35 | eins-zwei-Unterbrechung-drei
Wir schwiegen. Es war so leise, dass wir sogar Gunther Fuchs atmen hören konnten. Kurz befürchtete ich, dass er wach war und alles mitbekam.
Verlegen starrte ich auf den weißen Boden, Sangster ebenfalls. Ein paar Sekunden später betrachtete er mein Gesicht, ich spürte seinen Blick und schaute auf, bevor ich genauere darüber nachdenken konnte.
Sofort bereute ich es.
Peinlich berührt blickten wir beide wie auf Kommando zur Wand.
Nach einer weiteren Schweigeminute hielt ich es nicht mehr aus.
,,Ich bin zwar keine Expertin, aber sollten wir uns jetzt nicht küssen?"
,,Ja, schon... irgendwie."
Nicht schon wieder das Irgendwie!
Also ich hab es irgendwie vermisst, meinte der Hutmacher.
Erneute Stille. Langes Starren.
,,Also..."
,,...jetzt?"
,,Jetzt ist gut."
Ich knabberte auf meinen Lippen herum, bevor ich mich seinem Gesicht näherte. Er kam eben falls näher und ließ eine Hand zwischen meine Schulterblätter gleiten.
Und dann stoppten wir.
Und warteten.
Sahen uns an.
,,Machen wir das falsch?", fragte ich nach endlos langen zehn Sekunden.
,,Glaub schon. Normalerweise funktioniert das bei spontaner.", fand Sangster.
,,Hm..."
,,...ja."
,,...ja."
,,...haha..."
Wir schwiegen - schon wieder. Und wir starrten zu Boden - schon wieder. Bis wir uns wieder in die Augen sahen.
Ach, egal!, dachte ich und wollte ihn einfach küssen, doch offenbar hatte er den selben Gedanken und so schreckten wir beide erneut zurück.
,,Sollen wir bis drei zählen?", schlug er vor.
,,Nein, das ist zu unromantisch!", protestierte ich.
,,Richtig."
Die Tortur begann von Neuem; Stille, starren, Schweigen, umsehen.
Ich betrachtete meine Nägel, er atmete hörbar aus.
,,Puh..."
,,Heiß hier, oder?"
,,Ja, schon..."
,,...ja."
,,...ja."
Stille. Nicken. Lippen kauen. Haare eindrehen. Husten. Finger trippeln.
,,Okay, vielleicht sollten wir wirklich bis drei zählen!", seufzte ich. Ich hatte nicht erwartet, dass Sangster das auch wirklich sofort im nächsten Moment tat. Stop, nicht so schnell!, schrie ich innerlich.
,,Eins."
Warte, warte, ich muss erst wieder lernen, wie man atmet!
,,Zwei."
Du nicht Liebe Zeit, ich bin noch nicht bereit!
Plötzlich wurde die Türe aufgerissen. ,,Boss, Eindringlinge!", rief Murat vom Dönerladen. Neben ihm stand Siegmund Freud. Beide hatten gerade realisiert, was sie sahen und zwinkerten sich breit grinsend an.
,,Verdammt!", fluchte Sangster. Für ein paar Sekunden schloss er die Augen und vekrampfte seine Muskeln (...was ziemlich unangenehm war, wenn man auf ihm saß). Dann hob er mich von seinem Schoß, um aufstehen zu können.
Wie gerne würde ich meinen Kopf jetzt in den Boden stecken!, dachte ich verzweifelt. Ich fühlte mich gekorbt und entblößt, da Siegmund und Murat hineingeplatzt waren. Außerdem bereute ich es, ihn nicht einfach geküsst zu haben. Und zu allem Überfluss wachte Gunther Fuchs auch noch auf.
Gott sei Dank ließ Sangster keinem die Möglichkeit, über die Situation hier zu reden, sondern fragte sofort: ,,Wo sind sie?", als wäre nichts passiert.
,,Im Überwachungsraum. Wir haben sie dort eingesperrt. Es kann sein, dass es dich interessieren wird, was sie zu sagen haben." Siegmund grinste noch immer.
,,Wie viele?"
,,Vier Jugendliche."
Sangster nickte und machte ein paar Schritte vorwärts, bevor er wieder stehen blieb. Er zögerte. Ich fragte mich warum, doch diese Frage wurde bald beantwortet. Genau genommen, als er ein gehauchtes "Scheiß drauf!" ausstieß und sich zu mir umdrehte.
,,Drei.", zählte er zuende.
Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, zu realisieren, was er vorhatte, wäre ich vermutlich weggelaufen. Deshalb war es gut, dass er mir keine Zeit ließ, als er mich mit einer Hand in meinem Nacken zu sich zog und küsste.
Es war seltsam. Seltsamer als beim ersten Mal. Noch dazu, weil Siegmund, Murat und Gunther Fuchs im Hintergrund zusahen. Und, weil ich nicht allzu überrascht war und mich deshalb besser auf den Kuss konzentrieren konnte.
Sangster hatte seinen Rücken zu den Jungs gedreht, deshalb sah er nicht, wie Siegmund und Murat sich einen High Five gaben. Aber ich war mir sicher, dass er hören konnte, wie Gunther Fuchs "Endlich!" flüsterte und von Siegmund ein "Wurde echt mal Zeit!" kam.
Sie waren aber nicht die Einzigen, die eine Reaktion von sich gaben, während er seine Lippen auf meine presste.
Alice lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Boden, und kreischte monoton dagegen.
Grins hielt dem Hutmacher die Augen zu, und grinste breiter als sonst, sodass sich seine Mundwinkel auf der Stirn fast berührten.
Und ich? Ich blendete alles aus, spielte mit den Haaren auf seinem Hinterkopf und genoss das Gefühl, gleichzeitig benebelt und voller Adrenalin zu sein, denn meinen erste-, pardon, meinen zweiten Kuss wollte ich mir nicht versauen lassen!
Als er sich von mir löste, glaubte ich, dass der Boden unter meinen Füßen weggerissen wurde. Ich stolperte fast, kriegte es aber irgendwie hin, nicht zu fallen.
Ich sah wieder alles durch eine Art Nebel. Meine Haut fühlte sich so an, als würde er mich noch immer berühren. Und meine Zehen kribbelten.
Anscheinend ging es Sangster nicht so krass. Er sah mich etwas länger an, grinste leicht und drehte sich dann um.
Siegmund Freud und Murat lächelten ihren Boss wie zwei Honigpferdchen an, der das allerdings ignoriert und an ihnen vorbei durch die Tür ging. Ihr Lächeln galt nun drei Sekunden lang mir, dann folgten sie dem Obergangster und ich war alleine mit Gunther Fuchs.
Allerdings nicht lange, denn es kam wieder jemand hinein:
Mein ehemaliger Gynäkologe, Sir Blackhair, der ja eigentlich Dylan hieß. Mir war noch immer schwindlig, als er bei Gunther Fuchs stand und ihn besorgt betrachtete. So einfühlsam hatte ich ihn noch nie erlebt, doch vermutlich waren er und der Rothaarige gut befreundet, da sie fast immer zusammen waren, wenn ich sie sah.
,,Er wird doch wieder, oder?", fragte ich und versuchte währenddessen mit aller Macht, die Kontrolle über meinen Körper zurück zu erlangen. Sangster hatte so gefasst gewirkt, als er den Raum verließ; wieso konnte ich das nicht?
Sir Blackhair sah mich an. Für einen kurzen Moment fürchtete ich, dass mir ins Gesicht geschrieben stand, was vor ein paar Minuten passiert war.
,,Keine Ahnung. Sein Fuß ist gewaltig am Arsch. Die Kugel hat wahrscheinlich irgendwas Wichtiges erwischt, weil er die ganze Zeit blutet. Wir haben keinen professionellen Arzt und wegen... dem letzten Mal können wir auch in kein Krankenhaus mit ihm. Ehrlich gesagt ist es hoffnungslos.", antwortete Sir Blackhair.
,,Leute, ich bin wach.", kam es von Gunther Fuchs.
,,Felix, wie geht's dir! Ich soll dir ausrichten, dass es deinem Fuß immer besser geht!", flötete Sir Blackhair plötzlich drei Oktaven höher.
,,Hältst du mich für bescheuert?", stöhnte der Rothaarige.
,,Ja, aber das ist wieder ein anderes Thema. Wie geht es dir eigentlich?"
,,Wie soll es mir schon gehen? Ich will sterben, bitte tötet mich... diese Schmerzen... warum habe ich immer so viel Pech?", jammerte Gunther Fuchs.
,,Hey, Alex hält es keine Woche aus, sich nicht mindestens fünfmal zu verletzen! Gerade gibt er in den Labyrinthen an, dass er eine halbe Gehirnerschütterung hat und angeblich fast im Koma gelandet wäre.", verdrehte Sir Blackhair die Augen.
,,Typisch.", kicherte Felix. ,,Ach, um mich abzulenken, darf ich dir etwas vom neuesten Klatsch erzählen?"
Sir Blackhair hob neugierig eine Augenbraue und beugte sich vor. ,,Meine Aufmerksamkeit gehört ganz dir!"
Auch ich wollte mehr wissen und stellte mich ebenfalls zum Krankenbett.
Doch in dem Moment, in dem Felix kurz zu mir sah und spitzbübisch grinste, wusste ich, was er erzählen wollte.
,,Nein!", zischte ich panisch.
,,Unser Boss hat die gute Marlese geküsst!"
Drei Sekunden lang viel Dylan alles aus dem Gesicht. Und mir ebenfalls. Er hat es einfach so ausgeplaudert!, dachte ich schockiert. Gut, eigentlich würde sich die frohe Botschaft wegen Murat und Siegmund schon bis zum Abend in ganz Gangsterland verbreiten, doch ich war trotzdem empört.
,,Scheiße, ich schulde dir jetzt wirklich zehn Dollar!", kam es von Sir Blackhair.
,,Zwanzig, wenn es leidenschaftlich war!", hielt Gunther Fuchs dagegen.
,,Ihr habt gewettet?!", brachte ich irritiert zustande.
,,Ja. Zehn, wenn er dich überhaupt küsst. Und nochmal zehn drauf, wenn es aus Liebe ist. Ansonsten nur fünf drauf.", erklärte Sir Blackhair.
,,Also, war es eher leidenschaftlich, dann bekomme ich nämlich zwanzig, oder mehr ich-finde-dich-geil-babe-mäßig, dann bekomme ich nur fünfzehn?", fragte Felix.
,,Das... das sage ich euch doch nicht!", stammelte ich.
,,Ach, komm schon! Sei nicht so schüchertn, schließlich wurdest du gerade zum Fuckgirl des Todes!", versuchte Sir Blackhair mich zu überreden.
,,Fuckgirl des Todes?!", wiederholte ich.
,,Naja, du siehst schon ein bisschen zerfickt vom Kuss aus...!", gab der Rothaarige seinen Senf dazu.
,,Aber ich nehm es dir nicht übel; mein erstes Kuss war genauso krass!", tätschelte Dylan meine Schulter.
,,Genau, mit der Zeit lernt man, wie es richtig gemacht wird.", erklärte mir Gunther Fuchs.
Ruby, schreib dir das auf. Das sind gute Tipps, die sie hier geben!, riet mir Alice.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich hier als kleines Mädchen hinstellten. Ich meine, geistig war ich das auf jeden Fall, doch das durften sie nicht wissen! Deshalb sagte ich zu meiner Verteidigung (und zu der meines Stolzes): ,,Das war aber nicht mein erster Kuss mit ihm!"
Okay, ich bereute es sofort. Meine Stimme klang trotziger als gewollt und das "mit ihm" hätte ich besser weggelassen.
,,UUUUUUUH...." Sir Blackhair stieß einen Pfiff aus. ,,Mega-gigantisches-apokalypsis Fuckgirl des Todes!"
,,Erzähl uns alles!", verlangte der rothaarige Felix.
,,Nein!", protestierte ich.
,,Aber wir sind deine Gynäkologen, weißt du nicht mehr? Wir müssen sowas wissen!", bestimmte Felix.
,,Das hat doch nichts damit zu tun!"
,,Du weißt nicht, wie schnell man bei einem harmlosen Kuss im Bett landet!", klärte mich der oberste Playboy alias Sir Blackhair auf.
,,Ich denke nicht, dass ich...", ich brach ab. Meine Wangen waren bestimmt so rot, dass ich mich auf eine Straße stellen und Ampel spielen konnte.
,,Und als deine Gynäkologen müssen wir doch darauf achten, dass da unten alles-" Ich unterbrach Dylan, bevor er mich noch mehr verstörte.
,,WENN DU NICHT AUFHÖRST, ÜBER MEINE INTIMEN BEREICHE UND ANGELEGENHEITEN ZU REDEN, SCHREIE ICH NACH HILFE!"
Passend zur Situation kam diese Hilfe auch sofort.
Die Türe ging erneut auf und Schwarzeneggi Senior räusperte sich. Offenbar hatte er gehört, wie ich mich so laut aufgeregt hatte, denn er sagte: ,,Ich weiß zwar nicht, was hier mit... euren intimen Bereichen passiert, aber Marlese muss das leider unterbrechen und mitkommen."
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass ich Marlese war. Verdammt, ich muss mich dringend daran gewöhnen!
Dankbar rannte ich fast auf die Türe zu, ohne den beiden Jungen im Krankenzimmer eines Blickes zu würdigen. Schwarzeneggi Senior schloss die Tür hinter mir und geleitete mich durch mehrere Gänge. ,,Was ist los, wo gehen wir hin?", fragte ich. Ehrlich gesagt hatte ich ein wenig Angst, denn Schwarzeneggi hatte so ernst geklungen.
,,Das wirst du jetzt erfahren.", antwortete dieser und schob mich durch einen Türrahmen in einen Raum, der voller Menschen war.
Sie hatten einen Kreis mit mehreren Reihen um vier Personen gebildet, die der Türe den Rücken zugekehrt hatten. Sangster stand vor ihnen, hinter ihm ein paar seiner "Handlanger", der Rest war etwas weiter abseits.
Schwarzeneggi Senior führte mich um den Kreis herum zu Sangster und bedeutete mir dann mit einem Kopfnicken, in der zweiten Reihe hinter ihm stehen zu bleiben.
Jetzt konnte ich die vier Eindringlinge sehen, sie allerdings nicht mich. Was vielleicht auch gut war.
Denn diese vier Eindringlinge waren niemand anders als Cassandra, Joel, Seth und Henry.
Meine Freunde.
(Kann sich hier eigentlich noch jemand an Ruby's Freunde erinnern? xD)
Fragt ihr euch nicht auch manchmal, wie die ersten Menschen auf die Idee gekommen sind, dass man sich mit den Lippen küssen kann?
Ich meine, Sex ist da einfacher herauszufinden, weil es einfach in unserer Natur liegt, uns fortzupflanzen, aber das Küssen... eigentlich ist es unnötig.
Hat da mal jemand versucht, seinem Partner das Essen mit der Zunge aus seinem Mund zu klauen und war das dann der erste Kuss auf dieser Welt? Oder dachten die sich: Hm, lass uns einfach jedes Körperteil, das wir haben, aneinander quetschen und sehen, was sich am geilsten anfühlt!
Ohne scheiß, das interessiert mich gerade brennend!
...soooouuu, da war er, der lang ersehnte zweite Kuss. *Stille*
*Insekten zirpen*
Ich widme dieses Kapitel einer Freundin, Dank der es den Ausdruck "Fuckgirl des Todes" gibt. Ich markiere sie nicht, weil sie mich sowieso stalkt und weiß, dass sie damit unter anderem gemeint ist....
...Hi, Evuli.
Du bist hoffentlich nicht zu verstört von mir, weil du in diesem Kapitel mein wahres Ich erkannt hast (ein Mädchen mit Aufmerksamkeitsdefiziten und dem Wunsch nach einem Suggar Daddy) (...wobei, du kennst mein wahres Ich schon länger, oder? Ó_ô)
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