14 | das "verdammte" Problem

Das Szenario im Aufzug würde ich nie vergessen. Als ich in dem Badezimmer der Suite stand und mich im Spiegel betrachtete, sah ich in Gedanken immer noch, wie Sangster anfing loszuprusten und die erschrockene Mutter ihren Sohn von mir wegzerrte, während sich der Vater entschuldigte und ich peinlich berührt auf den Boden starrte und versuchte mir unauffällig meine Brüste zu halten, um zu testen, ob ich schon blaue Flecken hatte.

Ich ließ die Badewanne ein und schlüpfte aus meiner mittlerweile stinkenden Kleidung. Es fühlte sich so an, als würde ich einen blutenden, vernarbten, hässlichen Körper verlassen. Das Hotel stellte kleine Fläschchen mit Shampoo und einen noch eingepackten Rasierer zur Verfügung, wofür ich den Verantwortlichen küssen könnte! Allerdings nur, wenn er gut aussah. Oder wenigstens keine Warzen im Gesicht hatte...

Als die Wanne voll war, stellte ich das Wasser ab. Ich seufzte, als die Wärme sich um meone Haut schloss. Vielleicht sollte ich mich hier ertränken? Aber ich wusste, dass ich mich das nie trauen würde, denn ich hatte genug Hoffnung und vor allem: ich war ein Angsthase.

Geräusche drangen von der Türe zu mir ins Badezimmer, als ich endlich fertig war. Ich hörte mehrere Stimmen miteinander aufgeregt flüstern, während ich mich abtrocknete und es klang wahnsinnig ernst. Alarmiert verharrte ich der Bewegung. Eine der Stimmen rief etwas, das ich nicht verstehen konnte, dann ertönte auf einmal ein Schuss.
Mein Herz setzte kurz aus.
Jemand weinte herzzerreißend.
Ich wollte den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken, doch es funktionierte nicht. Scheiße!
Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich in diesem Raum verstecken konnte. Vielleicht hinter dem Duschvorhang? Draußen schien es jetzt noch brutaler zu verlaufen - Schüsse und Schläge, wie ich deutlich hören konnte.

Und plötzlich hörte alles auf. Stattdessen setzte Orchestermusik ein. Eine Opernsängerin beschallte diese Suite so ohrenbetäubend laut, dass ich mich fühlte, als hätte ich in eine Zitrone gebissen.
Im nächsten Moment verschwand auch die Opernsängerin. Es wurde leiser, Stimmen flüsterten wieder, aber nicht so angeregt und hörbar, wie die Ersten.

Jetzt verstand ich. Sangster musste den Fernseher angemacht haben. Oh! Ein Lob an die Soundeffekte des Geräts und ein weiteres an die Akkustik in diesem Zimmer.

Etwas benommen von dem Schock trat ich in einem Handtuch aus dem Badezimmer. Draußen war es noch hell, die Balkontüre stand offen und draußen zwitscherten die Vögel. Vielleicht könnte ich raus gehen und etwas singen, sodass sich ein Vögelchen auf meine Finger setzt und dann könnte ich einen Hilferuf auf einem Notizzettel an sein kleines Bein binden, um somit das FBI über meine Lage zu informieren und mich somit retten? Schließlich hatte Disney mich so erzogen!

Leider wurde ich von der Tatsache, dass ich nichts anzuziehen hatte (bis auf ein mittlerweile stinkendes weißes Oberteil und einen noch muffeligeren Rock inklusive noch viel strenger riechende Unterwäsche) aus meiner netten Disneywelt in die Wirklichkeit geholt. Und wie meine Fantasiefreunde mir schon oft gepredigt hatten, war die Wirklichkeit nicht so wahnsinnig toll...

Etwas verloren stand ich da, während Sangster wieder auf seinem Handy herumtippte. Falls er eine Freundin hatte, musste sie deswegen wahrscheinlich schon ausgerastet sein. Ich stellte mir belustigt vor, wie sie ihn anbrüllte, als wäre sie meine Großmutter:

,,Leg endlich dieses Scheißteil weg, du bist hier mit mir!" Ein Satz, der von Oma und einer Freundin zugleich kommen konnte.

,,Oh mein Gott, ich schreibe nur schnell was..." Ein Satz, der von mir und so ziemlich jeden Teenager mit Mobiltelefon mindestens einmal täglich zu hören war.

,,Mach das ein anderes Mal!"

,,Es ist wichtig!"

,,Ach, also wichtiger als ich?!"

,,Nein, jetzt beruhig dich mal, ich bin gleich fertig!"

,,Nein, es reicht!"

,,Was reicht?" Sangster blickte verwirrt auf. Ich musste mich dringend daran gewöhnen, leise zu denken, wie ich verzweifelt feststellte.

Du vermisst deine Oma anscheinend nicht!, schmunzelte die Grinsekatze, die neben Sangster auf der Kommode hockte.

,,Doch, das tue ich!", erwiderte ich pikiert.

,,Was tust du?", kam es von Sangster.

Es ist unhöflich so über seine Verwandten zu denken, schnurrte der Kater.

,,Was hab ich denn jetzt wieder gemacht?!", gab ich verständnislos von mir.

,,Keine Ahnung, du hast damit anfangen...", murmelte Sangster verwirrt und runzelte dabei die Stirn.

Ich?!, fauchte die Grinsekatze.

,,Nein, ich!", erklärte ich mittlerweile genervt.

,,Aber das hab ich doch gesagt!", regte Sangster sich auf. Die Verwirrung war noch immer nicht aus seinem Gesichtsausdruck verschwunden.

Da schlich sich wieder etwas Klarheit in meine Gedanken. ,,Ja, ich weiß.", murmelte ich.
Mädchen, du weißt im Gegensatz zu mir überhaupt nichts!

,,Klugscheißer!", zischte ich. Anscheinend platzte Sangster dadurch endgültig der Kragen.
,,Was ist dein verdammtes Problem?!", presste er hervor. Man merkte, wie er mit den Nerven am Ende war. Irgendwie schaffte ich das bei jedem, außer bei meinem Vater, der wohl dagegen imun war.

Jetzt wurde auch ich wütend. Hatte er wirklich keinen Plan, was mein "verdammtes" Problem war? Zwar wusste ich, was er meinte, doch der Ärger über diese Frage machte sich in meinem Bauch breit.
,,Das kann nicht dein Ernst sein! Was wohl ist mein Problem, was könnte mich an all dem stören? Dass ich außer stinkender Kleidung nichts zum Anziehen und vor allem Hunger habe, weil ich in ein Hotel verschleppt wurde, weil ich davor in einem Flugzeug von meiner Heimatsstadt weggebracht wurde, weil ich für eine Nacht in einem doch nicht so leeren Kino eingesperrt wurde, weil man mich entführt hat und ich im Laufe dieser Handlungen zwei Mal Beruhigungsmittel oder so bekommen habe und drei Mal gefesselt wurde und ich nicht weiß, ob ich meine Familie und Freunde jemals wieder sehen werde - dass das auch nur ansatzweise ein Problem für mich wäre ist dir nicht in den Sinn gekommen?" Ein wenig außer Atem und mit langsam entstehenden Tränen in den Augen, weil mir die schreckliche Wirklichkeit erst so richtig klar geworden war, beendete ich meinen Monolog.

Sangster runzelte die Stirn und starrte mich für ein paar Sekunden einfach nur an. Ich bekam Panik. Was, wenn ich zu viel gewagt hatte? Schließlich besaß er Waffen und war skrupellos genug, sie auch zu verwenden. Oh, Gott, mir wurde noch im selben Moment bewusst, dass er schon mindestens einmal jemanden getötet haben musste. Oh, Gott, ich befand mich alleine mit einem Mörder in einem Raum. Oh, Gott, ein Mörder hatte mich entführt. Oh, Gott, ich hatte einen Mörder belogen.
Du schaltest unglaublich schnell, Darling!, kam es vom Hutmacher, der auf dem Bett saß. Allerdings nahm ich ihn nur am Rande wahr. Mein Herz raste. Scheiße, verdammte scheiße!

,,Du kannst ein wenig schlafen, ungefähr drei Stunden erledigen wir ein paar Dinge.", meinte der junge Mann vor mir schlicht und ohne Regung. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, als er sich abwandte, um mit jemandem zu telefonieren. Ich stand starr da und versuchte meine Atmung ein wenig zu beruhigen, während er ins Bad ging, das Handy immer noch am Ohr.

Als er auf einmal meinen Rock durch die Luft schleuderte wurde ich wieder munter. Mir fiel ein, dass ich meine Sachen auf dem Boden im Bad liegen gelassen hatte. Sangster kam gerade am Fernseher vorbei (immer noch telefonierend), in dem sich gerade ein Liebespaar dramatisch trennte und warf im Vorbeigehen mein weißes Oberteil zu dem Rock auf das Bett.

,,Nein, du sollst nur nachsehen!", erklärte er der Person am anderen Ende der Leitung.

Sein Hemd war aufgeknöpft, sodass ich mich schämte mindestens vier Sekunden lang gestarrt zu haben. Aus dem Schrank kramte er ein Handtuch, dann ging er zurück ins Badezimmer.

,,Ich bitte dich, alles, was du machen sollst, ist das zu überprüfen. Das kann nicht so schwer sein!" Seine Stimme wurde lauter, am Ende jedoch wieder leiser. Anfangs dachte ich, der andere Typ - oder Frau, je nachdem - hatte ihn beschwichtigt, doch als er mit Kopf aus dem Bad lugte und eine Hand von sich gestreckt hatte, wusste ich, was der Grund war: meine Unterwäsche, die er mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete, baumelte von seinen Fingern. Meine Wangen wurden heißer, als sie ohnehin schon waren.

Bevor ich etwas sagen konnte (wie zum Beispiel "Leg sie eingach weg, du Perversling" oder "Lass das!"...) (...was ich aber sowieso nicht getan hätte...) (...weil ich Angst hatte, seine Toleranzgrenze schon überschritten zu haben und deshalb einfach in den Hintergrund seiner Aufmerksamkeit verschwinden wollte), warf er BH und Höschen zu meinen anderen Sachen und verschwand in Badezimmer.

,,Was soll das heißen,....?", hörte ich noch, dann schlug er die Tür zu.

Nicht wirklich begeistert, dass ich wieder das alte Zeug tragen musste, setzte ich mich auf das Bett und wartete, bis ich das Geräusch des Wasserstrahls hörte, um sicher zu gehen, dass Sangster nicht reinplatzte, während ich mich umzog. Bevor ich jedoch damit anfing, fragte ich mich eine Kleinigkeit: was zur Hölle hält mich eigentlich noch hier?! Sangster war im Badezimmer, ich soweit alleine und es würde nie eine bessere Gelegenheit als diese geben!

Der Hutmacher verschluckte an seinem mit Zimt gewürzten Früchtetee. Was, wir gehen schon?
Ich nickte. ,,Wir versuchen es!", flüsterte ich extra leise von der Aufregung angesteckt.

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