschränken und wenn die Jungs währenddessen epische Posen einnehmen würden, sähen wir aus wie Superhelden.

Ja, und welche Chance hätte Sangster gegen vier Superhelden?, fügte Alice begeistert hinzu.

Du wärst bestimmt die Kleine in der Gruppe, die sich immer hinter den anderen versteckt, während Cassandra ihre Füße mit männlichen Genitalien kollidieren lässt, schmunzelte die Grinsekatze.

,,Das stimmt nicht!", erwiderte ich trotzig.

,,Ich habe noch nicht mal angefangen zu reden und du widersprichst mir sofort. Ist das dein Ernst!", kam es aufgebracht und vor allem wütend von Sangster.

Seth hüstelte, um nicht lachen zu müssen, doch Cass und Henry warfen mir leicht irritierte Blicke zu.

Und Seth würde wahrscheinlich jedes Mal verprügelt werden und Henry würde schreiend vor jedem Kampf davonlaufen. Ihr solltet wirklich Superhelden werden!, fand der Hutmacher begeistert.
Echt jetzt? So schlecht wären wir bestimmt nicht. Wobei, wenn man bedachte, wie wir das letzte Mal reagiert waren, als wir eine Spinne (ungefähr einen Quadratzentimeter groß) im selben Raum entdeckt hatten... (Den Raum konnte man übrigens danach zwei Stunden lang nicht betreten)

,,Nein, so hab ich das... ich wollte gar nicht... ich hab dich nich gemeint...", stammelte ich unbeholfen.

,,Ach ja? Wen dann? Deine Fantasiefreunde?"

Du würdest staunen., kommentierte Grins.

,,Ich... hab eher mit mir selbst geredet.", erklärte ich. Und das war vermutlich nicht einmal eine Lüge.
Meine Freunde standen neben mir, schweigend und waren stark darauf bedacht, nicht zu lange auf etwas zu starren. Ihre Blicke wechselten pünktlich alle fünf Sekunden das Visier.

Gott sei Dank ging mein Entführer nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er: ,,Los, komm mit. Und ihr drei-" Er richtete sich an Seth, Cassandra und Henry. ,,Ihr geht zurück. Eure... Aufpasser warten auf euch."

Alle drei nickten kaum merklich und sahen mich dann besorgt an, bevor sie mich offensichtlich erleichtert mit Sangster alleine ließen. Diese Verräter!

Ausnahmsweise wurde ich nicht gepackt und mitgezerrt, sondern durfte gezwungenerweise "freiwillig" mitgehen. ,,Wo gehen wir hin?", fragte ich neugierig. Angst hatte ich keine mehr, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass Sangster vorhatte mich in einem dunklen Keller zu ermorden.

,,Wir gehen ins Bett.", antwortete er, als würde er mit einem Kleinkind reden.

Ich sah ihn mit offenem Mund an.

,,Nein, ich meine wir beide schlafen."

Ich wurde noch panischer.

,,Ich meine die weniger perverse Art von ins Bett gehen und schlafen.", versuchte er sich rauszureden. ,,Du kannst dich beruhigen."

,,Das kommt darauf an, was für dich 'weniger pervers' bedeutet.", murmelte ich.

Sangster sah mich ausdrucklos an.
Ich starrte regunglos zurück.
Und dann wandten wir uns grinsend ab.
Ich fing an zu kichern und hörte, dass er es auch tat. Blut schoss mir ins Gesicht, ich hörte gar nicht mehr auf zu grinsen. Gott sei Dank sah Sangster ebenfalls zu Boden.

Er führte mich durch einen großen Gang, der immer dunkler wurde. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich; wir schwiegen, es war dunkel und angespannt zwischen uns. Doch dann wurde es wieder heller und wir befanden uns plötzlich in einem größeren Raum.

Darin standen ein Fernseher, drei Waffenständer und ein riesiges Sofa, auf dem es sich mehrere Jungs gemütlich machten (zwei davon machten es sich gemeinsam mehr als gemütlich...).
Sangster ging ohne zu zögern durch den Raum, wo der Gang am Ende weiterging.
Von nun an gab es alle zehn Meter einen neuen Raum, der eine leichte Ähnlichkeit mit dem ersten hatte. Es gab Geräte, Boxsäcke, riesige Matratzen, Fernseher und et cetera.
Es kamen jedoch immer mehr Gabelungen und Räume und ich wurde immer verwirrter. Sobald ich ein paar Meter hinter Sangster war, holte ich sofort auf, da ich lächerlicherweise Angst hatte, mich zu verlaufen.

Alice und der Hutmacher hatten sich bereits verirrt. Sie waren zwei Räume hinter uns und riefen nach mir.
Ihre Stimmen machten mich wahnsinnig. Ich wurde immer verwirrter, in meinem Kopf wurde es irgendwie... wuselig.

,,Was ist das alles hier? Eine Art gigantische Männerhöhle?", fragte ich, weil ich nicht mehr länger diese Stille ertragen konnte. Denn sie war lauter für mich, wegen Alice und dem Hutmacher. Außerdem erschien Grins immer vor mir und das nahm mir auch 50 Prozent von meiner Sicht.

,,Wir haben vor langer Zeit angefangen, es Labyrinth zu nennen." Sangster schmunzelte.

Meine Konzentration verlagerte sich auf ihn, weshalb es besser wurde. Die Stimmen in meinem Kopf verblassten etwas und die Grinsekatze half meinen anderen beiden Fantasiefreunden, zu uns zu finden.

,,Labyrinth. Wieso das denn?", murmelte ich mit einer außerordentlichen Ladung an Sarkasmus.

Das Lächeln, das ich dafür von meinem Entführer erntete, erhitzte mein Herz so sehr, dass ich glaubte, bald einen Vulkan auszukotzen. Einen Vulkan aus Blut. Irgendwie hatten alte Dichter Verliebtheit geschmackvoller beschrieben.

Plötzlich fiel mir etwas ein. ,,Sangster?"

,,Marlese.", kam es von ihm zurück.

,,Wie geht es eigentlich den Gefangenen im dritten Untererdgeschoss?"

Sofort spannten sich seine Gesichtsmuskeln an. Ich bereute es, die Stimmung ruiniert zu haben, doch ich wollte es unbedingt wissen.
Er schwieg angespannt.

,,Sag es mir!", drängte ich.

,,Nein...", protestierte er.

,,Warum nicht?" Ich klang alarmiert.

,,Einfach, weil... nicht jetzt!", erwiderte er gereizt. Ich wurde etwas beleidigt und bemühte mich, ihn nicht zu zwicken. Mein Entführer bemerkte das zwar, ignorierte es aber. Stattdessen bemühte er sich, wieder sanfter zu klingen.
,,Irgendwann erkläre ich dir alles."

Irgendwann. Würde ich so lange überleben? Dieses Wort - Irgendwann - weckte in mir Hoffnung, die ich noch nicht einmal gebraucht hatte.
Allerdings bedeutete dieses Wort auch, dass ich zu dem Zeitpunkt "Irgendwann" immer noch hier wäre. Toll.

,,Sind wir bald da?", wollte ich wissen, hauptsächlich, um das Thema zu wechseln.

,,Genau genommen jetzt.", antwortete Sangster.

Der enge Gang, den wir gerade durchquert hatten, war nun zu Ende. Was darauf folgte? Noch ein Gang, natürlich. Aber mit lauter Türen. Und diese Türen führten zweifellos zu den Zimmern. Es waren viele Zimmer und in einem davon, würde ich auch übernachten.

Der Obergangster holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte eine der Türen auf, die weiter hinten waren.
,,Hereinspaziert!", nickte er in meine Richtung, damit ich als Erste eintrat. Vermutlich, um irgendwelche improvisierten Fluchtversuche zu blockieren.

Das Licht war noch aus und als Sangster plötzlich die Türe zuknallte, glaubte ich für ein paar Sekunden sogar an die Sache mit der finsteren Folterkammer.
Ich stieß einen erschrockenen Laut aus, der für meinen Geschmack etwas zu sehr nach Tusse klang, und ließ reflexartig die Arme hochschnellen.

,,Au!", ertönte es pikiert hinter mir. Und zwar dicht hinter mir.

Da wusste ich, dass mein Entführer mich nicht einfach allein in einen düsteren Raum gesperrt hatte.

,,Sorry.", murmelte ich zurück.

Es war wieder still. Und dunkel. Sangster atmete mir in den Nacken, als wollte er eine Mund-zu-Hals-Beatmung durchführen. Langsam wurde es unangenehm und je länger wir so da standen, desto schwitziger wurden meine Hände.

,,Willst du nicht mal das Licht anmachen?", fragte ich benommen.

Hey, Licht, du siehst gut, Babe!, hauchte Grins gegen den Lichtschalter.

Wenn du ein Baum wärst, wärst du ein schöner Baum., flirtete Alice ebenfalls.

Ich mag Bäume., stellte der Hutmacher fest. Sie sind so... baumig.

Sangster half als einziger wirklich, denn als es endlich klick machte, wusste ich, dass das nicht den Anmachversuchen meiner Fantasiefreunde zu verdanken war.

Wir schwiegen uns wieder für ein paar Sekunden an. Ich atmete kaum und als er plötzlich seine Hände auf meine Schultern legte, tat ich es gar nicht mehr.
Im nächsten Moment hatte er mich etwas zur Seite geschoben und ging an mir vorbei, während ich noch ein paar Minuten brauchte, um meinen Puls wieder halbwegs zu beruhigen.

Angrenzend zu diesem Raum gab es noch einen weiteren. Das Badezimmer. Und diesen Raum betrat Sangster, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich blieb genau da, wo ich war und wippte mit den Füßen auf und ab.
Währenddessen hörte ich einen laufenden Wasserhahn, Dinge, die auf den Boden fielen und mich, die Weihnachtslieder summte.

Als mein Entführer zehn Minuten später aus dem Bad kam, waren seine Haare und sein T-Shirt feucht.
,,Du stehst ja noch immer da.", erkannte er.
Und du musst die Reinkarnation von Einstein sein!, kommentierte ich in Gedanken. ,,Hm.", machte ich stattdessen laut.

Sangster seufzte (, verdrehte natürlich wieder die Augen) und drehte sich um zu dem Schrank neben dem Bett. Während er ihn öffnete, sagte er: ,,Zieh dich um. Du bekommst ein T-Shirt von mir, darin kannst du fürs Erste schlafen."

Ja, klar!, dachte ich (diesmal verdrehte ich die Augen).

Da ich darauf lange nichts sagte, drehte der Obergangster sich um und sah, wie ich ihn mit erhobener Augenbraue und verschränkten Armen musterte.
Auch er starrte mich an. Fragend.
Weil ich aber immer noch schwieg, warf er die Arme in die Luft fragte: ,,Was?!"

,,Nein."

,,Was nein?"

,,Einfach nein."

,,Geht es etwas präziser?"

,,Nein.", schüttelte ich den Kopf. ,,Nein, das wird kein klischeehafter Fanfiction-Moment indem der Typ, deine Wenigkeit, der dummen Tusse, das bin natürlich ich, sein Shirt gibt und ganz unerwartet sieht sie darin so richtig heiß aus, weil ihr halber Arsch zu sehen ist - inklusive sexy Unterwäsche, die sie zufällig anhat. Nein. Einfach nein. Ich lese sowas nicht, ich schreibe es nicht und vor allem mache ich das auch nicht. Nö!"

Sangster grinste breit. Vielleicht war er gedanklich noch bei "halber Arsch zu sehen" oder "sexy Unterwäsche". Oder ich hatte ihn einfach amüsiert, wie ich das mit meiner bedauerlichen Dämlichkeit so oft tat.

,,Schön...", meinte er (und sprach dabei hoffentlich nicht über "halber Arsch zu sehen" oder "sexy Unterwäsche"). Kurz sah er nachdenklich aus, dann nickte er. Da er mich dabei nicht aus den Augen ließ, wurde es plötzlich verdammt unangenehm für mich.

Automatisch flüchtete ich mich in meine Fantasie und sah dem Hutmacher als Ablenkung dabei zu, wie er von der Grinsekatze seinen Hut zurückzuholen versuchte. Allerdings stieß der Hutmacher dabei gegen das Bett und landete elegant mit dem Gesicht voran darauf. Grins kicherte und erntete dafür eine Ohrfeige von Alice.
Sein Gesichtsausdruck darauf sah so dämlich aus, dass ich die Lippen verkrampft aufeinander presste, um nicht zu lachen.

,,Warte kurz.", kam es von Sangster, kurz bevor er den Raum verließ.

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